04.07.2022 | Large Hadron Collider

Die größte Maschine der Welt nimmt wieder Fahrt auf

Der Teilchenbeschleuniger am CERN bei Genf wird nach einem umfassenden Upgrade mit noch höheren Energien auf die Suche nach neuen Bausteinen der Materie gehen. Der bisher größte Erfolg der „Weltmaschine“ war die Entdeckung des Higgs-Bosons vor zehn Jahren. Auch Teilchenphysiker/innen der ÖAW sind am Neustart des Beschleunigers beteiligt.

Der Large Hadron Collider soll bis 2038 laufen und neue Erkenntnisse über das Higgs-Boson bringen. © 2021 CERN/ Samuel Joseph Hertzog

„Es war ein unglaubliches Erlebnis, bei diesem Ereignis dabei zu sein. Ich war noch ein junger Forscher, als wir kurz nach der Inbetriebnahme des Large Hadon Collider die ersten Signale sahen.“ So beschreibt Robert Schöfbeck vom Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) den Tag, an dem die Physiker/innen am europäischen Kernforschungszentrum CERN zum ersten Mal einem neuen Elementarteilchen auf die Spur kamen. Im Juli 2012 gab es dann die Gewissheit und eine Weltsensation: Die Entdeckung des Higgs-Bosons, die ein Jahr später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Nun wird am 4. Juli 2022 am CERN der zehnte Jahrestag der Entdeckung gefeiert. Und nicht nur das: Einen Tag später startet der oftmals als „Weltmaschine“ bezeichnte Large Hadron Collider (LHC) seinen dritten Anlauf, um neue Mysterien des Universums zu lüften. Im Jubiläumsinterview erklärt Robert Schöfbeck, der am Institut für Hochenergiephysik der ÖAW die Analyse der Daten des CMS-Detektors am LHC leitet, was das Higgs-Teilchen für die Physik bedeutet und warum es auch in Zukunft eine große Rolle spielen könnte.

DER ANFANG VOM HIGGS-BOSON

Vor zehn Jahren wurde die Entdeckung des Higgs-Bosons verkündet. Was hat das für die Physik bedeutet?

Robert Schöfbeck: Es war ein unglaubliches Erlebnis, bei diesem Ereignis dabei zu sein. Ich war noch ein junger Forscher, als wir kurz nach der Inbetriebnahme des LHC 2010 die ersten Signale sahen. Mit der Entdeckung haben wir eine große Lücke im Standardmodell, unserer grundlegendsten Beschreibung der Natur, geschlossen. Die einzig mögliche, mathematisch konsistente Antwort auf die Lücke war, dass das ganze Universum von einem Feld durchdrungen sein muss. Durch Wechselwirkung mit diesem Feld erhalten alle Elementarteilchen ihre Masse. Dieses Feld wollten wir im LHC anregen, was sich als die Erzeugung eines neuen Teilchens manifestieren würde: Das war dann schlussendlich das Higgs-Boson. 

Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons haben wir eine große Lücke im Standardmodell, unserer grundlegendsten Beschreibung der Natur, geschlossen.

Die Theorie hatte die Richtung also schon recht genau vorgegeben?

Schöfbeck: Das war ein fundamental neuer Ansatz. Das ganze Gebäude war nur sinnvoll, wenn wir ein Higgs-Teilchen mit einer Masse zwischen 114 Gigaelektronenvolt (GeV) und 1 Teraelektronenvolt (TeV) finden würden. Am Ende sind wir dann tatsächlich bei 125,09 GeV fündig geworden. Das war nur möglich, weil wir mit dem LHC durch die hohe Kollisionsenergie einen ganz neuen Massenbereich erkunden konnten.

War sofort klar, dass das gefundene Signal nur vom Higgs-Boson stammen kann?

Schöfbeck: Das es genau diese Masse hat, hat sich als großes Glück herausgestellt, weil wir hier von Beginn an zwei unabhängige Zerfallskanäle messen konnten. Das Higgs zerfiel entweder in zwei Photonen oder in vier Myonen. Der Photonenzerfall liefert uns eine hohe Zahl von Ereignissen bei hohem Hintergrundrauschen, der Myonenkanal ist sehr selten aber bei sehr geringem Hintergrundrauschen. Weil wir beide Kanäle unabhängig messen konnten, war sich die Community sehr schnell sicher, dass wir das Higgs gefunden hatten. So konnten wir nämlich alle wichtigen Eigenschaften – zum Beispiel, dass es sich um ein drehimpulsloses Spin-0-Teilchen handelt – nachweisen. Als Wissenschaftler muss man immer zweifeln, weil die Welt probabilistisch ist, aber die Gewissheit war schon sehr hoch.

1.000 PUBLIKATIONEN IN 10 JAHREN

Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons hat der LHC sehr früh eine Sternstunde erlebt. Was ist in den zehn Jahren seither passiert?

Schöfbeck: Dass das Higgs eine Masse von 125 GeV hat, erlaubt eine Vielzahl von Messungen im für den LHC zugänglichen Bereich. Wäre die Masse bei 800 GeV gelegen, wäre das nicht so. In den zehn Jahren seit der Entdeckung haben wir viele neue mögliche Zerfallskanäle gefunden, etwa in Z- oder W-Bosonen. Unser Team in Wien war zuletzt 2018 führend an einem Paper beteiligt, das einen Tau/Tau-Zerfall beschreibt, bei dem zwei Tau-Leptonen entstehen. Jeder dieser Zerfallskanäle erlaubt uns neue Messungen, die subtile neue Informationen über die Eigenschaften des Higgs-Bosons verraten. Wir haben uns natürlich über den Nobelpreis für die Theoretiker gefreut, der mit der Entdeckung des Higgs-Bosons einherging, aber für uns Experimentatoren ging es immer um die Messungen.

Um die größere Zahl an Kollisionen verarbeiten zu können, haben wir neue Siliziumsensoren entwickelt. Die liefern dann fünf- bis sechsmal so viele Daten, wie bisher.

Die interessantesten Entdeckungen kamen also nach der Bestätigung des Higgs-Bosons?

Schöfbeck: Ein Higgs-Boson kann am LHC auf verschiedene Arten erzeugt werden, etwa durch die Fusion von Gluonen oder zusammen mit anderen Teilchen wie zum Beispiel zwei Top-Quarks. Das Top-Quark ist mit 172 GeV das schwerste Teilchen im Standardmodell und koppelt deshalb am stärksten an das Higgs-Feld. Die Messung der Kopplungsstärke und, unabhängig davon, der Masse des Top-Quarks hat uns einen weiteren Beleg für den Higgs-Mechanismus geliefert, der diese beiden Größen verbindet. Alle über 1.000 Papers, die bisher am LHC publiziert wurden, enthalten neue Messungen und jede davon bietet die Möglichkeit, etwas Neues über das Standardmodell zu lernen. Diese Wechselwirkungen geben auch Aufschluss darüber, was kurz nach dem Urknall passiert ist.

LHC LÄUFT BIS 2038

Am 5. Juli wird der LHC für seine 3. Runde hochgefahren. Wird das die letzte sein?

Schöfbeck: Der Plan sieht vor, dass wir bis 2038 mindestens fünf Laufphasen haben werden. Derzeit haben wir erst etwa fünf Prozent der Daten, die wir am Ende haben wollen. In zukünftigen Runden werden wir mit dem High Luminosity-Update die Protonenwolken, die im LHC beschleunigt werden, näher zusammenrücken. Dadurch wird die Auflösung für einige Prozesse schlechter, aber sehr seltene, spektakuläre Ereignisse können wir dann genauer untersuchen, weil sie eben häufiger gemessen werden können. Um die größere Zahl an Kollisionen verarbeiten zu können, müssen wir erst die Detektoren verbessern. Deshalb haben wir neue Siliziumsensoren entwickelt, die das hinkriegen. Die liefern dann fünf- bis sechsmal so viele Daten, wie bisher. Das erklärt auch, warum wir heute erst einen so kleinen Teil der gesamt erwarteten Daten haben.

Nur eine von 10 Milliarden Kollisionen im Teilchenbeschleuniger ist energiereich genug, um spannende Einblicke zu gewähren.

Was wurde für die dritte Runde am Beschleuniger geändert?

Schöfbeck: Die wichtigste Verbesserung ist die Erhöhung der Energie von 13 auf 13,6 TeV. Das haben wir geschafft, indem wir die supraleitenden Magnete besser trainiert haben. Ob wir auf diesem Weg noch mehr rausholen können, ist aber noch ungewiss, das entscheidet sich im Zuge des nächsten größeren Updates nach dem dritten Run. Die 13 TeV beziehen sich auf die Protonenkollisionsenergie. Was wir eigentlich untersuchen, sind aber die Kollisionen der Bestandteile der Protonen, also zwischen Quarks und Gluonen. Für diese Zusammenstöße ist der Impuls nie höher als 7 TeV. Schon dass ein Quark einen Impuls von mehr als 1 TeV hat, ist aber sehr selten. Die meisten Ereignisse sind daher uninteressant, weil es nur zu winzigen Impulsübertragungen kommt. Nur eine von 10 Milliarden Kollisionen ist energiereich genug, um spannende Einblicke zu gewähren.

WAS KOMMT ALS NÄCHSTES?

Was erhoffen sich die Forscher vom dritten Anlauf?

Schöfbeck: Die dritte Runde kann mehrere Voraussagen des Standardmodells bestätigen, etwa die Erzeugung von vier Top-Quarks. Wenn sich ein etwas erhöhtes Messergebnis der ATLAS-Kollaboration für die Rate dieses Prozesses bestätigt, könnte es ein Hinweis auf neue, noch unbekannte Naturkräfte sein. Oder wir könnten herausfinden, dass der Higgs-Sektor komplizierter ist, als wir bisher annehmen. Das Higgs-Boson selbst könnte ein zusammengesetztes Teilchen sein. Bis wir das mit Messungen bestätigen können, ist das aber alles Spekulation. Wir messen unabhängig und testen auf Naturkräfte zwischen Teilchen, die bisher nicht zugänglich waren. Das könnte vielleicht auch einen Hinweis auf die Natur der dunklen Materie liefern. 

Was kommt nach dem LHC?

Schöfbeck: Das Higgs ist im Standardmodell ein ganz spezielles Teilchen und von zentraler Bedeutung. Die European Strategy for Particle Physics sieht deshalb eine Higgs-Factory vor, eine Maschine, die Higgs-Bosonen in großer Zahl produziert. Wie wir das erreichen, ist aber noch offen. Möglich wäre ein größerer Hadronenbeschleuniger mit 100 TeV mit 100-Kilometer-Tunnel, oder CLIC, ein linearer Elektronen/Positronen-Beschleuniger. Exotischere Konzepte gibt es für Myonenbeschleuniger, das wäre wissenschaftlich hochinteressant, aber es ist noch nicht einmal sicher, ob das grundsätzlich möglich ist.

 

AUF EINEN BLICK

Robert Schöfbeck ist Gruppenleiter am Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Dort leitet er die CMS Analyse. CMS steht für Compact-Muon-Solenoid-Experiment und ist ein Teilchendetektor am Large Hadron Collider (LHC) am CERN in der Schweiz.