02.06.2022 | Epigenetik

"Altern ist keine Krankheit, sondern der unvermeidbare Gedächtnisverlust in Zellen"

Zellen in komplexen Organismen speichern Informationen über ihre Identität. Was passiert, wenn dieses Gedächtnis mit zunehmendem Alter verblasst, erforscht die Molekularbiologin Susan Gasser, die zu diesem Thema eine Tuppy Lecture von ÖAW und Universität Wien hält.

Visualisierung menschlicher Zellen © Shutterstock

Susan Gasser forscht am Friedrich-Miescher-Institut in Basel zu der Frage, wie menschliche Zellen darauf vorbereitet werden, in unserem Organismus spezielle Aufgaben zu übernehmen. Die Molekularbiologin hält am 13. Juni auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien die 7. Hans Tuppy Lecture mit dem Titel “Remembering who we are: how chromatin controls cell identity”. Im Interview spricht sie über den Kampf gegen das Altern und die Komplexität in der Biologie.

Die Biologie ist sehr komplex geworden. Muss ich mich vom einfachen Bild der DNA als Bauplan des Organismus verabschieden? 

Susan Gasser: Zuerst müssen wir festhalten: Ohne Komplexität wären wir nur Roboter und es gäbe keine individuellen Unterschiede. Daher ist die Komplexität in der Biologie gut! Nun zu Ihrer Frage: Es liegt sehr wohl ein Bauplan für jeden Organismus in seiner DNA, aber der wird von verschiedenen Zelltypen innerhalb des Körpers jeweils in ihrer eigenen Sprache interpretiert. Darüber hinaus gibt es epigenetische Einflüsse, die nicht in den Genen selbst gespeichert sind, sondern in den Verbindungen und der Modifikation von DNA-gebundenen Proteinen. Diese regulieren, welche Teile des Erbguts aktiv oder inaktiv sind, um die Vielfalt der Zellen aus denen unser Körper besteht, zu programmieren.

Sie arbeiten mit Chromatin. Was versteht man darunter?

Gasser: Die Mischung von Proteinen und DNA bildet das Chromatin, jenes Material, aus dem die Chromosomen bestehen. Die Organisation des Chromatins beeinflusst, wie der Bauplan gelesen wird. Äußere Einflüsse wie Stress können die Struktur des Chromatins und damit auch das Programm für die Expression von Genen ändern.

Gleiche Zellen - unterschiedliche Rollen

Woher weiß eine Zelle, welche Rolle sie in einem Organismus übernehmen muss?

Gasser: Alle Zellen eines Organismus haben dieselbe DNA, aber mitunter sehr unterschiedliche Eigenschaften und Funktionen. Um diese Differenzierung aufrecht zu halten, muss jede Zelle Information über ihre Identität speichern. Wir erforschen, wie das funktioniert. Die räumliche Struktur des Erbguts und chemische Modifikationen der Proteine an der DNA spielen hier eine wichtige Rolle. Am Ende entscheidet das in der Chromatinstruktur gespeicherte Schaltprogramm für das Erbgut, in Wechselwirkung mit der Umwelt, über das Schicksal einer Zelle. 

Kann ich mir die DNA wie eine Speisekammer vorstellen, mit dem epigenetischen Programm als Kochrezept?

Gasser: Das trifft es ungefähr. Es gibt einen Vorrat potenzieller Zutaten, die aber nicht alle sofort verfügbar sind. Diese Zutaten müssen dann exakt in der richtigen Kombination, Menge und Reihenfolge verarbeitet werden, damit eine Zelle funktionieren kann. Wir untersuchen im Labor, was passiert, wenn wir Zellen umprogrammieren oder wenn sie altern. Es stellt sich heraus, dass das Kochrezept mit der Zeit zerfällt. Die Speisekammer ist in Form der DNA noch da, aber das epigenetische Rezept der Zellen verblasst langsam, wodurch das betroffene Gewebe an Integrität verliert, also altert.

Das Kochrezept ist ein sehr einfaches Bild. Wo stößt man damit an die Grenzen?

Gasser: Genauso wichtig wie die verwendeten Gene sind jene, die nicht genutzt werden. Chromatin kann die Expression von Genen nicht nur positiv beeinflussen, sondern auch unterdrücken. Dieser Mechanismus stellt sicher, dass kein ungeeignetes Protein in einer Zelle produziert wird, damit zum Beispiel eine Leberzelle keine Proteine macht, die exklusiv für Nervenzellen gedacht sind. Die Proteine im Chromatin, auf die die DNA aufgewickelt ist, heißen Histone. Durch die chemische Modifikation der Histonproteine merkt sich die Zelle das passende Rezept und kann so die gewünschte Funktion erfüllen.

Ein- und Ausschalten von Genen

Gibt es noch andere Faktoren, die die Genexpression beeinflussen?

Gasser: Die Modifikationen der Histone fungieren als Marker für das Expressionsprogramm. Entscheidend dafür, wo diese Markierungen sein sollen, sind andere an die DNA bindende Proteine, die sogenannten Transkriptionsfaktoren. Diese können einen Dominoeffekt auslösen, indem sie andere Transkriptionsfaktoren oder Gene aktivieren oder unterdrücken. Das Einschalten von Genen braucht die dauernde Präsenz von Transkriptionsfaktoren, während das Ausschalten von Genen vor allem durch das Chromatin aufrechterhalten wird. 

Wie weiß eine Zelle bei ihrer Entstehung, zu welcher Gewebeart sie gehört?

Gasser: Wenn eine Zelle sich erstmals differenziert, geschieht die Programmierung in erster Linie über Transkriptionsfaktoren. Danach kommt das Chromatingedächtnis hinzu, um die Zellfunktionen aufrechtzuerhalten. 

Ist das Rezept im Chromatin statisch?

Gasser: Die Struktur kann geändert werden und sie zerfällt durch den Alterungsprozess oder durch extremen Stress. Epigenetik ist keine strikte Programmierung, sondern reversibel. Es gibt einen komplexen Hilfsstoffwechsel, der die chemischen Modifikationen des Chromatins und damit das Gedächtnis reguliert. Wenn eine Zelle mit Nährstoffmangel konfrontiert ist, bewirkt das Änderungen im Rezept. Die Zelle kann sich so praktisch an den durchlebten Hunger erinnern. Chemische und andere Umweltbelastungen können die Chromatinstruktur ebenfalls beeinflussen.

Die Umwelt beschleunigt das Altern

Wie hängt das mit dem Altern zusammen?

Gasser: Mit der Verschlechterung des Gedächtnisses der Zellen verliert ein Gewebe oder Organ seine Integrität. Das heisst, dass die falschen Gene exprimiert werden können, weil epigenetische Modifikationen verlorengehen und meistens nicht die richtigen Transkriptionsfaktoren da sind, um das Programm wiederherzustellen. Wenn wir isoliert von Umwelteinflüssen leben könnten, würde das Programm länger halten und wir würden langsamer altern. Die DNA selbst nimmt zwar auch Schaden, aber es ist vor allem das Gedächtnis der einzelnen Zelltypen, das mit der Zeit zerfällt. 

Können wir das Zellgedächtnis nutzen, um länger zu leben?

Gasser: Altern ist keine Krankheit, sondern der unvermeidbare Gedächtnisverlust in Zellen, der selbst vorprogrammiert ist. Jede Tierart hat eine bestimmte Lebensspanne. Deshalb sterben Menschen nicht mit 25 an Altersschwäche. Mäuse werden im Schnitt zwei Jahre alt und Elefanten 60. Das Altern funktioniert dabei fast überall gleich: Es ist ein Integritätsverlust in den Geweben, die ihre Aufgaben mit der Zeit immer schlechter wahrnehmen können. Hauptursache ist der Verlust der chromatinvermittelten Programmierung, also der Gedächtnisverlust der Zellen. Diese Programmierung wird vom Stoffwechsel und der Umwelt beeinflusst.

Wie universal ist das Chromatingedächtnis?

Gasser: Diese grundlegenden Mechanismen sind für alle vielzelligen Lebewesen konserviert. Deshalb bin ich ein großer Fan der Forschung an Modellorganismen. An Menschen können wir keine Altersstudien machen, sie leben viel zu lange und zudem sind genetische Experimente mit Menschen verboten. Aber Fliegen und Würmer bestimmen ihre Zellprogrammierung ähnlich wie Menschen und sie verlieren sie – wenn auch schneller – größtenteils nach den gleichen Regeln. 

Ist das Altern eines Organismus nur vom Zellgedächtnis abhängig?

Gasser: Es gibt sicher andere Einflüsse, aber darüber wissen wir noch zu wenig. Der Zerfall des Gedächtnisses der Zelle ist ein evolutionär konservierter Mechanismus, durch den die Integrität des Genexpressionsprogramms abnimmt und damit schwindet gleichzeitig die Integrität der Gewebe. Die meisten typischen Alterserscheinungen, wie graue Haare, Muskelschwund, Gewichtsabnahme und Gedächtnisschwächen, lassen sich wenigstens teilweise auf diesen Mechanismus zurückführen. 

Wie kann man das Rezeptgedächtnis der Zellen schützen?

Gasser: Wir wissen, dass Sport, ausreichender Schlaf und eine gesunde, wohldosierte Ernährung gut für die Aufrechterhaltung des Zellgedächtnisses sind. Die klassischen Gesundheitstipps also, die ohnehin jeder befolgen sollte. Dank der Komplexität der Biologie und unserer Zellen ist es unwahrscheinlich, dass wir ein Zaubermittel gegen das Altern finden. Einen generellen Integritätsverlust über alle Gewebe des Körpers hinweg werden wir nicht mit einem Medikament aufhalten können, auch wenn viele Leute das vielleicht gerne hätten. Ich bin aber ohnehin nicht sicher, ob das Verlängern der menschlichen Lebensspanne erstrebenswert wäre. Vielleicht sollten wir lieber dafür sorgen, dass wir einfach gesünder alt werden.

 

Auf einen Blick

Susan M. Gasser ist eine der weltweit führenden Epigenetikerinnen. Sie ist Professor invité an der Universität Lausanne und Direktorin der ISREC (Swiss Institute for Experimental Cancer Research) Foundation.

Die „Hans Tuppy-Lectures“ sind eine gemeinsam von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien ins Leben gerufene Vortragsreihe, bei der Wissenschaftler/innen zu Wort kommen, die einen bahnbrechenden Beitrag auf dem Gebiet der Biochemie oder Molekularbiologie geleistet haben.

Der Vortrag „Remembering who we are: how chromatin controls cell identity“ findet am 13. Juni 2022 um 18:00 Uhr an der Universität Wien, Biologiegebäude, Hörsaal 1, Djerassiplatz 1, 1030 Wien statt.