Der Anteil der Wissenschaftlerinnen unter den Mitgliedern der Gelehrtengesellschaft der ÖAW wächst beständig. Das war nicht immer so. Obwohl Frauen bereits seit vielen Jahrzehnten entscheidende Funktionen an der Akademie ausübten und - etwa als Forscherinnen an den Akademie-Instituten oder als Stifterinnen im 19. Jahrhundert - wesentliche Impulse für die Entwicklung der ÖAW setzten, dauerte es lange, bis das erste weibliche Mitglied in die Gelehrtengesellschaft gewählt wurde.
Um die Leistungen dieser Pionerinnen zumindest nachträglich zu würdigen, stellt die ÖAW hier ausgewählte weibliche Wissenschaftlerinnen der ÖAW vor.
LISE MEITNER (1878–1968)
LISE MEITNER (1878–1968)
LISE MEITNER - ZUR WAHL DES ERSTEN WEIBLICHEN MITGLIEDS DER ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN VOR 70 JAHREN
„Es ist mir eine besondere Freude, daß gerade mit der Wahl Ihrer Person, sehr geehrte Frau Professor, seit dem Bestand der Akademie, die erste Frau in die Reihe der Mitglieder aufgenommen wurde“. Mit diesen Worten beglückwünschte der Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Heinrich Ficker, in einem Schreiben vom 9. Juni 1948 die weltberühmte Physikerin Lise Meitner zu ihrer Wahl zum korrespondierenden Mitglied der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse im Ausland.
ERSTE PHYSIKALISCH-THEORETISCHE ERKLÄRUNG DER KERNSPALTUNG
Mitglieder der ÖAW begründeten ihren Wahlvorschlag vor allem mit Meitners Grundlagenforschungen auf dem Gebiet der Kernspaltung. Lise Meitner war es zur Jahreswende 1938/39 im Exil in Schweden gelungen, das rätselhafte Ergebnis eines Experiments ihrer ehemaligen Berliner Kollegen Otto Hahn und Fritz Straßmann physikalisch zu erklären. Bei Bestrahlung von Uran mit Neutronen zeigten sich bei der radiochemischen Analyse Spuren des Elements Barium, was darauf hindeutete, dass das Uranatom in leichtere Bruchstücke zerplatzt ist, ein Resultat, das die beiden Chemiker nicht erklären konnten. Erst Lise Meitner gelang es, gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch, die Reaktion als Kernspaltung zu interpretieren und die dabei freigesetzte große Energiemenge zu berechnen. Den Nobelpreis „für die Entdeckung der Spaltung schwerer Atomkerne“ erhielt Otto Hahn 1946 (für das Jahr 1944) allerdings alleine. Dass Lise Meitners Beteiligung an diesem epochalen wissenschaftlichen Durchbruch entscheidend war, die Anerkennung allerdings allein auf Hahn entfiel, gilt als Paradebeispiel für mangelnde Würdigung und Sichtbarkeit von Frauen in der Wissenschaft. Durch ihr Mitwirken an der Entdeckung der Kernspaltung trug Lise Meitner allerdings auch dazu bei, das Fundament zur Entwicklung der Atombombe zu legen, deren Abwurf über Hiroshima und Nagasaki 1945 ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden ließ. Weltweit bestanden neben dem Schrecken angesichts der bis dahin ungeahnten Zerstörungskraft aber auch Hoffnungen, die Potenziale der Kernspaltung als Energiequelle friedlich zu nutzen. Zum Ausdruck kommt diese Ambivalenz auch im Wahlvorschlag Lise Meitners zum korrespondierenden ÖAW-Mitglied im Ausland: „Die augenblicklich die Welt beherrschende Frage der Nutzbarmachung der neuen Energiequelle, insbesondere aus den künstlich erzeugten hochatomaren Stoffen mit ihren nicht bloss in den Atombomben, sondern wesentlich für die Entwicklung des künftigen Wirtschaftslebens der Menschheit umwälzenden Folgen geht in vieler Hinsicht zuerst auf sie zurück.“
KARRIERE IN DER „MÄNNERDOMÄNE PHYSIK“
Die Erfahrung, als Frau in der Männerdomäne Physik zu reüssieren, hatte Lise Meitner in Berlin gemacht, wohin sie nach ihrer Promotion an der Universität Wien gegangen war und im wissenschaftlichen Umfeld von Max Planck ihre Forschungsarbeiten begonnen hatte. Max Planck war es auch, der sie 1912 als „ersten weiblichen Universitätsassistenten“ anstellte, 1918 übernahm sie die Leitung der radiophysikalischen Abteilung am Kaiser Wilhelm Institut für Chemie. 1922 erhielt sie die venia legendi, 1926 wurde sie als erste Frau an der Universität Berlin zum „Professor“ für experimentelle Kernphysik ernannt. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland 1933 verlor sie aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums die Lehrbefugnis, blieb aber bis 1938 in Berlin, wo sie als Jüdin mit österreichischer Staatsangehörigkeit vorerst weiterarbeiten konnte. Nach dem „Anschluss“ Österreichs ging Meitner ins Exil nach Schweden. Trotz ihres frühen Fortgangs aus Wien wurde sie von der Akademie der Wissenschaften als Österreicherin wahrgenommen. Ihr Auftreten in den USA im Jänner 1946, als sie vom Women’s National Press Club mit dem Titel „Woman of the Year“ auszeichnet wurde, hatte laut Wahlvorschlag „dem österreichischen Namen vollste Ehre gemacht und zur wissenschaftlichen Geltung Österreichs“ hervorragend beigetragen.
ALS „ERSTE FRAU IN DIE REIHE DER MITGLIEDER AUFGENOMMEN“
In der Akademie der Wissenschaften in Wien war Lise Meitner schon früh in ihrer wissenschaftlichen Karriere präsent, publizierte sie doch bereits 1906 Ergebnisse ihrer physikalischen Arbeiten in den Sitzungsberichten. Eine frühe, hohe Anerkennung wurde ihr durch die Verleihung des Ignaz Lieben-Preises durch die Akademie im Jahr 1925 zuteil. Auch hier war sie die erste und bis zur Verleihung des Preises an Marietta Blau und Hertha Wambacher 1937 einzige Frau, der diese Würdigung zuerteilt wurde. Vor ihrer Mitgliedschaft in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1948 wählten sie bereits 1926 die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, die Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1932, die Akademie der Wissenschaften in Göteborg 1942, die Schwedische Akademie der Wissenschaften 1945 und die Akademien in Kopenhagen und Oslo 1946 zum Mitglied. 1955 wurde sie auswärtiges Mitglied der Royal Society in London. An der Österreichischen Akademie der Wissenschaften blieb Lise Meitner zunächst das einzige weibliche Mitglied. Es folgte 1954 die Wahl der Physikerin Berta Karlik und 1964 der Theaterhistorikerin Margret Dietrich zu korrespondierenden Mitgliedern im Inland. Beide wurden als erste Frauen zu wirklichen Mitgliedern ihrer Klassen 1973 bzw. 1981 gewählt.
AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE
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- Jost Lemmerich, Lise Meitner – Max von Laue. Briefwechsel 1938-1948 (Berlin 1998).
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- Ruth L. Sime, Lise Meitner. Ein Leben für die Physik (Frankfurt a.M./Leipzig 2001).
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Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Personalakt Lise Meitner.
(Doris A. Corradini, Parlamentsarchiv Wien und Katja Geiger-Seirafi, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, ÖAW)
BERTA KARLIK (1904–1990)
DIE PHYSIKERIN BERTA KARLIK (1904–1990) - ZUM ERSTEN WEIBLICHEN WIRKLICHEN MITGLIED DER ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
Im Jahr 1948 war die Physikerin Lise Meitner zum ersten weiblichen Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt worden, dies allerdings als korrespondierendes Mitglied im Ausland (kMA). Es dauerte weitere 25 Jahre, ehe mit Berta Karlik ebenfalls eine Physikerin im Jahr 1973 zum ersten weiblichen wirklichen Mitglied (wM) der Akademie ernannt wurde.
Auch Berta Karlik war als Forscherin eine der Pionierinnen im männlich dominierten Feld der (Natur-)Wissenschaften: Sowohl an der Universität Wien als auch an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) prägte sie die Forschungslandschaft und stieg kontinuierlich die Karriereleiter empor. Die Physikerin und jahrelange Leiterin des Instituts für Radiumforschung der ÖAW in Wien (1947–1974) ist vor allem für die Entdeckung des Elements 85, Astat, bekannt. Als Expertin für Kernphysik nahm sie zudem in Debatten über die friedliche Nutzung von Atomenergie eine prominente wissenschaftspolitische Rolle in Österreich und auf internationaler Ebene ein.
Karlik wurde im Jahr 1954 als korrespondierendes Mitglied im Inland (kMI) in die mathematisch-naturwissenschaftliche (math.-nat.) Klasse der ÖAW aufgenommen. Damit war sie die zweite Frau überhaupt, die den Mitgliedsstatus in der ÖAW erreichte: 107 Jahre nach der Gründung der ÖAW im Jahr 1847 und sechs Jahre nach Lise Meitner, trat Karlik in die Reihen der Akademiemitglieder ein. Zehn Jahre blieben Meitner und Karlik die einzigen Frauen in dieser Position, bis 1964 die Wahl der Chemikerin Erika Cremer zum kMI der math.-nat. Klasse erfolgte. Im Jahr 1973 wurde Karlik zusätzlich – nach zwei gescheiterten Versuchen 1960 und 1971 – als bisher einzige Frau zum wM, der hierarchisch am höchsten stehenden Position innerhalb der Mitgliederstruktur, der math.-nat. Klasse gewählt.
Die berufliche Laufbahn Karliks begann in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen in Wien: Sie studierte Physik und Mathematik und arbeitete bereits ab Mitte der 1920er Jahre am Institut für Radiumforschung. In der Zwischenkriegszeit existierte eine verhältnismäßig hohe Zahl an Frauen, die in Wien an den naturwissenschaftlichen Instituten der Universität, als Studentinnen oder als Forscherinnen aktiv waren. Besonders das Institut für Radiumforschung wurde zum „Mekka für Frauen“ im Bereich der Nuklear- und Strahlenphysik sowie der Radiochemie. Karlik war dort gemeinsam mit vielen jungen Physikerinnen, darunter Marietta Blau, Elisabeth Kara-Michailova, Elisabeth Rona oder Hertha Wambacher, tätig. Als die 26-jährige Physikerin sich 1930 für das „Crosby-Hall-Stipenidum“ bewarb, ein auf die Förderung von Frauen ausgerichtetes Stipendium des „Internationalen Verbandes der akademischen Frauen“, lobte sie der gesamte Vorstand des Instituts für Radiumforschung in einem Empfehlungsschreiben:
„Sie [Karlik] zeichnet sich durch gründliches theoretisches Wissen [und] hervorragende experimentelle Geschicklichkeit (…) aus. Ihre Resultate sind musterhafte Präzisionsleistungen auf experimentell und theoretisch sehr schwer zu behandelnden Gebieten der modernen Atomphysik.“
Mit der erfolgreich beantragten Förderung absolvierte Karlik mehrere Auslandsaufenthalte, u.a. an der Royal Institution of Great Britain in London, am Cavendish Laboratorium in Cambridge und in Paris am Curie Institut. Zurück in Wien publizierte und forschte sie weiter im Bereich der Kernund Strahlenphysik, u.a. gemeinsam mit der Chemikerin und Kernphysikerin Elizabeth Rona (1890–1981) über die „Reichweite von α-Strahlen” mit der „Lumineszenzmethode”. Für diese Arbeit erhielten Karlik und Rona 1933 den Haitinger-Preis für Physik. Rona, die nach dem „Anschluss“ als Jüdin verfolgt wurde, musste emigrieren und konnte ihre Arbeit am Institut für Radiumforschung nicht weiterführen. Karlik hingegen war es möglich, nach 1938 ihre Laufbahn am Institut für Radiumforschung fortzusetzen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hatte zwar einen Antrag Karliks um Verlängerung ihres Stipendiums mit der Begründung abgelehnt, dass sie als Frau kaum Aussichten auf eine Universitätskarriere habe. Nach einer Intervention des nationalsozialistischen Institutsvorstands Gustav Ortner wurde die Verlängerung schließlich doch gewährt. Ein NS-Dozentenführer beschrieb Karlik in einem Bericht als „politisch unauffällig“ und „eher desinteressiert.“ Sie arbeitete zuerst als „wissenschaftliche Hilfskraft“, von 1940 bis 1942 als „Assistent“ und von 1942 bis 1947 schließlich als „Diätendozent“ weiterhin am Institut für Radiumforschung.
In Versuchen gemeinsam mit Traude Cless-Bernert (1915–1998) im Jahr 1942 gelang ihr der Nachweis des Elements 85, Astat, ein radioaktives chemisches Element, das beim natürlichen Zerfall von Uran entsteht. In der Folge erbrachten die beiden Wissenschaftlerinnen auch den Nachweis der Isotope 215, 216 und 218 dieses Elements. Damit schlossen sie eine Lücke im Periodensystem: Als Dmitri Mendelejew 1869 mithilfe des von ihm festgelegten Periodensystems die Existenz einiger noch nicht entdeckter Elemente vorhersagte, begann ein Wettlauf um die Entdeckung des fehlenden Elements. Immer wieder behaupteten Wissenschaftler*innen, das Element gefunden zu haben, die (vermeintlichen) Durchbrüche wurden jedoch nicht bestätigt. 1940 konnte Astat in der University of California erstmals künstlich hergestellt werden. Wenige Jahre später, mitten im Zweiten Weltkrieg, fanden Karlik und Bernert schließlich das kurzlebige Element, das zu einem der am seltensten natürlich vorkommenden Elementen der Erde zählt. Organische Astat-Verbindungen werden u.a. in der Nuklearmedizin zur Bestrahlung von Tumoren eingesetzt. Für diese Arbeiten erhielt Karlik 1947 den Haitinger- Preis für Chemie der ÖAW.
Zwei weitere Schritte ihrer Karriere ereigneten sich ebenfalls 1947, zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: 1947 beteiligte sich Karlik zusammen mit der Juristin Ilse Knapitsch und der Ärztin Lore Antoine an der erneuten Gründung des Verbandes der Akademikerinnen Österreichs, durch den sie als junge Wissenschaftlerin gefördert worden war. Von 1951 bis 1954 fungierte sie als Präsidentin des Verbandes. 1947 war auch jenes Jahr, in dem Karlik die Leitung des Instituts für Radiumforschung übernahm, die sie bis 1974 innehatte. Die provisorische Leitung hatte sie bereits 1945 übernommen. Der Wunsch des ehemaligen, 1938 als Jude zwangspensionierten Leiters, Stefan Meyer, Karlik als Vorstand einzusetzen, irritierte die Geschlechtervorstellungen des Physikers und kMIs Victor Hess, der 1946 schrieb: „Was das Radiuminstitut anlangt, so ist die temporäre Lösung bis 1947 gewiss sehr gut. Ob nachher, will ich dahin gestellt sein lassen. Es ist meine feste Überzeugung, dass weibliche Wissenschaftler nicht auf leitende Posten (Executivorgane) gesetzt werden sollten. Aber du hast diese Ansicht nie geteilt und daher erübrigt sich eine weitere Diskussion.“
Als Leiterin nahm sie eine zentrale Rolle beim Aufbau des Instituts für Radiumforschung ein. Dabei verfolgte sie ein dynamisches Wissenschaftsmanagement. Innerhalb der ÖAW, wie beispielsweise in den Wahlvorschlägen oder in Jubiläumsreden für Karlik zu lesen ist, wird immer wieder betont, dass sie die Rückführung des zu Kriegsende von den amerikanischen Behörden nach Salzburg verlagerten Radiumbestands in das Institut nach Wien bewirkte: „Die Österreichische Akademie der Wissenschaften ist Frau Prof. Karlik, der Leiterin eines ihrer Forschungsinstitute, insbesondere für ihre erfolgreichen Bemühungen zur Wiedererlangung des im Kriege verlagerten Radiumschatzes und die Wiederherstellung des Institutsbetriebes in schwerer Zeit zu größtem Dank verpflichtet.“ Parallel zu ihrer Leitungsfunktion stieg Karlik auch an der Universität weiter auf: Mit der Ernennung zum „außerordentlichen Professor“ – der Titel war ihr bereits 1946 verliehen worden – für Experimentalphysik im Jahr 1950 trat sie als erste Frau in die Philosophische Fakultät ein. 1956 wurde die Physikerin schließlich, erneut als erste Frau, auf eine ordentliche Professur an der Universität Wien berufen. In Österreich sowie auf internationaler Ebene war Karlik eine äußerst rege Akteurin in der Wissenschaftspolitik und in der Öffentlichkeit. Sie war maßgeblich an der Beratung der österreichischen Bundesregierung über die Nutzung von Atomenergie beteiligt. Als offizielle österreichische Delegierte arbeitete Karlik zudem in der UNO zu Fragen des friedlichen Umgangs mit der Atomenergie, zum Einsatz der Kernforschung in der Medizin und zur Energiegewinnung. So setzte sie sich u.a. für die Errichtung eines Forschungsreaktors in Österreich sowie für die Zusammenarbeit mit CERN und SIN (Schweizer Institut für Nuklearfoschung) ein.
Auch innerhalb der ÖAW war Karlik in zahlreichen Kommissionen tätig: Ab 1956 war sie Mitglied im Kuratorium des Instituts für Radiumforschung und Kernphysik sowie im Kuratorium des Instituts für Röntgenfeinstrukturforschung der ÖAW und des Forschungszentrums Graz, ab 1957 Teil der Prähistorischen Kommission, in der sowohl Mitglieder der math.-nat. als auch der phil.-hist. Klasse vertreten waren. Ab 1958 fungierte Karlik als Obmann-Stellvertreterin der Kommission für Strahlenforschung und Strahlenschutz der ÖAW, ab 1966 war sie Mitglied im Kuratorium des Instituts für Hochenergiephysik und der Kommission für Quartärforschung, die als Subkommission der Prähistorischen Kommission 1968 eingesetzt und 1972 zur selbstständigen Kommission erweitert wurde.
Trotz ihrer universitären Position setzte Karlik sich 1985 vehement für die Aufrechterhaltung des Status des Instituts für Radiumforschung als Akademieinstitut und gegen den Status als Universitätsinstitut ein. Als Argument führte sie an, dass die „sehr erfolgreiche interdisziplinäre Forschung im Rahmen eines Universitätsinstitutes auf erhebliche Schwierigkeiten stossen würde.“
Mehrfach hat Karlik Gedenkreden zu den Pionierinnen der Physik – z.B. Marie Curie und Lise Meitner – gehalten und wurde in ihrer Rolle als eine der wenigen Frauen in der Physik auch eben deshalb dafür angefragt. In den Wahlvorschlägen für ihre Mitgliedschaft bei der ÖAW wird Karlik als „führende Persönlichkeit der Kernphysik in Österreich“ bezeichnet. Ein Bericht der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift „Die Frau“ über ihre Wahl zum wM 1973 stellte Karlik neben Marie Curie und Lise Meitner in eine Reihe von Pionierinnen der Physik. Im Jahr 2011 schuf die Universität Wien mit einem nach Berta Karlik benannten Programm drei Professuren zur Förderung von Wissenschaftlerinnen. 1998 wurde eines der „Tore der Erinnerung“ am Campus der Universität Wien mit ihrem Namen versehen und seit 2016 steht ein Denkmal für Berta Karlik im Arkadenhof der Universität Wien.
LITERATUR
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ARCHIVE UND QUELLEN
Archiv der ÖAW = AÖAW
– Bestandsgruppe 9: Wahlakten (gesichtet: 1945-1976) = BG 9, WA
– Bestandsgruppe 10: Personalakten (gesichtet: zu den ersten 10 Frauen) = BG 10, PA
– Bestandsgruppe 11: FE-Akten (darin: Nachlass Berta Karlik) = BG 11, FE
– Almanache
(Veronika Duma, Goethe-Universität Frankfurt am Main)
Audio-Aufzeichnung von Berta Karlik
Hören Sie hier eine Aufnahme von Berta Karlik aus den Beständen des Phonogrammarchivs der ÖAW. Die Aufnahme entstand am 04. April 1979 im Festsaal der ÖAW im Rahmen des Festakts anlässlich der 100. Geburtstage von Albert Einstein, Otto Hahn, Lise Meitner und Max von Laue. Berta Karlik hielt die Festansprache für Otto Hahn und Lise Meitner.
Erika Cremer (1900–1996)
Erika Cremer (1900–1996)
Die Chemikerin Erika Cremer (1900–1996) – als korrespondierendes Mitglied im Inland (1964) die dritte Naturwissenschaftlerin an der ÖAW
Erika Cremer war die dritte Wissenschaftlerin, die – nach Lise Meitner und Berta Karlik – in die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse der ÖAW aufgenommen wurde, wenn auch „nur“ als korrespondierendes Mitglied im Inland (kMI).
Erika Cremer wurde am 20. Mai 1900 in München als Tochter des ordentlichen Professors für Physiologie Max Cremer (1865–1935) und seiner Frau Elisabeth Rothmund (1871–1928), ihrerseits Tochter eines Universitätsprofessors, geboren. Sie wuchs also wie viele Pionierinnen der Wissenschaft in einem akademischen Umfeld auf, was sie stets als Privileg betrachtet hat. Ihre Schulzeit verbrachte sie zunächst in München, dann, den jeweiligen Berufungen des Vaters folgend, in Köln und Berlin. Nach dem Abitur an einer Elisabeth-Schule in Berlin im Jahr 1921 studierte sie an der dortigen Universität Chemie und Physik, wo sie bei den späteren Nobelpreisträgern Albert Einstein und Max Laue sowie bei einem der Gründungsväter der physikalischen Chemie, Walther Nernst, studierte. Magna cum laude wurde sie 1927 vom Physikochemiker Max Bodenstein (1871–1942) promoviert. Ihre Dissertation behandelte die „Reaktion zwischen Chlor, Wasserstoff und Sauerstoff im Licht“. Sie hat darin die Chlorknallgasreaktion durch ein Bildschema dargestellt und die Möglichkeit der Explosion durch Kettenverzweigungen abgeleitet. Sehr viel später, 1956, erhielten zwei Chemiker, der Russe Nikolai Semjonow und der Brite Cyril Norman Hinshelwood, für ihre Arbeiten zur Chemischen Kinetik den Nobelpreis für Chemie, wobei Cremer in aller Bescheidenheit anmerkte, dass sie – jedenfalls in der Frage der Explosionsbedingungen bei Kettenverzweigungen – Semjonow „eine Nasenlänge“ voraus gewesen sei. Semjonow hatte Cremer fünf Jahre nach der Veröffentlichung ihrer Dissertation nach Leningrad eingeladen, doch in Berlin wurde die Tragweite des Prinzips der Kettenverzweigung, das sich unmittelbar auf den Vorgang der Explosion bei einer Atomspaltung übertragen ließ, erst später erkannt.
Cremer wandte sich in der Folge neuen Tätigkeiten zu, sie arbeitete zunächst als Volontärin bei Karl Friedrich Bonhoeffer, Extraordinarius für Chemie in Berlin, dann ging sie für zwei Jahre an das Physikalisch-Chemische Institut der Universität Freiburg. Im Oktober 1930 kehrte Cremer zurück nach Berlin, wo sie sich am neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie in der Abteilung des Physikochemikers Michael Polanyi (1891–1976) weiterbilden konnte. Auch wenn sie unbezahlt tätig war, gehörte sie nun dem auserwählten Kreis der damals bekanntesten Naturwissenschaftler:innen an, zu denen auch der spätere Nobelpreisträger Erwin Schrödinger zählte. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit Polanyi endete aber abrupt im Jahr 1933, als das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie den nationalsozialistischen Rassengesetzen zum Opfer fiel und Polanyi, seiner Entlassung zuvorkommend, einem Ruf an die Universität Manchester folgte. Erika Cremer übersiedelte – mittlerweile 33-jährig und immer noch auf der Suche nach einer dauerhaften akademischen Stelle – nach München und erhielt zunächst einen Arbeitsplatz am Physikalisch-Chemischen Institut der Universität München, das vom polnisch-deutschen Physikochemiker Kasimir Fajans (1887–1975) geleitet wurde. Doch auch er wurde infolge seiner jüdischen Herkunft 1935 entlassen und emigrierte über England in die USA. Ein bedeutender, zumindest symbolischer Karriereschritt gelang Cremer im Wintersemester 1936/37, als sie – wiederum in Berlin – eine Forschungsassistentenstelle beim damals bereits berühmten Chemiker und späteren Nobelpreisträger Otto Hahn am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie antreten konnte, wo auch Lise Meitner tätig war. Hier kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Forschungsschwerpunkt zurück, der explosionsartig verlaufenden Kettenreaktion zwischen Wasserstoff und Chlor, worüber sie später (1989) in der „Österreichischen Chemiker-Zeitung“ einen viel beachteten Artikel „Zur Geschichte der Entfesselung der Kernenergie“ publizierte.
Gesichert war ihre berufliche Existenz damit allerdings noch keineswegs, Otto Hahn vermittelte ihr 1937 ein Forschungsstipendium an das Physikalisch-Chemische Institut in Berlin, wo sie – gewissermaßen als „Privatassistentin“ ihres Lehrers und Mentors Max Bodenstein – forschen konnte. Ihr Biograph Gerhard Oberkofler vermutet wohl zu Recht, dass sie nur dank der finanziellen Unterstützung ihres Elternhauses diese „Durststrecken ihrer wissenschaftlichen Laufbahn“ überstehen konnte. Trotz dieser prekären beruflichen Situation beantragte die junge Wissenschaftlerin im Jahr 1938 mit fünfzehn Veröffentlichungen (acht davon mit anderen Autoren) ihre Habilitation an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin. Im Erstgutachten durch den Physikochemiker Paul Günther (1892–1969), dem sich auch der Zweibegutachter Peter Adolf Thiessen (1899–1990) anschloss, wurde der Habilitandin bescheinigt, dass sie „schon seit einiger Zeit eine in den Kreisen des engeren Faches allgemein anerkannte wissenschaftliche Arbeiterin“ sei. Am 10. Februar 1939 wurde Erika Cremer von der Universität Berlin der Grad eines Dr. phil. habil. verliehen, wodurch sie die Lehrbefähigung erhielt, allerdings ohne dass damit eine tatsächliche Lehrbefugnis an der Universität verbunden war.
Es war für die weitere Laufbahn Erika Cremes eine glückliche Fügung, dass in dieser Zeit an der Universität Innsbruck Bestrebungen im Gange waren, ein Ordinariat und ein selbständiges Institut für Physikalische Chemie einzurichten. Der „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938 hatte beim NS-affinen Vorstand des Chemischen Instituts Ernst Philippi (1888–1951) die Hoffnung auf eine solche Möglichkeit geweckt. Tatsächlich wurde das neue Institut errichtet und dessen Leitung dem Extraordinarius Carl Angelo Knorr (1894–1960) übertragen, dem Erika Cremer aus deren Münchner Zeit bekannt war.
Knorr bot der mittlerweile 41-jährigen Wissenschaftlerin in Innsbruck eine Assistentenstelle an, auf der sie auch die Lehrbefugnis erlangen könne. Nach einem dreistündigen Probevortrag im Oktober 1940 verlieh der damalige NS-„Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ Bernhard Rust – auf Antrag von Dekan Ernst Philippi – Erika Cremer am 9. Dezember 1940 die Lehrbefugnis für Physikalische Chemie und ernannte sie zur Dozentin an der naturwissenschaftlichen Fakultät. Nach 13 Jahren, die sie in schwierigen Verhältnissen – unterbezahlt, oft auch unbezahlt – verbracht hatte, war Cremer nun – wenngleich auf Widerruf – auf einer Beamtenstelle akademisch gesichert. Diäten wurden ihr allerdings erst ab April 1942 ausbezahlt.
Gemeinsam mit Knorr engagierte sich Cremer in den folgenden Jahren mit ganzer Kraft für den Aufbau des neuen Instituts. Als Knorr im Juli 1945 – „mangels österreichischer Staatsbürgerschaft“ – seines Amtes als Institutsleiter enthoben wurde, übernahm Cremer „provisorisch“ die Leitung des Instituts für Physikalische Chemie. In ihrem Falle wurde über die Tatsache der deutschen Staatsbürgerschaft hinweggesehen, da sie „ihrer Abstammung und Gesinnung nach Österreich nahe“ stand, und „wegen ihrer Nichtzugehörigkeit zur Partei manches zu erleiden“ gehabt hatte. Tatsächlich war Cremer, die sich selbst als unpolitisch verstand, erst 1940, wohl unter dem Druck ihres Förderers Philippi stehend, der Partei beigetreten. Ihr Biograf Gerhard Oberkofler relativiert diese Aussage dahingehend, dass sie sich „bei der Nazipartei nur angemeldet“ habe. Der Überprüfungsausschuss der Universität Innsbruck stellte jedenfalls 1946 das Verfahren gegen sie ein.
In Anerkennung ihrer Verdienste verlieh man ihr 1948 den Titel eines außerordentlichen Professors, eine tatsächliche Ernennung zum a.o. Professor erfolgte erst 1951. Nun wurde ihr auch definitiv die Vorstandschaft des Instituts übertragen und zugleich die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Doch erst acht Jahre später – 1959 – wurde sie zur Ordinaria für Physikalische Chemie ernannt, ein bemerkenswertes Zeichen für die Benachteiligung von Frauen zur damaligen Zeit, die im „Herrenclub“ (Gerhard Oberkofler) der ordentlichen Professoren durchwegs Ausnahmeerscheinungen waren. Sie war damit die erste Frau, die an der Universität Innsbruck ein Ordinariat innehatte.
Cremer bemühte sich von Anfang an um den wissenschaftlichen Austausch mit der internationalen Spitzenforschung und wurde immer wieder in zahlreiche europäische Länder zu Fachkongressen eingeladen. Nach einem ersten Aufenthalt in den USA 1951, wo sie an einer Fachtagung in New York teilnahm, verbrachte sie das Studienjahr 1953/54 als eingeladene Gastwissenschaftlerin am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge/Massachusetts.
Mit einer Reihe von Dissertant:innen, die ihr nach dem Ausscheiden von Knorr anvertraut waren, arbeitete Cremer in Innsbruck insbesondere auf dem Gebiet der Gaschromatographie, eine analytischen Methode zur Trennung von Stoffgemischen durch fraktionierte Verteilung zwischen einer festen und einer beweglichen Phase. Sie galt in chemischen Fachkreisen daher als Erfinderin der Gaschromatographie, deren wissenschaftliche Grundlagen sie zusammen mit ihrem Schüler Fritz Prior (1921–1996) erarbeitete. Ihre Forschungen haben, so wird von den Antragstellern um ihre Aufnahme als kMI in die ÖAW festgestellt, „zu einem grundlegenden Fortschritt in der Adsorptionschromatographie geführt, heute ein unentbehrliches Hilfsmittel in der analytischen Chemie“. Doch obwohl sie über 200 wissenschaftliche Artikel veröffentlichte, blieben ihr als Frau die höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen verwehrt. Die beiden britischen Chemiker Archer J. P. Martin und Richard L. M. Synge erhielten für ihre Arbeiten zur Gas-, Säulen- und Papierchromatographie im Jahr 1952 den Nobelpreis für Chemie, während Cremer auch diesmal leer ausging. Wohl aber wurden ihr in Anerkennung ihrer grundlegenden Arbeiten auf den Gebieten der Reaktionskinetik und der Gaschromatographie viele nationale und internationale Preise, Gastprofessuren, Ehrendoktorate und Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Gesellschaften verliehen. Besonders wertvoll waren ihr die Exner-Medaille des Österreichischen Gewerbevereins (1961) und das Ehrendoktorat der Technischen Hochschule Berlin. 1970 erhielt sie den Erwin-Schrödinger-Preis der ÖAW. In diesem Jahre erfolgte auch ihre Emeritierung. In ihrer langen fruchtbaren Zeit in Innsbruck hatte sie über 70 Doktoranden und vier Habilitanden betreut. Einer ihrer Schüler, Johann Gruber (1928–2021), wurde auf dem Lehrstuhl an der Universität Innsbruck ihr Nachfolger. Da ihr die technische Umsetzung der von ihr entwickelten Verfahren ebenfalls ein wichtiges Anliegen war, kooperierte sie auch stets mit Chemie- und Pharmaunternehmen sowie mit Herstellern von Analysegeräten.
Cremer entwickelte aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Schwierigkeiten, mit denen Frauen auf einem akademischen Karriereweg zu kämpfen hatten, und sie setzte sich daher zeitlebens für die Förderung junger Frauen in Studium und Wissenschaft ein. Sie engagierte sich im Verband der Österreichischen Akademikerinnen und wirkte in den Jahren 1954–56 sogar als dessen Präsidentin. An der Universität Innsbruck wurde ein Habilitationsprogramm zur Förderung von jungen Wissenschaftlerinnen nach ihr benannt.
Am 21. September 1996 verstarb Cremer in Innsbruck im hohen Alter von 96 Jahren.
Archiv der ÖAW
- Personalakt Erika Cremer, Wahlvorschlag Erika Cremer, 579/64, 10.4.1964.
Archiv der Universität Innsbruck
- Personalakt Erika Cremer.
- Phil. Habiliationsakten nach 1945, Habilitationsakt Erika Cremer, vgl. https://www.uibk.ac.at/universitaetsarchiv/erika-cremer/
Literatur
- Klaus Beneke: Erika Cremer. Pionierin der Gaschromatographie. Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften VIII. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, Nehmten 1999, 311–334.
- Brigitte Bischof: Cremer, Erika, in: Brigitta Keintzel/Ilse Korotin (Hg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich: Leben – Werk – Wirken. Wien/Köln/Weimar 2002, 121–124.
- Doris Corradini, Sandra Klos, Brigitte Mazohl: Störfall Gender. Weibliche Mitglieder – wissenschaftliche Mitarbeiterinnen – Förderpolitik – Forschungsperspektiven, in: Johannes Feichtinger, Brigitte Mazohl (Hg.): Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte, Bd. 3, Wien 2022, 63–175, insb. 74, 90.
- Veronika Duma: Frauenkarrieren in der Männerwelt: Möglichkeiten, Ausschlüsse und Vertreibung. Zu den ersten zehn weiblichen Mitgliedern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, in: Geistes- sozial- und kulturwissenschaftlicher Anzeiger 155/1+2 (2020), 63–110, insb. 78–81.
- Ilse Korotin (Hg.): Biographie: Lexikon österreichischer Frauen Bd. 1, Wien/Köln/Weimar 2016, 527–528.
- Adolf Neckel: Nachruf auf Erika Cremer. In: Almanach 147 (1996/97), 505–515.
- Gerhard Oberkofler: Erika Cremer. Ein Leben für die Chemie, Innsbruck 1998.
(w.M. Brigitte Mazohl, Universität Innsbruck)
Margret Dietrich (1920–2004)
Die Theaterwissenschaftlerin Margret Dietrich (1920–2004) – die erste Frau als wirkliches Mitglied der philosophisch-historischen Klasse
Acht Jahre nachdem die Physikerin Berta Karlik (1904–1990) im Jahr 1973 als erste Frau zum wirklichen Mitglied der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse gewählt worden war, schaffte eine weitere Wissenschaftlerin die Wahl in diese wichtigste Mitgliederkategorie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – als erste Frau nun auch in der philosophisch-historischen Klasse.
Am 19. Mai 1981 wurde die Theaterwissenschaftlerin Margret Dietrich auf Vorschlag ihres Mentors, des Literatur- und Theaterwissenschaftlers wM Heinz Kindermann (1894–1985) und des Byzantinisten wM Herbert Hunger (1914–2000) im zweiten Anlauf zum wirklichen Mitglied gewählt, nachdem der erste diesbezügliche Versuch im Jahr 1972 gescheitert war. Margret Dietrich war im Jahr ihrer erfolgreichen Wahl bereits 17 Jahre lang korrespondierendes Mitglied im Inland gewesen, auch in dieser Funktion als erste Frau in dieser Klasse. Kindermanns Antrag hatten damals, im Jahr 1964, insgesamt 18 Mitglieder aus nahezu allen Disziplinen der philosophisch-historischen Klasse unterzeichnet, was einerseits für ihre wissenschaftliche Reputation spricht, andererseits aber auch ein Zeichen dafür ist, dass es für die Wahl eines weiblichen Mitglieds in den 1960er Jahren der gebündelten Kräfte zahlreicher Mitglieder bedurfte.
Die enge Bindung der Theaterwissenschaftlerin an die NS-Ideologie hatte damals für ihre Wahl keine Rolle gespielt. Die kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der ÖAW insgesamt und ihrer Mitglieder erfolgte erst viele Jahre später – heute allerdings kann eine Würdigung ihrer Person diese Schattenseite ihrer Biografie nicht unerwähnt lassen.
Margret Dietrich wurde am 19. Februar 1920 in Lippstatt (Westfalen) als viertes Kind und erste Tochter eines Studienrats (Chemie) geboren. Das Gymnasium besuchte sie in Münster, wohin die Familie, als sie zehn Jahre alt war, übersiedelte – das Abitur am Anette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium legte sie 1939 ab. Früh schon, und damit werden die Schattenseiten bereits sichtbar, begeisterte und engagierte sie sich in nationalsozialistischen Organisationen: Bereits als Dreizehnjährige trat sie der Hitlerjugend bei und übernahm als „Jungmädelführerin“ bald leitende Aufgaben; fünf Jahre später, 1938, trat sie in die NSDAP ein. An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster studierte sie eine Vielzahl an geisteswissenschaftlichen Disziplinen: Altphilologie, wie es damals hieß, Geschichte, Germanistik, Theologie und Philosophie. Geologie, sowie das „Schnuppern“ in Archäologie und Volkskunde gab sie bald wieder auf; ein Semester verbrachte sie auch an der Universität Graz, wo sie „Österreich und den Reichtum seiner Landschaften und seiner Kultur“ kennenlernte (Selbstbiographie, 1999, 2).
In Münster wirkte seit 1936 der Wiener Heinz Kindermann als Professor für Deutsche Literatur- und Theatergeschichte und Direktor des Germanistischen Seminars. Der überzeugte Nationalsozialist (NSDAP-Mitglied seit Mai 1933 und förderndes Mitglied der SS) vertrat das damals innovative Forschungsfeld Theaterwissenschaft im germanisch-völkischen Sinn, was der ideologischen Orientierung der jungen Studentin durchaus entgegenkam und sie in ihrer Haltung wohl bestärkte. Auch viele ihrer österreichischen, in ihrer „Selbstbiographie“ als prägend erwähnten akademischen Lehrer, u.a. die Historiker wM Heinrich Srbik und wM Fritz Schachermayer, die Germanisten wM Josef Nadler und Dietrich Kralik waren Parteimitglieder gewesen.
Als Kindermann im Jahr 1943 von Reichsstatthalter Baldur von Schirach beauftragt wurde, in Wien das Zentralinstitut für Theaterwissenschaften aufzubauen, nahm er die 23jährige Dietrich als Assistentin mit. Sie setzte in Wien ihre Studien – erweitert um Ästhetik und Mittellateinische Sprache und Literatur, wozu sie bei Friedrich Kainz und Richard Meister hörte – fort und wurde 1944 mit ihrer Dissertation „Der Wandel der Gebärde im deutschen Theater vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Vom Spätmittelalter zum Barock“ promoviert.
Die methodische Originalität, die der jungen Wissenschaftlerin im Wahlvorschlag von 1964 für diese Arbeit bescheinigt wurde, muss allerdings aus heutiger Sicht vor dem Hintergrund des damals diskursprägenden Paradigmas von „Volksgeschichte“ doch relativiert werden. Das „Volk“, insbesondere das „deutsche Volk“ – überhöht als „Wertegemeinschaft“ und im Gegensatz zur liberal-kapitalistischen, kosmopolitischen „Gesellschaft“ des 19. Jahrhunderts verstanden – in seiner Besonderheit/Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen zu deuten, entsprach nichts anderem als dem völkisch-nationalen Denken der Zeit. Und so weiterführend und anregend der Blick auf das Theater als „Gebärdenverwirklichung“ auch gewesen sein mochte, so lässt sich heute ein Ansatz, der die Gebärde als „Ausdruck der Rasse“ begreift, unschwer als dem damaligen Zeitgeist verpflichtet erkennen.
Und wenn für Dietrich das Theater als „Repräsentant ewig völkischen Glaubens und tiefster Liebe, glühender Bekenntnis“ (Dietrich 1944, 5, zit. nach Duma, 2021, 85) gilt, so zeigt sich in Formulierungen wie dieser, wie stark auch die emotionale Bindung an die völkisch-nationale Ideologie des Nationalsozialismus bei der jungen Wissenschaftlerin gewesen sein mochte. Eine klare Distanzierung war ihr später nicht möglich. Da sie ihre Mitgliedschaft in der Partei verleugnete, blieb das Thema ihrer nationalsozialistischen Verstrickung bis in die Zeit ihrer Selbstbiografie (und ihrer Nachrufe) hinein ein Tabu. Erst im Jahr 2008 wurde – im Zusammenhang mit einer gründlichen Aufarbeitung der Geschichte des Instituts für Theaterwissenschaften – die ursprünglich ihr gewidmete Margret-Dietrich-Gasse im 21. Wiener Gemeindebezirk zugunsten der jüdischen, nach Theresienstadt deportierten und dort umgekommenen Theaterkritikerin Helene Richter in Helene-Richter-Gasse umbenannt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Margret Dietrich als deutsche Staatsbürgerin von der Universität Wien entlassen, „repatriiert“, wie sie es nannte. Sie lebte einige Jahre in Münster, konnte allerdings, nachdem sie die österreichische Staatsbürgerschaft erworben hatte, auf dem Weg über einen längeren Aufenthalt in Salzburg, wieder nach Wien zurückkehren.
Auch Kindermann war 1945 seiner Professur enthoben und als Leiter des Instituts für Theaterwissenschaften entlassen worden. Der neue interimistische Leiter, Eduard Castle, holte sie 1949 als Wissenschaftliche Hilfskraft wieder zurück ans Institut. Hier habilitierte sie sich im Jahr 1952 beim Sprachtheoretiker und Literaturwissenschaftler Friedrich Kainz (1897–1977), der nach Castles Emeritierung die – wiederum provisorische – Leitung des Instituts für Theaterwissenschaften übernommen hatte und diesem bis zu Kindermanns Rückkehr (1954) vorstand.
Dietrichs Habilitationsschrift war dem Thema „Europäische Dramaturgie. Der Wandel ihres Menschenbildes von der Antike bis zur Goethe-Zeit“ gewidmet. Wohl kann man auch noch in dieser Arbeit vereinzelt „ein NS-Anthropologisches Menschenbild“ (Duma 2021, 85) als Hintergrundfolie aufspüren, doch lässt sich nun doch eine deutliche Abkehr von einer ausschließlich auf das deutsche Theaterleben fokussierten Sicht erkennen. Der weitgespannte Bogen, mit dem hier, beginnend mit den griechischen und römischen Klassikern über die Renaissance und das französische Drama des 17. Jahrhunderts bis hin zum „Ordnungsgefüge des Barock und der galanten Epoche“ die unterschiedlichen Persönlichkeitsformen und Entwicklungen des „Affektenbildes“ nachgezeichnet wurden, ist eine beeindruckende Leistung und es spricht für die Qualität dieser Studie aus dem Jahr 1952, dass sie 1967 eine zweite Auflage erlebte.
Mit Kindermann gemeinsam gab Dietrich 1949 das „Lexikon der Weltliteratur“ heraus, das ebenfalls mehrere Auflagen erlebte, sowie das „Taschenlexikon für deutsche Literatur“ (1953). Dietrich galt nunmehr als anerkannte Theater- und Literaturwissenschaftlerin: Im Jahr 1958 wurde sie an der Universität Wien zum „außerordentlichen Professor“ ernannt, wodurch sie ihr Forschungsinteresse nach dem Wandel des Menschenbilds in der europäischen Literatur nun auch vermehrt in die akademische Lehre einbringen konnte. Auch ihren Vorlesungen „(über 64 Semester), in denen ich historisch von der griechischen Antike bis ins 20. Jahrhundert führte“, nahm diese Frage „einen hervorragenden Platz“ ein (Selbstbiographie 1999, 8). Zwei weitere Publikationen, die in ihrer Zeit als Standardwerke galten, erschienen kurz nacheinander im Jahr 1961: „Europäische Dramaturgie im 19. Jahrhundert“ und „Das moderne Drama. Strömungen, Gestalten, Motive“ (in vierter Auflage 1974 erschienen). In beiden Arbeiten weist sich Dietrich nicht nur als profunde Kennerin der deutschen, österreichischen, englischen, französischen, italienischen, spanischen, niederländischen und schwedischen Literatur bis in die Dramatik der Gegenwart hinein aus. Zahlreiche europäische Sprachen hat sie sich im Laufe ihres Lebens – zumindest bis zur Lesekompetenz – selbst angeeignet.
Ihr wissenschaftliches Interesse reichte aber auch stets über Drama, Theater und Literatur hinaus, indem sie zum einen im dramatischen Stoff selbst immer wieder allgemeine philosophische Fragen aufspürte (so z. Bsp. die Spannung zwischen Schicksalsgebundenheit und menschlicher Freiheit bei Schiller), zum anderen aber auch ausgewählte Philosophen (von Hegel über Nietzsche bis Kierkegaard) nach ihren Deutungen des Tragischen und Komischen, d.h. nach der conditio humana insgesamt, befragte, denn „Entwürfe vom Selbstverständnis in den Beziehugen zu Gott, zum Kosmos, zur Welt, zur Natur, zu menschlichen Gemeinschaften, zum Du und zum eigenen Ich, zum Innern der Wahrnehmungskapazität und auch der bohrenden Substanzergründung des Ich, wurden lang vor Freuds ´Psychoanalyse` von bedeutenden Wissenschaftlern aufgedeckt und theoretisch behandelt, von Dramatikern gestaltet.“ (Selbstbiographie, 1999, 8).
So waren alle ihre Arbeiten tatsächlich von einem „philosophischen Unterbau“ getragen und die Frage, welche Rolle die Künste als Repräsentanten des Menschenbildes im „historischen und sozialen Ambiente“ jeweils spielten, beschäftigte sie ihr Leben lang (Selbstbiographie, 1999, 9).
Der umfassende Bildungskanon, über den sie zu all diesen Themen verfügte und der in ihren Arbeiten zum Ausdruck kommt, kann aus heutiger Sicht nur mit staunender Anerkennung gewürdigt werden.
Nach Kindermanns Emeritierung im Jahr 1966 wurde Margret Dietrich an der Universität Wien zur ordentlichen Professorin ernannt, nach Berta Karlik und der Archäologin Hedwig Kenner (1910–1993) die dritte Frau in einer solchen Position. Sie übernahm Kindermanns Lehrstuhl und damit auch die Leitung des Instituts für Theaterwissenschaften, die sie bis 1982 innehatte. In dieser Zeit wirkte sie – wiederum an der Seite von Heinz Kindermann – an der Gründung der Max Reinhardt-Gedenkstätte mit in Salzburg mit, bei der sie in den Jahren zwischen 1966 und 1983 als „Generalsekretär“ tätig war.
Auch an der Akademie nahm sie verschiedene Leitungsfunktionen wahr. Auf ihre Initiative ging die Gründung des Instituts für Publikumsforschung im Jahr 1973 zurück, dem sie bis 1985 vorstand. Hier konnte sie damals völlig neue Forschungsansätze wie Rezeptions- und Kulturindikatoren-Forschung etablieren. An der Universität Wien ließ sie sich 1984 aus gesundheitlichen Gründen – sie litt nach einer Schilddrüsenoperation an einer Stimmbandlähmung – vorzeitig emeritieren. Zwischen 1986 und 1998 leitete sie dennoch – wiederum in der Nachfolge von Heinz Kindermann, der 1985 verstorben war – die Kommission für Theatergeschichte (Österreichs), aus der das heutige Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte hervorgegangen ist. Im Rahmen dieser Kommission weitete sich die Perspektive zunehmend auf eine vergleichende Theater- und Kulturgeschichte der Habsburgermonachie aus, wobei die Stadt Wien und der Herrschaftsbereich der Casa d´Austria zentrale Schwerpunkte bildeten. Mit ihrem Einsatz für quellenbasierte, aber auch inter- und transdisziplinäre Forschung hat sie das wissenschaftliche Profil dieser Kommission maßgeblich mitgeprägt.
In ihren späteren Lebensjahren entdeckte sie mit ungebrochener Neugier die japanische Kultur als neues Betätigungsfeld für sich. Nach mehrmonatigen Vortrags- und Forschungsreisen nach Japan, Korea und Taiwan gründete sie 1981 das „Europäische Forschungszentrum für japanische Theaterkultur“, dem sie bis 1984 als Präsidentin vorstand. Auch aus diesem Bereich gingen eine Reihe von Publikationen, u.a. zum Japanischen Jesuitentheater hervor. Zu ihren runden Geburtstagen 1980 und 1990 wurde ihr im Rahmen der von ihr bis 1984 herausgegebenen Zeitschrift „Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft“ jeweils eine Festschrift gewidmet. In der späteren Festschrift findet sich hier auch ein Werkverzeichnis (bis 1995), das von Moritz Csáky und Elisabeth Großegger im Nachruf im Almanach 2003/04 ergänzt wurde. Eine Auswahl ihrer wichtigsten Vorträge („Humanisierung des Lebens. Theater und Kunst: Ausgewählte Vorträge“) erschien im Jahr 2000.
In den Jahren 1997/98 schwer erkrankt, zog sich Margret Dietrich aus dem akademischen Leben weitgehend zurück, blieb aber weiterhin als Forscherin aktiv. Sie verstarb am 17. Januar 2004. Für ihr Lebenswerk wurde sie mehrfach ausgezeichnet: mit dem Grillparzer-Ring 1978, mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse 1980, mit dem Goldenen Ehrenzeichen des Landes Salzburg 1983, mit der Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien 1985, zudem war sie Ehremitglied des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität Ankara.
Archiv der ÖAW
- Archiv der ÖAW, Personalakt Margret Dietrich, Selbstbiographie vom 19.2.1999
Literatur
- Doris Corradini, Sandra Klos, Brigitte Mazohl: Störfall Gender. Weibliche Mitglieder – wissenschaftliche Mitarbeiterinnen – Förderpolitik – Forschungsperspektiven, in: Johannes Feichtinger/Brigitte Mazohl (Hg.): Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte, Bd. 3, Wien 2022, 63–175, insb. 90–91.
- Moritz Csáky/Elisabeth Großegger: Margret Dietrich, in: Almanach 154 (2003/04), 453–460.
- Dietrich Margret, Theaterwissenschafterin: biografiA (http://biografia.sabiado.at/dietrich-margret/, eingesehen am 3.3. 2023).
- Veronika Duma: Frauenkarrieren in der Männerwelt: Möglichkeiten, Ausschlüsse und Vertreibung. Zu den ersten zehn weiblichen Mitgliedern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, in: Geistes- sozial- und kulturwissenschaftlicher Anzeiger 155/1+2 (2020), 63–110, insb. 83–87.
- Stefan Hulfeld/Birgit Peter: Die Entwicklung der Theaterwissenschaft an der Universität Wien seit ihrer Institutionalisierung im Jahr 1943, in: 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert, Bd. IV, hg. von Karl Anton Fröschl, Gerd B. Müller u.a.: Reflexive Innensichten aus der Universität Wien – Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, Wien 2015, 111-119.
- Doris Ingrisch: Dietrich Margret, in: Brigitte Keintzel/Ilse Korotin (Hg.): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien/Köln/Weimar 2002, 136–139.
- Katharina Kniefacz: Margret Dietrich, o. Univ.Prof. Dr. phil.: 650 plus – Geschichte der Universität Wien (https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/margret-dietrich-o-univ-prof-dr-phil, eingesehen am 4.3.2023).
- Birgit Peter: „…wurde ich bestärkt und bestimmt durch die Mitarbeit in der Hitlerjugend.“ Annäherung an die NS-Vergangenheit der Theaterwissenschaftlerin Margret Dietrich, in: Zeitgeschichte 48 (2021) 3, 361–336.
(w.M. Brigitte Mazohl, Universität Innsbruck)
AUDIO-AUFZEICHNUNGEN VON MARGRET DIETRICH
Vortrag von Margret Dietrich: "Max Mall als Theaterkritiker", aus Anlaß des 100. Geburtstages von Max Mall - (Gesamtsitzung; Ausschnitt aus der Aufnahme B 27963, Phonogrammarchiv, ÖAW)
Vortrag von Margret Dietrich: "Prätheatralische Spiele am Hofe Philipe le Bon (Burgund) und Réne d'Anjou (Provence)" - (phil.-hist. Klasse - Klassensitzung; Ausschnitt aus der Aufnahme B 24522, Phonogrammarchiv, ÖAW)
Erna Lesky (1911–1986)
Erna Lesky (1911–1986)
Erna Lesky (1911–1986), Medizinhistorikerin, kMI 1965, EM 1973
Die Kaufmannstochter Erna Lesky (geb. Klingenstein) war die erste Professorin an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Durch ihre fachliche Kompetenz, die Unterstützung ihres Mannes Albin Lesky, ihre politische Anpassungsbereitschaft während der NS-Zeit u.v.m. brachte sie die Medizingeschichte im Wien der Nachkriegszeit wieder auf den Lehrplan und das Josephinum ins Zentrum ihres international renommierten Schaffens.
Erna Klingenstein wurde am 22. Mai 1911 in Hartberg in der Steiermark als Tochter des Kaufmanns Paul Klingenstein geboren. Sie besuchte das Akademische Gymnasium in Graz und maturierte dort 1931. Im selben Jahr schrieb sie sich an der Medizinischen Fakultät der Universität Innsbruck ein, wechselte jedoch bereits im darauffolgenden Jahr an die Universität Wien. Dort wurde sie am 22. Dezember 1963 zum Doktor der Medizin promoviert.
Im Folgenden begann Klingenstein ihre Ausbildung und Tätigkeit im pädiatrischen Bereich unter Richard Priesel (1890–1955). 1937 wurde sie Volontärärztin an der Universitätskinderklinik in Innsbruck und 1938 Hilfsärztin an der Medizinischen Klinik ebendort. Eine Assistenzstelle wurde ihr jedoch verwehrt. Im September 1938 wurde Erna Klingenstein Parteianwärterin der NSDAP.
Im Jahre 1939 heiratete sie den damaligen Innsbrucker Ordinarius für klassische Philologie, Albin Lesky. Am 1. November 1939 wurden sowohl Albin Lesky (Parteinummer 725.276.237) als auch Erna Lesky (Parteinummer 725.271.438) Mitglieder der NSDAP. Daraufhin vermittelte Priesel Lesky 1940 die medizinische Leitung eines Heimes des Hilfswerks „Mutter und Kind“ der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) in Igls bei Innsbruck. Erna Lesky stieg als Parteimitglied und engagierte NSV-Aktivistin zur Chefärztin auf und wurde Säuglings- und Kinderfürsorgebeauftragte für den Gau Tirol-Vorarlberg. Bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes blieb Erna Lesky NSV-Ärztin.
Zwar wurde 1945 ihre Approbation für ungültig erklärt, dennoch gelang es Lesky, von 1945 bis 1949 ärztliche Leiterin des Margarethinums der Barmherzigen Schwestern in Innsbruck zu werden. 1946 erhielt sie eine Ablehnung der Anerkennung als Fachärztin für Kinderheilkunde durch die Ärztekammer Tirol aufgrund fehlender Fachausbildung an einer Kinderklinik. Am 30. September 1947 wurde Lesky schließlich als „minderbelastet“ eingestuft und es wurde ihr wieder die Approbation erteilt.
1949 begann für Lesky ein neues Kapitel ihrer Geschichte, als sie 1949 mit ihrem Ehemann nach dessen Berufung nach Wien dorthin übersiedelte und sich gleichzeitig an der Universität Wien an der Philosophischen Fakultät inskribierte. Von 1949 bis 1956 studierte sie dort Geschichte und Altgriechische Philologie und wurde 1956 im Fach Geschichte mit der Arbeit „Staat und Heilkunde im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus“ promoviert. Bereits im Jahre 1950 veröffentlichte die Mainzer Akademie der Wissenschaften auf Empfehlung des Medizinhistorikers Paul Diepgen Leskys Arbeit „Die Zeugungs- und Vererbungslehre in der Antike und ihr Nachwirken“, was ihr internationales Renommee einbrachte. 1957 konnte Lesky sich aufgrund dieser Schrift in Geschichte der Medizin habilitieren. 1960 übernahm sie die Leitung des Instituts für Geschichte der Medizin (Josephinum) in Verbindung mit einem Lehrauftrag. 1962 wurde sie zur außerordentlichen Professorin und Institutsleiterin, nachdem sie eine Berufung nach Berlin als Ordinaria abgelehnt hatte und auch in Hamburg und Göttingen auf den Berufungslisten stand. Diese Berufungen ermöglichten es, dass die Universität Wien erstmals seit 1938 wieder einen Lehrstuhl in diesem Fach besetzte. Von 1966 bis 1979 war Lesky schließlich ordentliche Professorin. Damit war Erna Lesky also die erste Frau, die eine Professur an der Medizinischen Fakultät an der Universität Wien innehatte – im internationalen Vergleich sehr spät.
Ihr Hauptwerk „Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert“ erschien 1965. Sie schrieb außerdem ca. 150 Artikel in wissenschaftlichen Sammelwerken und in in- und ausländischen Fachzeitschriften, darunter viele Ärztebiographien. Ihre Arbeitsgebiete waren vielfältig und reichten von der Antike über den Barock und die Aufklärungszeit bis ins 19. Jahrhundert. Lesky war weiters für die Generalsanierung des historischen Institutsgebäudes (Josephinum) hauptverantwortlich und leitete die Katalogisierung, Renovierung und Erschließung der zum Teil historischen Bibliotheksbestände, der Archive und der umfangreichen Sammlungen des Josephinums. Schließlich war sie seit 1966 Redakteurin der internationalen Zeitschrift für Geschichte der Medizin „Clio Medica“.
Zu ihren zahlreichen wissenschaftlichen Ehrungen und Anerkennungen zählen u.a[BM2] . die Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Zürich im Jahr 1978 und die Mitgliedschaft und schließlich Senatorenschaft der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (Mitglied 1965, Senatorin 1970, Cothenius-Medaille 1983) sowie die Ehrenmitgliedschaft in zahlreichen wissenschaftlichen in- und ausländischen Gesellschaften.
In der ÖAW wurde Lesky 1965 korrespondierendes Mitglied im Inland. Ein Versuch im Jahr 1969, sie auch zum wM zu wählen, scheiterte. Stattdessen wurde sie 1973 von Althistoriker Fritz Schachermeyr, Historiker Adam Wandruszka und Indogermanist Manfred Mayrhofer zum Ehrenmitglied vorgeschlagen und schließlich auch von der Gelehrtengesellschaft gewählt. In einem Brief an den Historiker Leo Santifaller im Jahre 1970, der Lesky im Jahr zuvor vergeblich zum wM vorgeschlagen hatte, schrieb sie mit der Absicht, ihn davon abzuhalten, sie wieder vorzuschlagen:
„Ich kann nicht einsehen, was es mit der Anerkennung meiner Leistung zu tun hat, daß die math.-nat. Klasse die von mir aufs höchste geschätzte Frau Prof. Karlik nicht zu ihrem w.M. gewählt hat und ich kann mir nicht denken, daß die Akademie mit Recht eine wissenschaftliche Leistung ignoriert, weil sie von einer Frau stammt. Daß meine Beurteilung mit der Rolle meines Mannes in der Akademie verquickt wurde, hat uns beide am meisten getroffen.“
In ihrem Wahlvorschlag 1973 wurde der damals führende Medizinhistoriker Erwin Heinz Ackerknecht (Zürich) zitiert, der urteilte, dass Lesky „einer der bedeutendsten lebenden Forscher auf dem Gebiet der Medizingeschichte“ sei.
Erna Lesky veränderte das Josephinum von seinem desolaten Zustand zu einem international renommierten Forschungszentrum für Geschichte der Medizin. Trotz dieser bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen bleibt ihre Person angesichts ihrer Verstrickungen in den Nationalsozialismus ambivalent. Ihr wurden als Pionierin Steine in den Weg gelegt und Anerkennungen – nicht zuletzt auch in der Akademie – verwehrt. Sie setzte sich dennoch durch und beschäftigt die Forschung bis heute.
(Sandra Klos, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, ÖAW)
Archiv der ÖAW
- Archiv der ÖAW, Personalakt Erna Lesky, Wahlvorschlag 1973.
Literatur
- Bruno Bauer: Erna Lesky als Bibliothekarin, Archivarin und Dokumentarin am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Wien: Van Swieten Blog (https://ub.meduniwien.ac.at/blog/?p=18864, eingesehen am 18.10.2023).
- Bruno Bauer: Lesky Erna Bibliothekarin, Archivarin, Dokumentarin und Medizinhistorikerin: biografiA (http://biografia.sabiado.at/lesky-erna/, eingesehen am 18.10.2023).
- Kurt Ganzinger, Manfred Skopec, Helmut Wyklicky: Erna Lesky – septuagenariae, in: dies. (Hg.): Festschrift für Erna Lesky zum 70. Geburtstag, Wien 1981, 1–3.
- Helmut Gröger: Lesky Erna, in: Brigitte Keintzel/Ilse Korotin (Hg.): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien/Köln/Weimar 2002, 465–468.
- Kurt Mühlberger: Erna Lesky, geb. Klingenstein, Univ.-Prof. Dr.: 650 plus – Geschichte der Universität Wien (https://geschichte.univie.ac.at/en/persons/erna-lesky-geb-klingenstein, eingesehen am 18.10.2023).
- Felicitas Seebacher: Erna Lesky, „Herrin“ der Sammlungen des Josephinums. Wissensproduktion und Wissenspräsentation im Zentrum der Geschichte der „Wiener Medizin“, in: Johannes Seidl / Ingrid Kästner (Hg.): Tauschen und Schenken. Wissenschaftliche Sammlungen als Resultat europäischer Zusammenarbeit (Europäische Wissenschaftsbeziehungen, Bd. 20), Düren 2020, 107–130.
- Felicitas Seebacher: „Mit dem Geist redlichen Dienens“. Die akademische Karriere der NSV-Ärztin und Medizinhistorikerin Erna Lesky, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 69/12 (2021), 1038–1057.
Hedwig Kenner (1910–1993)
Hedwig Kenner (1910–1993), Klassische Archäologin, kMI 1968
Die Klassische Archäologin Hedwig Kenner (1910–1993) war nicht nur eine der ersten Ordinariae an der Universität Wien (1960–1981), sondern auch seit 1968 korrespondierendes Mitglied im Inland der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Weniger bekannt hingegen ist ihre Verstrickung mit dem Nationalsozialismus in Österreich.
Ihr Vater Anton Kenner (1871–1951) und ihre Mutter Berta, geb. Tragau (1888–1975), waren beide Maler:innen. Kenners Onkel väterlicherseits, Friedrich von Kenner (1834–1922), war der bekannte Direktor des k. k. Münz- und Antikenkabinetts in Wien und ebenfalls Akademiemitglied seit 1864. Ihr Onkel mütterlicherseits, Carl von Tragau, war einer der ersten Ausgräber von Carnuntum – als ehemaliger Postbeamter ein echter Amateur.
Kenner besuchte das humanistische Bundesgymnasium im dritten Bezirk in Wien und maturierte dort 1929. Im selben Jahr begann sie ihre Studien der Klassischen Archäologie und Klassischen Philologie an der Universität Wien. Zu ihren Lehrern gehörte der Archäologe Camillo Praschniker, der Althistoriker und Ausgräber Rudolf Egger, der Philologe Ludwig Radermacher und der Klassische Archäologe Emil Reisch – alle vier ebenfalls Akademiemitglieder. Kenner wurde 1934 promoviert und wurde 1936 Assistentin bei Camillo Praschniker an der Archäologischen Sammlung der Universität Wien. Spätestens am 1. Mai 1938 wurde Kenner Mitglied der nun in Österreich wieder legalen NSDAP (Mitgliedsnummer 6.282.734). Ihr Lehrer Praschniker führte jedoch bei ihrem Habilitationsverfahren im Jahr 1942 an, dass Kenner bereits zur „Systemzeit“ (also 1933–1938) Parteimitglied gewesen war. Mit Praschnikers Unterstützung wurde Kenner 1942 für das Gesamtfach der Archäologie habilitiert.
1945 trat das sogenannte Verbotsgesetz in Kraft, welches ehemalige NSDAP-Mitglieder zur Registrierung verpflichtete. Kenner bat die provisorische Staatsregierung um Nachsicht mit der Begründung, dass sie mit ihrem Eintritt in die NSDAP lediglich „ihre Stellung als Frau in einem akademischen Beruf“ festigen habe wollen. „In jugendlichem Alter“ sei sie beigetreten, nach dem Parteiverbot 1934 aber sofort wieder ausgetreten. Aufgrund dieser Erklärungen wurde sie von den staatlichen Behörden als unbedenklich und „minderbelastet“ eingestuft. Am 5. Dezember 1945 erschien Kenner wieder zum Dienst. Es gab zwar noch ein Berufungsverfahren, jedoch wurde auch dies spätestens mit Inkrafttreten des Amnestiegesetzes 1948 wieder eingestellt.
Kenner wurde 1948 Assistentin am Archäologisch-Epigraphischen Seminar der Universität Wien und erhielt 1951 den Titel eines außerordentlichen Professors. Nachdem der Lehrstuhl Praschnikers zwei Jahre lang unbesetzt geblieben und von Kenner vertreten worden war, wurde Otto Walter zum neuen Lehrstuhlinhaber ernannt. Kenner blieb zunächst seine Assistentin, dann auch die seines Nachfolgers, Fritz Eichler, schließlich aber kam sie nach dessen Emeritierung 1961 selbst zum Zuge.
Neunzehn Jahre lang blieb Hedwig Kenner Ordinaria für Klassische Archäologie an der Universität Wien (1961–1980). Sie brach allerdings mit der Tradition, dass das Ordinariat üblicherweise in Personalunion mit der Leitung des Österreichischen Archäologischen Instituts verbunden war, und überließ diese stattdessen Hermann Vetters.
Kenners Arbeitsgebiete waren die Deutung antiker Vasenbilder und Skulpturen sowie die ihr so wichtige Provinzialarchäologie, insbesondere die Interpretation antiker Wandmalereien (zum Beispiel von Virunum und dem Magdalensberg). Sie verfügte außerdem über eine herausragende Kenntnis des griechischen Dramas. Sie war seit Anbeginn der Grabung am Magdalensberg in Kärnten 1948 dabei. Unterstützt wurde sie dabei von ihrer Jugendfreundin Maria Schindler-Petsch. Kenner widmete sich hier den Problemen der antiken Religion, von lokalen Gottheiten bis zu den Göttern der Austria Romana.
In der Akademie, der sie seit 1968 als korrespondierendes Mitglied im Inland angehörte, leitete sie von 1975 bis 1991 die Kommission für das Corpus Vasorum Antiquorum und für das Corpus Signorum Imperii Romani als Obfrau. Daneben war sie Mitglied zahlreicher weiterer Kommissionen. Ebenso seit 1968 war sie korrespondierendes Mitglied des Deutschen und des Österreichischen Archäologischen Instituts. 1958 erhielt sie das Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, 1980 die Große Goldene Medaille für Verdienste um die Stadt Wien und 1983 das Große Goldene Ehrenzeichen für besondere Verdienste um das Land Kärnten, ebenso war sie Ehrenmitglied des Geschichtsvereins für Kärnten.
Hermann Vetters betonte anlässlich ihres 80. Geburtstags: „Ihr ausgeglichenes Wesen hat es mit sich gebracht, daß sie auch in schwierigen Situationen unter den Mitgliedern des Institutes stets vermittelnd gewirkt hat.“ Der Klassische Archäologe und Nachfolger Kenners an der Universität Wien Jürgen Borchhardt lobte sie als „außergewöhnlich[e] humanistisch[e] Persönlichkeit“.
(Sandra Klos, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, ÖAW)
Archiv der ÖAW
- Archiv der ÖAW, Personalakt Hedwig Kenner.
Literatur
- Verena Gassner: Zur Geschichte des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Wien: Forum Archaeologiae 17/XII/2000 (http://farch.net/, eingesehen am 18.10.2023).
- Kenner Hedwig Archäologin: biografiA (http://biografia.sabiado.at/kenner-hedwig/, eingesehen am 18.10.2023).
- Clara Kenner: Kenner, Hedwig, in: Brigitte Keintzel/Ilse Korotin (Hg.): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien/Köln/Weimar 2002, 363f.
- Katharina Kniefacz: Hedwig Kenner, o. Univ.-Prof. Dr. phil.: 650 plus – Geschichte der Universität Wien (https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/hedwig-kenner, eingesehen am 18.10.2023).
- Hadwiga Schörner: Hedwig Kenner als Assistentin an der Archäologischen Sammlung (1936–1945) und dem Archäologisch-Epigraphischen Seminar (1948–1951) der Universität Wien, in: Daniel Modl / Karl Peitler (Hg.): Archäologie in Österreich 1938–1945. Beiträge zum internationalen Symposium vom 27. bis 29. April 2015 am Universalmuseum Joanneum in Graz, Graz 2020, 122–137.
- Gudrun Wlach: Klassische Archäologie in politischen Umbruchszeiten. Wien 1938–1945, in: Mitchell G. Ash / Wolfram Niess / Ramon Pils (Hg.): Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus – das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 343–370.
AUDIO-AUFZEICHNUNGEN VON HEDWIG KENNER
Vortrag von Hedwig Kenner: "Die Herkulesstatuette vom Großglockner" - (phil.-hist. Klasse - Klassensitzung; Ausschnitt aus der Aufnahme B 32589, Phonogrammarchiv, ÖAW)
Vortrag von Hedwig Kenner: "Die Göttergruppe des Parthenon Ostfrieses" - (phil.-hist. Klasse - Klassensitzung; Ausschnitt aus der Aufnahme B 27226, Phonogrammarchiv, ÖAW)
Vortrag von Hedwig Kenner "Die trauernde Athena" (Ausschnitt aus der Aufnahme B 23832, Phonogrammarchiv, ÖAW)
CHRISTINE MOHRMANN (1903–1988) UND JACQUELINE DE ROMILLY (1913–2010)
CHRISTINE MOHRMANN (1903–1988) UND JACQUELINE DE ROMILLY (1913–2010)
CHRISTINE MOHRMANN UND JACQUELINE DE ROMILLY - FRAUEN ERSCHLIESSEN WEITE GEISTIGE RÄUME
Am 25. Mai 1948 wurde die weltberühmte, in Wien geborene Physikerin Lise Meitner als erste Frau zum Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Sie erhielt diese Ehrung als korrespondierendes Mitglied im Ausland der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse. Erst 20 Jahre später wurde diese Würdigung in der philosophisch-historischen Klasse Frauen zuteil. In der Sitzung vom 16. Mai 1968 wurden die beiden renommierten Klassischen Philologinnen Christine Mohrmann (1903‒1988) und Jacqueline de Romilly (1913‒2010) als korrespondierende Mitglieder im Ausland gewählt.
Damit reihten sie sich in einen noch sehr kleinen Kreis von Frauen ein, deren wissenschaftliche Leistung durch die Aufnahme als Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet wurden. Dieser Kreis bestand neben Lise Meitner, die noch im Oktober desselben Jahres verstarb, aus der Physikerin Berta Karlik (1904‒1990, gewählt 1954), der Physikochemikerin Erika Cremer (1900– 1996, gewählt 1964), beide korrespondierende Mitglieder im Inland der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse, sowie der Theaterwissenschaftlerin Margret Dietrich (1920– 2004, gewählt 1964) und der Medizinhistorikerin Erna Lesky (1911–1986, gewählt 1965, 1973 Ehrenmitglied), beide korrespondierende Mitglieder im Inland der philosophisch-historischen Klasse.
Die Wahl von Christine Mohrmann und Jacqueline de Romilly, ergänzt durch die Wahl der Klassischen Archäologin Hedwig Kenner (1910–1993) zum korrespondierenden Mitglied im Inland der philosophisch-historischen Klasse am selben Tag, bedeutete eine signifikante Erhöhung der Zahl der weiblichen Mitglieder an der Akademie, wenngleich diese – gemessen an der Zahl der männlichen Mitglieder – noch marginal war und das auch noch für längere Zeit bleiben sollte.
CHRISTINE MOHRMANN
Christine Mohrmann wirkte seit 1952 als Ordinaria für altchristliches Griechisch sowie altchristliches Latein und Mittellatein an der Katholischen Universität Nijmegen. Sie wurde am 1. August 1903 in Groningen geboren, besuchte dort und in Arnheim humanistische Gymnasien. Ihr Studium der Klassischen Philologie führte sie 1922 an die Universität Utrecht und 1923 an die Universität Nijmegen, wo sie 1932 mit einer Dissertation über „Die altchristliche Sondersprache in den Sermones des hl. Augustin“ cum laude promoviert wurde. Nach einer kurzen Tätigkeit als Gymnasiallehrerin konnte sie sich 1936 an der Universität Utrecht habilitieren, wurde 1942 zur außerordentlichen Professorin dortselbst und 1946 zur außerordentlichen Professorin für Vulgär- und altchristliches Latein und Mittellatein an der Universität Amsterdam ernannt. 1952 erhielt sie den Ruf als ordentliche Professorin an die katholische Universität Nijmegen. Sie war 1947 Mitbegründerin und langjährige Leiterin der Zeitschrift „Vigiliae Christianae“ und galt, basierend auf ihren viel beachteten Forschungen zur altchristlichen Latinität und ihrer Lehrtätigkeit, als spirtus rector der „Schule von Nijmegen“.
Als Gründe für die Aufnahme der niederländischen Philologin als Mitglied in die Akademie führten die Professoren Rudolf Hanslik, Albin Lesky und Herbert Hunger in ihrem Wahlvorschlag Mohrmanns internationale Position „als erste Kapazität auf dem Gebiet der Kenntnis der christlichen und mittelalterlichen lateinischen Sprache“ an und dass bei den großen internationalen Kongressen ihre Vorträge immer den Höhepunkt darstellten. Die Akademie erhoffte sich von ihrer Mitgliedschaft eine wertvolle Bereicherung für das Kirchenvätercorpus, die traditionsreiche Edition der Werke der lateinischen christlichen Schriftsteller der Spätantike.
JACQUELINE DE ROMILLY
Jacqueline de Romilly lehrte seit 1957 als Ordinaria für Gräzistik an der Universität Sorbonne in Paris. Geboren wurde sie am 26. März 1913 in Chartres als Tochter eines Philosophieprofessors und der Schriftstellerin Jeanne Maxime-David. Ihr Talent für die klassischen Sprachen offenbarte Jacqueline David bereits beim Concour général 1930, bei dem sie ein Laureat in Latein und den zweiten Preis in Griechisch erhielt. 1933 konnte sie das Studium an der École normale supérieure aufnehmen, das sie 1936 mit der Agrégation des lettres classiques abschloss.
1940 heiratete sie den Herausgeber Michel Worms de Romilly und wurde 1941 aufgrund der Bestimmungen der Judenstatute gezwungen, ihre Lehrtätigkeit aufzugeben. Diese konnte sie nach der Befreiung Frankreichs am Lycée de jeunes filles de Versailles 1944 wieder aufnehmen. 1947 wurde sie mit einer Dissertation über Thukydides promoviert und trat, diesem Forschungsschwerpunkt treu bleibend, in die vorderste Reihe der Thukydides-Forschung. Bereits 1949 wurde sie an die Universität Lille berufen, 1957 folgte ein Ruf an die Universität Sorbonne und 1974 die Berufung auf den Lehrstuhl „La Grèce et la formation de la pensée morale et politique“ am Collège de France, deren erste Professorin sie damit wurde.
In ihrem Wahlvorschlag würdigten die Professoren Rudolf Hanslik, Albin Lesky und Walther Kraus mit Blick auf Romillys umfangreiches Werk „eine hohe Kunst der Interpretation, die von der sorgfältigen Beobachtung des Wortes ausgeht und von ihr aus weite geistige Räume erschließt.“ Für eine Mitgliedschaft in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften würden sie zudem ihre engen Beziehungen zur angelsächsischen wissenschaftlichen Welt und ihr hohes internationales Ansehen prädestinieren. Unter den zahlreichen Ehrungen, die Jacqueline de Romilly für ihr Werk zuteil wurden, ist 1975 ihre Wahl zum ersten weiblichen Mitglied der Académie des incriptions et belles-lettres, zu deren Präsidentin sie 1987 erwählt wurde, hervorzuheben.
(Doris A. Corradini, Parlamentsarchiv Wien und Katja Geiger-Seirafi, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, ÖAW)
Elisabeth Lichtenberger (1925–2017)
Elisabeth Lichtenberger (1925–2017), Geographin, kMI 1976, wM 1987
Die 2009 verfasste Autobiographie von Elisabeth Lichtenberger (geschrieben in der dritten Person) beginnt mit folgendem Statement: „Elisabeth Lichtenberger war die erste Frau in Österreich, die ein Ordinariat für Geographie innehatte, die erste Frau ihres Faches, die zum wirklichen Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaft gewählt wurde, und sie war die erste Frau, die in die Kurie für Wissenschaft und Kunst aufgenommen wurde.“ Lichtenberger war also sichtlich eine selbstbewusste Forscherpersönlichkeit, die sich ihrer Rolle als Pionierin durchaus bewusst war.
Am 17. Februar 1925 wurde sie als Elisabeth Czermak in den „buchlosen Haushalt“ einer Zuwandererfamilie in Wien-Ottakring hineingeboren. 1945 inskribierte die ambitionierte Studentin an der Universität Wien die Fächer Geologie, Biologie, Geographie, Geschichte und Kunstgeschichte. Bereits ein Jahr später wurde sie studentische Hilfskraft am Institut für Geographie und 1948 bestand sie ihre Lehramtsprüfung für höhere Schulen in Geographie und Geschichte. Fortan lehrte sie auch in ihrer Rolle als wissenschaftliche Hilfskraft. Am 15. Juli 1949 wurde sie von Johann Sölch (Physische Geographie) mit einer Arbeit zur Morphologie der östlichen Gailtaler Alpen zum Dr. rer. nat. promoviert. Hiermit begann Czermak bereits Neuland zu betreten, denn dies war die erste morphologische Doktorarbeit einer Frau in Österreich.
1951 heiratete Czermak den AHS-Professor Johann Lichtenberger, mit dem sie in der Folge zwei Kinder hatte. Lange bevor Frauenförderpläne die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichterten und ein gesellschaftlicher Wandel die Mitverantwortung von Vätern stärkte, musste Elisabeth Lichtenberger also Karriere und Mutterschaft unter einen Hut bringen.
1955 wurde Lichtenberger Universitäts-, dann Oberassistentin bei Hans Bobek (Kulturgeographie) am Geographischen Institut der Universität Wien. Verglichen mit ihren männlichen Kollegen ungewöhnlich lange, nämlich 16 Jahre lang, sollte sie in dieser Assistentenposition verbleiben. Während dieser Zeit bekleidete sie einen Lehrauftrag an Bobeks Lehrstuhl für Kulturgeographie und es gelang ihr durch eine Reihe von Proseminaren, ganz Wien kartographisch zu erfassen. 1965 habilitierte sich Lichtenberger für das Gesamtgebiet der Geographie an der Universität Wien mit einer Arbeit über die Geschäftsstraßen Wiens. Drei Jahre lang verblieb sie in Wien als Universitätsdozentin am Geographischen Institut, bevor sie zwischen 1968 und 1972 als Gastprofessorin in Kent (Ohio), Ottawa und Erlangen forschte und unterrichtete. Während dieser Zeit wurde ihr 1971 der Titel eines „außerordentlichen Professors“ verliehen.
Schon im darauffolgenden Jahr wurde Lichtenberger als erste Frau in Österreich Ordinaria für Geographie. Sie vertrat daneben noch die von ihr selbst gegründeten Studienzweige Raumforschung und Raumordnung. Bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1995 verblieb sie Lehrstuhlinhaberin dieser Fächer am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Als erstem Thema widmete sie sich nun einer ihrer Herzensangelegenheiten, nämlich dem Thema Migrationsforschung. Inspiriert von ihrer eigenen Familiengeschichte, interviewte sie jugoslawische Gastarbeiter:innen in Wien – und betrat damit thematisch wie auch methodisch Neuland.
Seit den späten 1970er-Jahren engagierte sich Lichtenberger zunehmend an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Von 1977 bis 1983 war sie stellvertretende, von 1983 bis 1989 wirkliche Obfrau der ÖAW-Kommission für Raumforschung. Von 1989 bis 1992 war sie geschäftsführende Direktorin des neu gegründeten Instituts für Stadt- und Regionalforschung der ÖAW und anschließend Vorsitzende des Kuratoriums desselben Instituts.
Im Wintersemester 1987/88 war sie Gastprofessorin an der University of California, Berkeley, und widmete sich dort dem Thema der Obdachlosigkeit in Amerika. Von 1994 bis 1999 war sie Koordinatorin des FWF-Schwerpunktprogramms „Österreich, Raum und Gesellschaft“.
Lichtenberger ist Autorin von 20 Büchern und 230 Aufsätzen zu Themen wie der Gebirgsforschung, der Stadt- und Regionalforschung, der Humangeographie, der Raumplanung und der geographischen Transformationsforschung. Gemeinsam mit Hans Bobek veröffentlichte sie 1966 ein Standardwerk über die Stadt Wien, 1970 folgte ihr Ringstraßenbuch und 1977 ihre umfassende Darstellung der Wiener Altstadt. Das Thema begleitete sie über Jahrzehnte, bis 2002 ihr Opus magnum „Die Stadt. Von der Polis zur Metropolis“ erschien. Innovativ waren nicht nur ihre empirische Arbeitsweise, sondern vor allem auch ihr interdisziplinärer Zugang. So steht „Gelebte Interdisziplinarität“ auf dem Sammelband von Aufsätzen, der anlässlich ihres 70. Geburtstags herausgegeben wurde.
Auch an Ehrungen fehlte es Lichtenberger nicht. Um hier nur einige zu nennen: 1976 wurde sie korrespondierendes Mitglied im Inland der ÖAW, 1987 wirkliches Mitglied, 1991 wurde sie Mitglied der Academia Europaea in London, 1997 Fellow der British Academy, 1999 erhielt sie das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst und 1994 und 2002 erhielt sie Ehrendoktorate von den Universitäten Chicago und Leipzig. Laut ihrem Wahlvorschlag 1987 zum wirklichen Mitglied der ÖAW zählte sie „zu den international bekanntesten und geschätztesten Geographen des deutschen Sprachraums“.
Schließlich sei jedoch auch erwähnt, dass es eine Seite an Lichtenberger gab, die ihr wiederholt Kritik und Konflikte einbrachte. In der Glückwunschadresse des ÖAW-Präsidiums 2015 hieß es dazu, dass sich Lichtenberger „nicht hinter einer wissenschaftsfeindlichen Political Correctness versteckt“ habe. Dies wurde ebenso 2017 in ihrem Nachruf von Heinz Fassmann wiederholt. Schwerwiegender ist eine Anschuldigung, die Nobelpreisträger Eric Kandel 2006 in seiner Autobiographie gegen Lichtenberger erhob, nämlich dass sie sich ihm gegenüber bei einer Begegnung 2004 antisemitisch geäußert habe. Dieser Vorfall zog einige Pressemeldungen auch in Österreich nach sich.
Elisabeth Lichtenberger war sich ihrer Rolle als Mehrfachpionierin wohl bewusst. In der Fachwelt war sie geschätzt für ihre interdisziplinäre Arbeitsweise und ihr breites Spektrum an Themen, die von der Gebirgsforschung bis zu sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern reichte. Fragwürdige Aussagen, die sich nicht so leicht aus der Welt schaffen lassen, bezeugen allerdings auch die Schattenseiten ihrer Biographie.
(Sandra Klos, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, ÖAW)
Archiv der ÖAW
- Archiv der ÖAW, Personalakt Elisabeth Lichtenberger, Wahlvorschlag 1987; Glückwunschadresse 2015; Pressemitteilungen.
Literatur
- Elisabeth Aufhauser, Walter Matznetter: Lichtenberger Elisabeth, in: Brigitte Keintzel/Ilse Korotin (Hg.): Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien/Köln/Weimar 2002, 469–474.
- Doris Corradini, Sandra Klos, Brigitte Mazohl: Störfall Gender. Weibliche Mitglieder – wissenschaftliche Mitarbeiterinnen – Förderpolitik – Forschungsperspektiven, in: Johannes Feichtinger/Brigitte Mazohl (Hg.): Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte, Bd. 3, Wien 2022, 63–175, insb. 92f.
- Veronika Duma: Frauenkarrieren in der Männerwelt: Möglichkeiten, Ausschlüsse und Vertreibung. Zu den ersten zehn weiblichen Mitgliedern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, in: Geistes- sozial- und kulturwissenschaftlicher Anzeiger 155/1+2 (2020), 63–110, insb. 83–87.
- Heinz Fassmann: Nachruf auf Elisabeth Lichtenberger, in: Almanach der ÖAW 167 (2017), 363–369.
- Doris Helmberger: „Ich bin eine Rösselspringerin“, in: Die Furche, 19.5.2005 (https://www.furche.at/gesellschaft/ich-bin-eine-roesselspringerin-1274081, eingesehen am 18.10.2023).
- Eric R. Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung der neuen Wissenschaft des Geistes. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober, München 2007 [Englisches Original 2006].
- Elisabeth Lichtenberger: Autobiographie, 15.6.2009 (https://www.ae-info.org/attach/User/Lichtenberger_Elisabeth/CV/E-Lichtenberger-Autobiographie.pdf, eingesehen am 18.10.2023).
- Lichtenberger Elisabeth, Geografin: biografiA (http://biografia.sabiado.at/lichtenberger-elisabeth/, eingesehen am 18.10.2023).
- Gerhard Oberkofler: Bemerkungen zur Wahlpolitik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften nach 1945, in: Alfred Klahr Gesellschaft Mitteilungen 19/3 (2012), 1–10.
AUDIO-AUFZEICHNUNGEN VON ELISABETH LICHTENBERGER
"Österreich zu Beginn des 3. Jahrtausends" - Vortrag und Pressekonferenz von Elisabeth Lichtenberger (Ausschnitt aus der Aufnahme B 32643, Phonogrammarchiv, ÖAW)
"Stadtverfall in Wien" - Pressekonferenz unter der Leitung von Elisabeth Lichtenberger (Ausschnitt aus der Aufnahme B 32587, Phonogrammarchiv, ÖAW)
Vortrag von Elisabeth Lichtenberger: "Raum und Gesellschaft" (Ausschnitt aus der Aufnahme B 30833, Phonogrammarchiv, ÖAW)
Vortrag von Elisabeth Lichtenberger: " Die europäische und die nordamerikanische Stadt. Ein kultureller Vergleich - (Gesamtsitzung; Ausschnitt aus der Aufnahme B 27968, Phonogrammarchiv, ÖAW)