07.05.2020 | Zweiter Weltkrieg

„Der Nordbahnhof war der direkte Link zwischen Wien und Auschwitz“

Auf dem Gelände des ehemaligen Aspangbahnhofs in Wien erinnert heute ein Mahnmal an jene Massendeportationen von über 45.000 Jüdinnen und Juden, die hier ihren Ausgang nahmen. Was fast in Vergessenheit geraten ist: Ab 1943 verlagerten sich die Deportationen zum Wiener Nordbahnhof. Ein Deportationsort, an dessen Bedeutung Wissenschafter/innen der ÖAW mit einem neuen Projekt erinnern wollen.

Historische Ansichtskarte des Nordbahnhofes um 1900 © Wikimedia

Mit dem Aspangbahnhof im 3. Wiener Gemeindebezirk als Deportationsort setzte sich Michaela Raggam-Blesch erstmals im Vorfeld der Errichtung jenes Mahnmals intensiv auseinander, das seit 2017 an die Massendeportationen erinnert, die von diesem Regionalbahnhof zwischen 1941 und 1942 durchgeführt wurden. „Das Nordbahnhofprojekt ist jetzt gewissermaßen eine Weiterführung, weil wir bei der Beschäftigung mit dem Aspangbahnhof festgestellt haben, dass der Nordbahnhof als Deportationsort kaum präsent ist, obwohl auf dem Gelände städtebaulich gerade viel passiert“, erklärt die Historikerin vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Dabei hatte auch der Nordbahnhof im 2. Bezirk eine zentrale Rolle inne, handelte es sich dabei doch um den einzigen Deportationsort in Wien, von dem aus Züge direkt ins Vernichtungslager Auschwitz geführt worden sind. Vom Aspangbahnhof ist hingegen nur ein direkter Transport nach Auschwitz dokumentiert. „Während der Großteil der österreichischen Jüdinnen und Juden über die ‚Zwischenstation’ Theresienstadt nach Auschwitz gekommen ist, ist der Nordbahnhof der direkte Link zwischen Wien und Auschwitz. Das wissen wir dank der Erhebungen von Johnny Moser, dem österreichischen Pionier der Holocaustforschung“, betont Raggam-Blesch.

Bei Scheidung von „Mischehen“ drohte Deportation

Für die damalige Bedeutung und historische Einordnung des Nordbahnhofes als Deportationsort ist es wichtig zu wissen, wer die Opfer waren, die von hier aus nach Auschwitz oder Theresienstadt deportiert wurden. „Jene Personen, die 1943 noch in Wien lebten und nach NS-Gesetzen als jüdisch galten, waren entweder Angehörige einer sogenannten ‚Mischehenfamilie’, besaßen eine ausländische Staatsbürgerschaft oder hatten eine Funktion beim ‚Ältestenrat’, der Nachfolgeorganisation der Israelitischen Kultusgemeinde“, erklärt Raggam-Blesch. „Starb dann zum Beispiel der nicht-jüdische Partner oder wurde eine Ehe geschieden, kam das einem mit der Deportation einhergehenden Todesurteil gleich.“

Die daraus resultierenden Einzeldeportationen sowie kleinere Gruppentransporte wurden über den Nordbahnhof abgewickelt. „Das hat man dort natürlich nicht über das reguläre Bahnhofsgebäude durchgeführt“, so Raggam-Blesch, vielmehr wurden die Menschen an der Postrampe „einwagoniert“, wie es damals hieß. Wie durchorganisiert die Transporte abliefen, zeigt auch ein eigens für Gefangenentransporte erstelltes Kursbuch, das von der Reichsbahn Berlin herausgegeben wurde.

Zentraler Deportationsort der Wiener Gestapo

Hinzu kam die Bedeutung des Nordbahnhofes als zentraler Deportationsort der Wiener Gestapo. Durch deren Tagesberichte sind die „Vergehen“ von Personen, die vom Nordbahnhof deportiert wurden, auch heute noch gut dokumentiert. Eine wichtige Rolle spielt für Raggam-Blesch und ihre Projektkolleg/innen an der ÖAW, Dieter Hecht und Heidemarie Uhl, in dieser Hinsicht die zunehmende Kriminalisierung des jüdischen Alltags. So waren der jüdischen Bevölkerung ab 1942 der Kauf und Konsum von Eiern, Fleisch oder Weizenmehl untersagt, woraufhin viele versuchten, am Schwarzmarkt oder bei Bauern der Umgebung an Nahrungsmittel zu gelangen. „Wenn man dabei erwischt wurde, war das oft ein Todesurteil, das geht aus den Tagesberichten der Gestapo hervor.“

Erschwert wird die Forschung für die ÖAW-Historiker/innen durch die Tatsache, dass nur wenige Deportationslisten für den Nordbahnhof erhalten sind und zudem stichprobenartige Überprüfungen ergeben haben, dass bei den Transporten immer wieder sogenannte KZ-Rückkehrer/innen dabei waren, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt deportiert worden waren und denen die Rückkehr nach Wien gelungen war. Die Anzahl der österreichischen Opfer des Deportationsortes Nordbahnhof  - derzeitigen Schätzungen zufolge 2.141 Menschen -  müsste daher eigentlich neu erhoben werden. „Das können wir als relativ kleines Projektteam natürlich nicht leisten. Dafür können wir aber Einzelschicksale beleuchten und die vorhandenen Zahlen neu kontextualisieren sowie auf neue Forschungsfragen in der Holocaustforschung hinweisen“, umreißt Raggam-Blesch die Ziele ihrer Forschung.

 

AUF EINEN BLICK

Im Unterschied zu Deutschland, wo die jüdische Bevölkerung aus mehreren Städten deportiert wurde, war Wien mit dem Aspangbahnhof (3. Bezirk) und dem Nordbahnhof (2. Bezirk) der zentrale Ort für die Deportationen österreichischer Jüdinnen und Juden. Das Projekt „Deportationen vom Wiener Nordbahnhof, 1943-1945“ will diesen Deportationsort auf Basis des vorhandenen Quellenmaterials umfassend dokumentieren und analysieren.

Mehr zum Projekt