03.09.2020

Interview: Neutrale Wissenschaft trotz Fake News?

Helge Torgersen geht gemeinsam mit Linda Nierling in einem neuen Buch der Frage nach, wie Technikfolgenabschätzung in Zeiten von Missinformation und Fake News gleichzeitig neutral bleiben und demokratische Strukturen stärken kann.

Der Molekularbiologe Helge Torgersen beschäftigte sich am ITA intensiv mit Kontroversen rund um die Biotechnologie. (Foto: T. Bayer / ITA)

Helge Torgersen, der bis 2019 am Institut für Technikfolgenabschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) tätig war, und Linda Nierling (Karlsruher Institut für Technologie – ITAS-KIT) sind Herausgeber des Buches „Die neutrale Normativität der Technikfolgenabschätzung“, erschienen im Juli 2020 im Nomos Verlag.

Herr Dr. Torgersen, wie Expert*innen im Zusammenspiel mit der Politik in Zeiten von Fake News und Halbwahrheiten neutral bleiben sollen, beschäftigt nicht nur die europäische wissenschaftliche Community. Gerade jetzt im Zusammenhang mit der Coronakrise oder auch mit großen gesellschaftlichen Fragen wie dem Klimawandel und der Digitalisierung wird klar, wie wichtig es ist, dass Politik und Wissenschaft sinnvoll interagieren. Dabei geht es aber nicht nur um Wissen, sondern auch um Werte. Daher brennt die Frage, welche Werte die Technikfolgenabschätzung vertreten soll, doch mehr denn je.

Helge Torgersen: Die Frage spitzte sich bereits auf der ITA-Konferenz 2018 zu, als der belgische Politologe Pierre Delvenne die Neutralität von Technikfolgenabschätzung (TA) in Frage stellte. TA solle endlich „Farbe“ bekennen als Instrument einer liberalen, aufgeklärten und nach sozialer Gerechtigkeit strebenden parlamentarischen Demokratie. Da müssen wir uns fragen, ob das auch in anderen Ländern möglich ist, die eine solche Tradition nicht haben.

Bei der Technikfolgenabschätzung geht es ja eigentlich darum, dass Expert*innen die gesellschaftlichen Folgen einer Technologie untersuchen, und dieses Wissen der Politik zur Verfügung stellen. Soll die Politik dann damit machen, was sie will, ist TA also nur eine unbeteiligte „Zubringerin“ von Fakten?

Helge Torgersen: Die meisten in der TA Community sind sich einig, dass das zu wenig ist, denn TA zieht in ihrer Arbeit immer auch das Gemeinwohl in Betracht. Das kann aber in unterschiedlichen Zusammenhängen jeweils etwas anderes bedeuten. Außerdem, wenn TA auch global funktionieren soll, muss sie sich den nationalen Bedingungen anpassen, aber gleichzeitig die jeweiligen gesellschaftlichen Interessen nicht aus den Augen verlieren. Im Buch haben wir dazu einen spannenden Beitrag von indischen Forscher*innen, der sehr gut beschreibt, wie komplex TA wird, wenn eine Vielzahl an Wertevorstellungen innerhalb einer Gesellschaft vorhanden sind. In Indien etwa, wie in anderen Teilen der Welt, war Wissenschaft lange in der Hand kolonial beeinflusster kultureller Eliten und wurde als etwas den Vorstellungen traditionell geprägter gesellschaftlicher Kreise Entgegengesetztes betrachtet. Wie können also Wirtschaft und Gesellschaft vom technischen Fortschritt profitieren, wenn innerhalb eines Landes so große ökonomische, soziale und moralische Unterschiede existieren?

Ist die TA damit ein „Werte-Watchdog“?

Helge Torgersen: Die Beschäftigung mit Werten ist Sache der Ethik, und Ethik spielt ganz sicher eine Rolle, wenn wir die Folgen von Technologien analysieren. Meist fallen einem dabei Reproduktionstechnologien ein, aber auch alle Biotechnologien, also alles, was mit dem Versuch zu tun hat, Leben zu beeinflussen. Nicht alle Technologien berühren aber Wertfragen in gleicher Weise. Elektroden für Brennstoffzellen zum Beispiel rufen weniger heftige Gefühle hervor. Aber auch im Zusammenhang mit der Digitalisierung gibt es viele ethische Fragen, etwa um den Schutz der Privatsphäre, um Datenschutz allgemein oder auch um Arbeitsverhältnisse.

Kann Technikfolgenabschätzung hier überhaupt neutral bleiben?

Helge Torgersen: Das Konzept der „verantwortungsvollen Forschung und Innovation“ (RRI), das der TA ja sehr nahe steht, verneint das tendenziell. Auch eine Forschung, die partizipative Aspekte mit einbezieht, das heißt, die eine Gruppe von Bürger*innen fragt, wie sie bestimmte technische Entwicklungen gestalten würden, kann das nicht, da die Interessen der Gruppe ja in die Forschungsergebnisse einfließen. Was die TA sehr wohl kann ist, den derzeitigen Wissensstand zu beschreiben. Das ITA hat dies zuletzt etwa in der Studie zu „5G und Gesundheit“ für das österreichische Parlament getan. Dabei wurde beschrieben, was wir über die Folgen von Mobilfunkstrahlung wissen – und vor allem, was wir nicht wissen. Die Autor*innen haben der Politik außerdem Wege aufgezeigt, wie mit diesem Nicht-Wissen umgegangen werden kann. Die Technikfolgenabschätzung kann den parlamentarischen Prozess also auf mehrere Arten unterstützen, wesentlich dabei ist aber, den Prinzipien treu zu bleiben, auf denen sie aufbaut – nämlich denen einer liberalen, aufgeklärten und nach sozialer Gerechtigkeit strebenden Demokratie.   (DR)