Text: Johanna Witzeling, Johannes Feichtinger
Die Eröffnung des neuen Wiener Rathauses am 12. September 1883 bildete mit der Schlusssteinlegung im großen Festsaal sowohl den Höhepunkt als auch den Abschluss der Feierlichkeiten zum 200-jährigen Jubiläum des Entsatzes von Wien 1683. Eine Kapsel samt Pergamenturkunde, unterzeichnet vom Wiener Bürgermeister Eduard Uhl und Kaiser Franz Joseph, wurde zur Erinnerung an dieses Ereignis in einer freigelassenen Nische zwischen Wand und Schlussstein eingemauert. Darüber ist in goldenen Lettern das Datum ‚12. September 1883‘ eingemeisselt.
Ein symbolträchtiger Ort
Ein symbolträchtiger Ort
Das neue Wiener Rathaus wurde auf jenem Schauplatz errichtet, der 1683 am heftigsten umkämpft war. Im 19. Jahrhundert besetzten die Wiener Bürger somit jenen Ort symbolisch, auf dem ihre Vorfahren „einst wetteifernd an Tapferkeit“ (Zeissberg 1888: 97) die Stadt verteidigt hatten. Am 21. Oktober 1882 wurde in einer Art Vorfeier die Turmgleiche vollzogen und der eiserne Rathausmann auf der Spitze des Turmes angebracht. Elf Monate später fand die feierliche Schlusssteinlegung statt. In diesem Rahmen hielt Kaiser Franz Joseph seine einzige Rede im Zuge der Jubiläumsfeierlichkeiten 1883. Kaiser und Bürgermeister versicherten sich zu diesem Anlass gegenseitigen Wohlwollens und übermäßiger Anerkennung.
Die feierliche Schlusssteinlegung
Die feierliche Schlusssteinlegung
Die Feierlichkeiten zur Schlusssteinlegung des neuen Wiener Rathauses, das in den Jahren 1872–1882 von Friedrich Schmidt erbaut wurde, begannen am 12. September 1883 um 11 Uhr. Auf dem Rathausplatz hatte sich eine „nach Zehntausenden zählende Menschenmenge“ (Neue Freie Presse 12.09.1883: 2) versammelt. Zahlreiche Gebäude der Ringstraße waren mit Fahnen der Stadt, des Reiches und des Landes geschmückt.
Im großen Festsaal des neuen Rathauses, wo der Schlussstein gelegt werden sollte, versammelte sich die honorige Gesellschaft (vgl. Neue Freie Presse 12.09.1883: 2):
Auf den Galerien nahmen folgende Personen Platz:
- der Bischof von Cattaro (Kotor)
- die Bürgermeister der Städte Rom, Görz, Salzburg, Brünn, Troppau, St. Pölten u.a.
- „Bürgermeister Rath von Pest und dessen Stellvertreter“
- der Präsident des Reichsgerichtes Geheimer Rat Dr. Joseph Unger
- der ehemalige Bürgermeister von Wien Baron Johann Kasper von Seiller
- der Präsident des Niederösterreichischen Gewerbevereins Dr. Anton Banhans
- Alfred III. Fürst zu Windisch-Grätz
- der Abgeordnete Nikolaus Dumba
- die „Sections-Chefs Kubin und Fidler“
- eine große Anzahl Generale
- die Nachkommen Liebenbergs
- der gesamte Gemeinderat
- die Vertreter der Genossenschaften
- und eine „auserlesene Schaar der hervorragendsten Bürger Wiens“
Im Vestibül saßen folgende Personen:
- Kronprinz Erzherzog Rudolf
- die Erzherzöge Karl Ludwig (mit seinen Söhnen Franz I. und Otto), Rainer, Leopold, Ludwig Victor, Johann, Friedrich, Eugen, Wilhelm, Ernst, Heinrich
- die Minister Gustav Kálnoky (Außenminister), Arthur Bylandt-Rheidt, Béla Baron Orczy von Orczi, Eduard Graf Taaffe, Julius Graf von Falkenhayn, Julian von Dunajewski (Finanzminister), Felix Maria Freiherr Pino von Friedenthal, Siegmund Freiherr Conrad von Eybesfeld
- die Hofwürdenträger Graf Larisch-Moennich, Fürst Thurn und Taxis, Koloman Graf Hunyady, Graf Abensperg-Traun, Graf Wolfgang Kinsky, Ludwig Freiherr Possinger von Choborski, Statthalter von Niederösterreich, der Generalintendant Leopold Freiherr von Hofmann, Fürst-Erzbischof Ganglbauer und mehrere Generäle
- der Bürgermeister von Wien Eduard Uhl und seine beiden Stellvertreter Johann Nepomuk Prix und Johann Heinrich Steudel
- Fürst Camillo Starhemberg mit seinen beiden Söhnen
Um 12 Uhr fuhr Kaiser Franz Joseph vor dem Rathaus vor und wurde von Bürgermeister Eduard Uhl begrüßt. Das Publikum am Rathausplatz jubelte dem Kaiser zu und die Volkshymne wurde angestimmt. Der Kaiser wurde zu seiner Linken von Kronprinz Rudolf, rechts vom spanischen König in den Festsaal begleitet. Ihnen folgte der Wiener Bürgermeister Uhl mit seinen beiden Stellvertretern.
Der 69-jährige liberale Bürgermeister Eduard Uhl bedankte sich beim Kaiser in seiner Ansprache für die bevorstehende Schlusssteinlegung des neuen Rathauses und damit für die Würdigung der Bürgerschaft. Er lobte den Bau und die Gestalt des Rathauses ausführlich und kündigte an, dass die Wiener Bürger wie die „Grundfesten dieses Baues, […] immerdar verharren [werden] in der angestammten Treue zu dem a.h. Kaiserhause und zu dem gesamten Vaterlande“ (Neue Freie Presse 12.09.1883: 2).
Die Ansprache des Kaisers
Die Ansprache des Kaisers
Auch Kaiser Franz Joseph würdigte das neue Rathaus als „glänzende Stätte der Stadtverwaltung“, und nahm „mit innigem Wohlgefallen“ die von Uhl geäußerte „Versicherung der angestammten Treue und Liebe“ zum Kaiserhaus und zum „Vaterland“ entgegen. Darauf antwortete er mit folgenden Worten: „So tief gewurzelt wie diese Liebe, so tief ist auch Meine Liebe zu den Bürgern, zu dieser Stadt, zu Meiner und der Meinigen Vaterstadt“, woraufhin stürmische Hochrufe erklangen.
Der Kaiser hielt sich mit politischen Anspielungen auf aktuelle politische Zerwürfnisse zurück, auch stand in seiner Rede weniger die Monarchie als vielmehr die Stadt Wien im Vordergrund. Mit „freudigem Herzen“ wollte er die Schlusssteinlegung vollziehen, „als ein Zeichen und eine Gewähr fortdauernden Wohlwollens“ für seine „treue, geliebte Bürgerschaft“ und für seine „treue, geliebte Stadt Wien“.
In Bezug auf den Entsatz Wiens 1683 gestand Kaiser Franz Joseph der Bürgerschaft eine durchaus wichtige Rolle zu:
Die Erinnerung an die schwere Bedrängnis, welche vor zwei Jahrhunderten hereingebrochen, und an den glänzenden Sieg, der die Trübsal beendet, erhöht die Feier des heutigen Tages. Möge der Friede, den damals die Beharrlichkeit und der Heldenmuth der Wiener Bürger im Vereine mit thatkräftigen und treuen Bundesgenossen mit Gottes Hilfe erfochten, auch fortan über dieser Stätte walten, dass im Gebiete dieser Stadt nur der friedliche Wettkampf der Bürger in Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe seinen Schauplatz finde. (Neue Freie Presse 12.09.1883: 2)
Laut Abdruck in der ‚Wiener Zeitung‘ vom 12. September 1883 (Wiener Zeitung/Abendpost: 2) wies der Kaiser in seiner Rede – anders als in der ‚Neuen Freien Presse‘ wiedergegeben – die Bürger darauf hin, dass die „freie und glückliche Entwicklung des Gemeinwesens dem Wohle und der Macht des ganzen Vaterlandes“ zukomme und „ebenso alle Segnungen des Gesamtstaates den lautesten Widerhall in der großen städtischen Verwaltung finden, für welche hier eine so glänzende Stätte errichtet ist und in deren Gebiete jeder Bürger Oesterreichs eine heimatliche Aufnahme zu finden gewohnt ist“.
Nach seiner Rede unterzeichnete der Kaiser neben den Erzherzögen die Pergamenturkunde, die in einer Glaskapsel mit Metallhülle in der freigelassenen Nische zwischen Wand und Schlussstein eingemauert werden sollte. Der Text enthält einen Rückblick über die Entstehung des neuen Rathauses sowie eine Aufzählung und Ehrung der wichtigsten Beteiligten an der Umsetzung des Baues. Weiters wurde auch in der Urkunde an die Belagerung Wiens 1683 erinnert:
In dankbarer Erinnerung an die heute vor 200 Jahren erfolgte Befreiung Wiens von der überlegenen Macht der Türken durch den Heldenmuth seiner Vertheidiger beschlossen wir, die Weihe dieses für die Machtsstellung Oesterreichs und für das Wiederaufblühen unserer Stadt so großen Gedenktages durch die Feier der Schlußsteinlegung zu erhöhen. (Neue Freie Presse 12.09.1883: 2)
Politische Kontexte und mediale Rezeption
Politische Kontexte und mediale Rezeption
Im Morgenblatt der ‚Neuen Freien Presse‘ vom 13. September 1883 ließ der Verfasser des Artikels „Wien, 12. September“ die Feierlichkeiten zur Schlusssteinlegung des neuen Rathauses Revue passieren. Insbesondere die Worte des Kaisers hätten „eine Wärme der Anerkennung für die Bürgerschaft“ und seine Liebe für die Stadt Wien sowie sein Vertrauen in die Treue der Bürgerschaft gegenüber der Dynastie zum Ausdruck gebracht. Die Bürgerschaft könne demnach
mit Gleichmuth die Verdächtigungen ihrer Vaterlandsliebe ertragen, und wer noch schwankte, den muß dieses kaiserliche Wort in der Ueberzeugung befestigen, dass Servilismus noch lange nicht Patriotismus und dass weder eine Partei noch selbst eine Regierung berechtigt ist, dasjenige, was ihr angenehm oder unerfreulich ist, mit Vortheil und Schaden des Vaterlandes und des Thrones zu verwechseln. (Neue Freie Presse 13.09.1883: 1)
Diese Anspielungen verweisen auf die Kluft, die sich zwischen den liberalen Visionen der Wiener Bürger und der politischen Wirklichkeit auf Staatsebene vergrößert hatte: Auf dieser war die Hochzeit des Liberalismus verstrichen; aber auch in Wien verlor er zunehmend an Wählerstimmen. Uhls Bürgermeisterjahre (1882–1889) waren vom Vordringen der neuen Massenparteien geprägt. Auf Staatsebene repräsentierte das Kabinett Eduard Taaffe (1879–1893) Adel, Kirche, Bauern und Bürger; es stützte sich auf eine Parlamentsmehrheit, zusammengesetzt aus den verschiedenen Nationalitäten, die aber als klerikal und reaktionär eingestuft wurde. Taaffes „Eiserner Ring“ suchte Ausgleich mit den Slawen in der Monarchie.
Die Historiker Ernst Hanisch und Peter Urbanitsch sprechen von Taaffes „Politik der Versöhnung“, die sich nicht nur auf die verschiedenen Nationalitäten, sondern auch auf die Arbeiterschaft der Habsburgermonarchie bezog. Mit dieser Politik Taaffes sympathisierte offenbar auch der Kaiser Franz Joseph, der seinen Jugendfreund in das Amt des Ministerpräsidenten berufen hatte. Unter dem Vorzeichen der „staatssozialistischen“ Politik Taaffes wurden aber drei zentrale liberale Grundsätze untergraben: der Zentralismus, der Antiklerikalismus und der Wirtschaftsliberalismus. In Anbetracht der weitgehenden Konzessionen, die das Ministerium Taaffe seinen deutschfeindlichen Unterstützern machte, fühlten sich die liberal orientierten deutschsprachigen Wiener Bürger wohl nicht zu unrecht in ihrer zentralen Stellung in der Monarchie bedroht; und zwar durch Ansprüche der Polen und Tschechen auf Dezentralisierung; vonseiten der wieder erstarkten römisch-katholischen Kirche auf Klerikalisierung; und seitens der Staatsverwaltung, die dem Wirtschaftssektor nach dem Scheitern der liberalen Ordnung (Börsenkrach von 1873) straffe Zügel anlegte.
Vor diesem Hintergrund mahnte der Kaiser das Wiener Bürgertum in seiner Rede zu „friedlichem Wettkampf […] in Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe“:
Möge der Friede, den damals die Beharrlichkeit und der Heldenmuth der Wiener Bürger im Vereine mit thatkräftigen und treuen Bundesgenossen mit Gottes Hilfe erfochten, auch fortan über dieser Stätte walten, dass im Gebiete dieser Stadt nur der friedliche Wettkampf der Bürger in Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe seinen Schauplatz finde. (Neue Freie Presse 12.09.1883: 2)
Mehr noch saß den Wiener Bürgern wohl die Angst im Nacken, dass die deutschliberal dominierte Reichshaupt- und Residenzstadt zugunsten anderer (slawischer) Zentren der Monarchie an Bedeutung verlieren würde. So hoffte der Verfasser des Artikels im ‚Morgenblatt‘, dass der Kaiser nach seiner Liebesbekundung an die Wiener Bürger es nicht zulassen könne, „dass diese Stadt durch eine fortgesetzte Politik der Decentralisation geschädigt, von ihrer im Laufe der Jahrhunderte erklommenen Höhe als Capitale eines großen Reiches herabgestürzt werde“.
Zum einen erinnerte der Redakteur, dass das „Emporblühen der Stadt Wien, dem der Kaiser neuerdings [Hervorhebung durch die Verfasser] seine väterliche Fürsorge zu widmen zugesagt hat“, an ihre „historische Stellung“ geknüpft sei, die eins wäre,
mit jenem einheitlichen Oesterreich, das Maria Theresia und Joseph geschaffen; es wird aber sicher schwer geschädigt und siecht dahin, wenn an die Stelle dieses Oesterreich Königreiche und Länder mit besonderen Centren treten sollen, welche zu viel staatliche Kraft absorbieren, als daß neben ihnen die Reichshauptstadt auf ihrer Höhe sich behaupten könnte, und doch viel zu wenig, um ihre Blüthe zu erreichen oder sie gar zu ersetzen. (Neue Freie Presse 13.09.1883: 1)
Zwar nehme man nicht an, dass die Interessen der Stadt großen Einfluss auf die des Reiches nehmen würden, man setze aber voraus, dass die „Weisheit der Krone“ die „Harmonie der Interessen zwischen Hauptstadt und Gesamtstaat“ nicht würde ignorieren können.
Zum anderen habe sich bereits gezeigt, dass
die Befriedigung nationaler Aspirationen, welche den Inhalt der Versöhnungspolitik ausmacht, nicht zu erreichen ist, ohne eine Umgestaltung des staatseinheitlichen Organismus, daß der nationale Separatismus dem Einheitsstaate ebenso gefährlich ist, wie der staatsrechtliche Particularismus, der ihn ebenfalls bedrohte, dass beide aus derselben Quelle entspringen und mit dem Aufblühen eines großen staatlichen Zentrums gleich unverträglich sind. (Neue Freie Presse 13.09.1883: 1)
In Anbetracht der Versöhnungspolitik mit den Slawen, nationalpolitischer Zugeständnisse und der Absage an den zentralistischen ‚Einheitsstaat‘ sahen die Deutschen zusehends ihre Vormachtstellung schwinden. Der Verfasser des Artikels im ‚Morgenblatt‘ vom 13. September 1883 malte zwar das Schreckensbild, „daß dieser Widerstreit zwischen den Bedingungen des Einheitsstaates und den national-separatistischen Bestrebungen unversöhnlich“ sei, jedoch knüpfte er an die Worte des Kaisers die Hoffnung, dass „an dem Tage, an dem es unvermeidlich sein wird, das Eine oder das Andere zu opfern, jene Politik wieder gewählt werden wird, unter der allein das Emporblühen und Gedeihen Wiens möglich“ sei (ebd.: 1).
Von welcher Politik er sprach, liegt wohl auf der Hand: Die Worte des Kaisers gaben Hoffnung. So ermahnte er die Wiener Bürger, dass sie „keinen Augenblick den deutschen Charakter Wiens verleugnen mochten, ungeachtet ihrer in allen Wahlen bekundeten Opposition gegen das augenblickliche Regierungssystem“. Darüber hinaus ermutigte er sie, „mit der Tapferkeit und Beharrlichkeit ihrer Vorfahren auszuharren, in welchem ebenso sehr das Heil des Reiches wie jenes der Haupt- und Residenzstadt auf dem Spiele steht“ (ebd.).
Laut Neuer Freier Presse gab es also wieder eine Belagerung zu überstehen; dieses Mal eine politische vonseiten der Konservativen:
Möge nun neben der Treue für Thron und Vaterland auch die Treue für die eigene Ueberzeugung in den neuen Rathsaal der Stadt Wien einziehen, dann endet wol auch die politische Belagerung, die wir auszuhalten haben, so glücklich wie jene andere vor zweihundert Jahren. (Neue Freie Presse 13.09.1883: 1)
Bereits am Tag zuvor, im Morgenblatt der Neuen Freien Presse am 12. September 1883, hatte (vermutlich) derselbe Verfasser geschrieben, er hoffe, dass die Jubiläumsfeier „zum Wendepunkt“ in Österreich werde, „damit in die Gemüther der Deutschen wieder Ruhe und Befriedigung einkehren“ könne. Dabei solle man nicht den „festen Untergrund des Staates für luftige Gebilde“ opfern. Die Bürger könnten mit großem „Jubel in das neue Rathhaus einziehen, wenn nicht die Last der Gegenwart sie drückte“ (ebd.: 1). Er hoffe jedoch, dass ein Tag kommen werde, „wo der Besitz nicht mehr die politische Scheidewand der Bürger, die Sprache nicht mehr zur Quelle der Zwietracht werden“ würde. „Das deutsche Volk in Oesterreich“ würde sich nicht „zurückdrängen lassen“, „die Wiener Bürger haben ein deutsches Kunstwerk geschaffen, zum Ruhme der Nation, zur Ehre für Oesterreich“ (ebd.).
Wo einst die Bürger Wiens sich des Feindes erwehrten, erhebt sich in ruhiger Größe ein edler Palast. […] Das Bürgerthum, daß sich in dem neuen Rathhause selbst verherrlichte, kennt die schweren Probleme, die es zu lösen hat. Was nützen die Versuche, seine Reihen zu durchbrechen, den Geist der Zwietracht zu entflammen, den Neid und Haß zu entfesseln, um die geschlossene Phalanx des modernen Staates aufzulösen? Das Evangelium der Ausbeutung wurde von hohen Protectoren der Ausbeutung verkündet, eine tiefe Kluft sollte den Besitz von der Arbeit trennen, das süße Gift der Verführung wurde ahnungslosen Gemüthern eingeflößt. Es ist eine böse Zeit, wo niedrige Teufel und vornehme Engel sich verbinden, um die Macht des Liberalismus zu brechen, wo nicht der äußere, aber der innere Feind die Stadt bedrängt. Doch das Bürgertum wäre unwürdig, wenn es nicht den Muth fände, seine Stellung zu vertheidigen, wenn es nicht die geistige Spannkraft hätte, dem Arbeiter mit Offenheit zu begegnen, ihn ohne verächtliche Feigheit, aber durch Gerechtigkeit und Versöhnlichkeit zu gewinnen. […]
Wien ist die Zeltstange der Monarchie, die Bürger dieser Stadt sind die besten Vorkämpfer Oesterreichs. Es mögen Perioden kommen, wo dieses historische Verhältnis angefochten wird, aber es ist mächtiger als die kleinen Menschen, die es bekämpfen, und das Rathhaus wird noch gefeiert werden als das herrlichste Gebäude der großen Residenz, wenn man nur mit Lächeln der Verirrungen erwähnen wird, unter welchen die Gegenwart schwer leidet.
Ein Bürgerfest zum Abschluss
Am Tag der Schlusssteinlegung des Rathauses fand abends ein Bankett statt, das durch die Anwesenheit der Deputationen verschiedener österreichischer und ausländischer Städte den Charakter eines Bürgerfestes trug. (vgl. Zeissberg 1888: 99) Mit diesen Feierlichkeiten, zu deren Anlass auch Festschriften erschienen und zwei Medaillen geprägt wurden, war weiters eine historische Ausstellung in den Räumlichkeiten des Wiener Rathauses verbunden. In ihr wurden zahllose Relikte gezeigt, die auf die Belagerung, Verteidigung und den Entsatz von Wien im Jahr 1683 verwiesen.
Literatur
Literatur
Bienkowski, Wieslaw (1983): Wien und Krakau 1883. Die Feierlichkeiten zum 200-jährigen Jubiläum. In: Studia Austro-Polonica 3. Warschau/Krakau, 401–439.
Czeike Felix (1981): Geschichte der Stadt Wien, Wien/München/Zürich/New York.
Hanisch, Ernst, Peter Urbanitsch (2006): Die Prägung der politischen Öffentlichkeit durch die politischen Strömungen. In: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hg. von Helmut Rumpler, Peter Urbanitsch. Band VIII, 1: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, Wien, 15–111.
Neue Freie Presse/Abendblatt (12.09.1883): Die Schlußsteinlegung im neuen Rathhause, 2, 21.09.2020.
Neue Freie Presse/Morgenblatt (13.09.1883): Wien, 12. September, 1, 21.09.2020.
Wiener Zeitung/Abendpost (12.09.1883): Säcularfeier der Stadt Wien, 1–2, 21.09.2020.
Zeissberg, Heinrich von (1888): Historische Uebersicht. In: Wien 1848–1888. Denkschrift zum 2. December 1888, hg. vom Gemeinderathe der Stadt
Wien. Band 1. Wien, 1–106.