13.09.2023

Sprachverständnis unter Ablenkung

Sprechen und Sprache verstehen passiert im Alltag oft „nebenbei“. Zum Beispiel suchen wir ein Dokument am Computer, das wir für eine laufende Diskussion benötigen. In früheren Studien konnte gezeigt werden, dass sich Personen unter Ablenkung nicht allein auf die Akustik des Sprachsignals verlassen, sondern vermehrt auf ihr Sprachwissen, wie Wörter in der Sprache „aussehen“, zurückgreifen. Das ist sinnvoll, denn es ist äußerst unwahrscheinlich, dass jemand im Alltag ein nicht existierendes Wort sagt.

Ein Beispiel aus der hier besprochenen Studie von einem Durchgang der phonetischen Kategorisierungsaufgabe mit der Fragestellung „Ist der erste Laut im Wort ein „s" oder „sch“?“ Die Abbildung zeigt das Beispiel des Originalexperiments, das auf Hebräisch durchgeführt wurde. @ Yafit Gabay

Wie ist nun aber die Sprachwahrnehmung bei Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Störung mit Hyperaktivität kurz ADHD (Engl. Attention Deficit Hyperactivity Disorder)? Eva Reinisch, Wissenschaftlerin am Institut für Schallforschung und Gruppenleiterin des Fachbereichs Phonetik hat zusammen mit Kolleginnen von der Universität Haifa in Israel eine Studie zur Sprachwahrnehmung bei Personen mit ADHD durchgeführt und deren Resultate mit denen einer neurotypischen Kontrollgruppe verglichen. Die Studie wurde unlängst in der Fachzeitschrift Journal of Speech Language and Hearing Research publiziert.

Bei Personen mit ADHD wird davon ausgegangen, dass sie einem speziellen Fall von „Hören unter interner Ablenkung“ unterliegen. In der Studie wurde daher getestet, ob sich Individuen mit ADHD relativ zu einer neurotypischen Kontrollgruppe in Sprachwahrnehmungsexperimenten ohne Ablenkung so verhalten wie frühere Studien dies für neurotypische Hörerinnen und Hörer mit Ablenkung gefunden haben.

In zwei Experimenten wurden diesen zwei Gruppen von Probandinnen und Probanden (neurotypisch vs. mit ADHD) akustisch manipulierte Zielwörter vorgespielt. In einem der Experimente mussten die Laute eines künstlich erstellten Kontinuums von „s“ zu „sch“ kategorisiert werden. Dabei wurden die Wörter so gewählt, dass entweder nur „s“ ein existierendes Wort bildet, oder „sch“. Deutsche Beispiele wären hier Sack vs. Schalter. Da die Studie aber in Israel lief, wurden die Experimente auf Hebräisch durchgeführt. Wie erwartet haben beide Gruppen ihr Sprachwissen genutzt um akustisch undeutliche Laute als diejenigen zu kategorisieren, die ein existierendes Wort bilden. Dieser Effekt war jedoch bei der Gruppe mit ADHD stärker als bei der Kontrollgruppe. Sie verhielt sich so wie neurotypische Personen, wenn sie neben der Lautkategorisierung noch eine zweite Aufgabe erfüllen müssen.

Zusammengefasst konnte gezeigt werden, dass sich Personen mit ADHD in Sprachwahrnehmungstests so verhalten wie es frühere Studien für neurotypische Personen unter Ablenkung gefunden haben. Dies weist darauf hin, dass Individuen mit ADH möglicherweise tatsächlich etwas wie permanenter interner Ablenkung ausgesetzt sind.

Derawi, Hadeer; Reinisch, Eva; Gabay, Yafit. (in press). Internal Cognitive Load Differentially Influences Acoustic and Lexical Context Effects in Speech Perception: Evidence from a population with ADHD in: Journal of Speech, Language, and Hearing Research
doi.org/10.1044/2023_JSLHR-23-00188