13.08.2021 | Sommergespräche

Was wir aus der Seuchen-Geschichte für die Gegenwart lernen können

Mund-Nasen-Schutz, Quarantäne oder Verschwörungstheorien - historisch betrachtet ist all das nichts Neues. Die ÖAW-Historiker/innen Daniela Angetter und Johannes Preiser-Kapeller unternehmen im Sommergespräch eine Reise zu den Pandemien der Vergangenheit und erzählen vom Umgang mit Seuchen anno dazumal.

Ein Sommergespräch über Pandemien in der Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart mit den ÖAW-Historiker/innen Daniela Angetter und Johannes Preiser-Kapeller.  © ÖAW/Klaus Pichler
Ein Sommergespräch über Pandemien in der Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart mit den ÖAW-Historiker/innen Daniela Angetter und Johannes Preiser-Kapeller. © ÖAW/Klaus Pichler

Abriegelung und Quarantäne sind bei der Seuchenbekämpfung das Mittel der Wahl. Wann tauchten diese vorbeugenden Maßnahmen zum  ersten Mal auf?

Johannes Preiser-Kapeller: Erste Hinweise findet man schon im Alten Orient. In Keilschrift-Texten aus dem 18. Jahrhundert vor Christus, etwa aus der mesopotamischen Stadt Mari, wird erwähnt, dass es besser sei, Kranke vom Hofe zu isolieren – vor allem, um die Herrschenden zu schützen.

Die Idee, dass man sich Mund und Nase abdeckt, um sich vor irgendwelchen Aerosolen zu schützen, ist wohl so alt wie der textile Stoff selbst.

Daniela Angetter: Aus dem 14. Jahrhundert kennt man sogenannte Lazarette vor Städten, so wurden europaweit viele Pestspitäler bezeichnet. Handelsreisende etwa aus Italien mussten dort vierzehn Tage warten, um sicher zu gehen, dass sie keine Krankheiten einschleppen würden. Ebenso lang mussten Schiffe in Ragusa, also dem heutigen Dubrovnik, oder in Marseille ein Stück vom Hafen entfernt ausharren, bis Mannschaft und Waren an Land gehen durften.

Von den Schnabelmasken zu Pestzeiten bis hin zu FFP2: Auch Sie haben eine Maske mitgenommen – ein Symbol für die Epidemien der Vergangenheit?

Angetter: Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes ist nichts Neues. Die Schnabelmaske des Doktors zu Pestzeiten wurde allerdings erst im 17. Jahrhundert verwendet. Davor hatte man sich zum Schutz in Essig getauchte Schwämme unter die Nase gehalten oder mit Zitronensaft getränkte Tücher vor den Mund gebunden.

Dass Fremde an allem schuld seien, das zieht sich bis heute durch die Geschichte.

Preiser-Kapeller: Die Idee, dass man sich Mund und Nase abdeckt, um sich vor irgendwelchen Aerosolen zu schützen, ist wohl so alt wie der textile Stoff selbst. Hippokrates von Kos prägte im 5. Jahrhundert vor Christus die Vorstellung, dass Krankheitserreger durch die Luft über „Miasmen“, also Verunreinigung, verbreitet werden würden.

Seuchen nähren auch Verschwörungsnarrative. Welche alternativen Deutungen kursierten in der Antike?

Preiser-Kapeller: Im Buch Levitikus im Alten Testament wird Aussatz als eine Strafe Gottes und eine Unreinheit der Person beschrieben. Auch das berühmte Ritual des Sündenbocks ist im Alten Testament und auch sonst im Alten Orient zu finden: Symbolisch wird die Unreinheit auf ein Tier geladen und dann ins feindliche Ausland getrieben. Dass Fremde an allem schuld seien, das zieht sich bis heute durch die Geschichte: Als im 14. Jahrhundert vor Christus im Hethiterreich in Kleinasien eine Seuche ausbrach, wurden ägyptische Kriegsgefangene als Ursache namhaft gemacht. Bei der Antoninischen Pest, die im zweiten Jahrhundert nach Christus im Römischen Reich wütete, verdächtigte man den Hauptgegner, die Perser, dass sie der römischen Bevölkerung diese Seuche angehext hätten. Und zur Zeit der größten Seuche der Spätantike, der Justinianischen Pest im 6. Jahrhundert, wandte man die Sündenbockstrategie gegen Randgruppen im Inneren an: Hier wurden Heiden, Juden und Homosexuelle für den Ausbruch verantwortlich gemacht.

Die erste Impfung ist mehr als 220 Jahre alt. Gab es damals auch Impfgegner/innen?

Angetter: Besonders skeptisch war beispielsweise der Philosoph Immanuel Kant. Über den damals eingesetzten Pockenimpfstoff sagte er, dass dieser dem Menschen die tierische Brutalität einimpfen würde. Im Zuge der ersten Impfkampagnen im 19. Jahrhundert kursierten dann Verschwörungstheorien, dass diese im Interesse der Juden stünden, die daran verdienen würden. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es sogar einen Sturm auf das Wiener Rathaus. Dazu hatten Impfgegner aufgerufen. Es kam zu einer Massenschlägerei zwischen Befürwortern und Gegnern, die polizeilich aufgelöst werden musste.

Besonders skeptisch war beispielsweise der Philosoph Immanuel Kant. Über den damals eingesetzten Pockenimpfstoff sagte er, dass dieser dem Menschen die tierische Brutalität einimpfen würde.

Wir sind nicht die ersten, die mit einer Pandemie konfrontiert sind. Inwiefern können wir aus der Vergangenheit Rückschlüsse für die Gegenwart ziehen?

Preiser-Kapeller: Was mich überrascht: Bis ins Zeitalter der Mikrobiologie konnte man sich oft  nicht erklären, woher die Krankheit kam. Jetzt, wo jeder wissen könnte, wie das Virus aussieht, stellen manche trotzdem die Existenz des Erregers infrage. Sie hängen alternativen Erklärungen nach, die wir über Jahrtausende hinweg finden. Das ist ernüchternd und wirft ein Licht darauf, wie Wissenschaft in der breiten Bevölkerung ankommt (oder eben nicht) – und darauf, wie dünn die Schicht des vermeintlichen Konsenses in unserer Gesellschaft ist. Das sieht man auch im Vergleich mit früheren Gesellschaften: Pandemien sind Belastungsproben, aber auch Reaktionsbeschleuniger für Bruchlinien, die ohnehin schon bestehen.

Pandemien sind Belastungsproben, aber auch Reaktionsbeschleuniger für Bruchlinien, die in einer Gesellschaft ohnehin schon bestehen.

Angetter: Diese Bruchlinien findet man auch bei der Cholera-Epidemie vor 170 Jahren in Wien. Dazu gibt es wörtliche Zitate, wonach in der pandemiebedingten Isolation die Kinder am liebsten von zu Hause ausreißen würden und die Frauen Probleme mit den Männern zuhause hätten und umgekehrt.

 

AUF EINEN BLICK

Johannes Preiser-Kapeller studierte Byzantinistik und Neogräzistik sowie Alte Geschichte in Wien. Er lehrt an der Universität Wien und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mittelalterforschung der ÖAW, wo er den Forschungsbereich „Byzanz im Kontext“ leitet.

Daniela Angetter ist Historikerin und Literaturwissenschaftlerin. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der ÖAW tätig. Zudem ist sie Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin der Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften der ÖAW.

Zum Weiterlesen:

Weitere Interviews mit Wissenschaftler/innen der ÖAW zur Frage, wie sich Herausforderungen der Gegenwart mithilfe der Forschung bewältigen lassen, sind im aktuellen Jahresbericht der Akademie zu finden.

ÖAW-Jahresbericht 2020