12.04.2022 | Ukraine

„Die Kiewer Rus waren ein multiethnisches Reich“

Wladimir Putin leitet seinen Anspruch auf die Ukraine aus einer gemeinsamen Geschichte ab. Die Kiewer Rus waren im Mittelalter ein osteuropäisches Großreich. Aber woher kamen diese Rus? Und wer lebte schon vorher dort? Der ÖAW-Historiker Johannes Preiser-Kapeller über ein frühes multiethnisches Reich, das zu Unrecht instrumentalisiert wird.

Oleg von Kiew auf seinem Feldzug gegen Konstantinopel 907. Er verlegte das Herrschaftszentrum der Rus von Nowgorod nach Kiew.
Oleg von Kiew auf seinem Feldzug gegen Konstantinopel 907. Er verlegte das Herrschaftszentrum der Rus von Nowgorod nach Kiew. © Wikimedia Commons

Wladimir Putin sieht Russland und die Ukraine als historische Einheit. Der russische Staatschef leitet seinen Anspruch auf diese Region aus der Geschichte ab, indem er sich auf die sogenannte Kiewer Rus bezieht, ein osteuropäisches Großreich, das im Mittelalter entstanden ist.

Aber ist diese These tatsächlich haltbar? „Die Kiewer Rus waren ein multiethnisches Reich. Dieser komplexe Befund wird aber vereinfacht in einer Erzählung, dass dies schon ein 'nationalrussischer' Staat im heutigen Sinn war“, sagt der Historiker Johannes Preiser-Kapeller vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW): „Moskau entsteht als eigenes Fürstentum erst im 12. Jahrhundert und steigt dann im 14. und 15. Jahrhundert zur Vormacht im Nordosten des ehemaligen Gebiets der Rus auf. Um diese Expansion zu legitimieren, wird die Erzählung entwickelt, Moskau sei die einzig legitime Fortsetzung der Rus und müsse alle 'russischen' Länder einsammeln.“

Skandinavier statt Russen

Seit wann ist das Gebiet der heutigen Ukraine bewohnt?

Johannes Preiser-Kapeller: Besiedelung gibt es seit Jahrtausenden, wobei der Süden der Ukraine zum eurasischen Steppengürtel gehörte. Bis ins 18. Jahrhundert lebten dort vor allem nomadische Gruppen, die verschiedene Reiche gründeten. Erst ab der Eroberung unter Katharina der Großen im späten 18. Jahrhundert wurden diese Gebiete in das Ackerland umgewandelt, wie wir es heute kennen.

Bei den „Rus“ handelte sich um Kaufleute und Krieger aus dem heutigen Skandinavien, vor allem Schweden.

Putin bezieht sich auf die Kiewer Rus als gemeinsame Ursprungslegende von Russland und der Ukraine. Was ist darunter zu verstehen?

Preiser-Kapeller:Die Kiewer Rus waren ein multiethnisches Reich. Es gab darin neben slawischsprachigen Ethnien auch Gruppen, die eine finno-ugrische Sprachen hatten, oder turksprachige Nomaden. Dieser komplexe Befund wird aber vereinfacht in einer Erzählung, dass dies schon ein „nationalrussischer“ Staat im heutigen Sinn war. In dieser Sicht kommt der heutigen Ukraine, aber auch Belarus, nur die Rolle von durch Zufällen der Geschichte abgespaltenen Teilen der größeren „russischen Welt“ zu, die quasi von Natur aus zusammengehören würden unter der Führung Moskaus. Damit wird Geschichte für heutige Zwecke uminterpretiert und instrumentalisiert.

Und woher kamen diese Kiewer Rus?

Preiser-Kapeller: Es handelte sich um Kaufleute und Krieger aus dem heutigen Skandinavien, vor allem Schweden, die über die Flüsse Osteuropas versuchten, Verbindung zu den damals reichsten Regionen Eurasiens aufzunehmen. Diese „Rus“ erlangten die Oberhoheit über Gruppen ostslawischer Sprache. Wie in der Normandie in Frankreich, wo Normannen im 10.  Jahrhundert ein Gebiet eroberten und nach ein paar Generationen Französisch sprachen, begannen auch die Rus, die slawische Sprache anzunehmen. Seit dem 18. Jahrhundert und bis heute ist dieses Szenario allerdings stark umstritten innerhalb der nationalrussischen Geschichtsforschung, weil man die Vorstellung ablehnte, die Staatsgründer seien quasi aus Schweden gekommen – einem Land, mit dem man mehrfach Krieg um den Zugang zur Ostsee führte.

Vielfalt im postsowjetischen Raum

Auch das heutige Russland ist ein Vielvölkerstaat. Ist dieses einheitliche Staatsdenken nicht immer ein Mythos?

Preiser-Kapeller: Dieser Vielfalt im postsowjetischen Raum wird der nationalrussische Diskurs nicht gerecht. Moskau entsteht als eigenes Fürstentum erst im 12. Jahrhundert und steigt dann im 14. und 15. Jahrhundert zur Vormacht im Nordosten des ehemaligen Gebiets der Rus auf. Um diese Expansion zu legitimieren, wird die Erzählung entwickelt, Moskau sei die einzig legitime Fortsetzung der Rus und müsse alle „russischen“ Länder einsammeln. In dieser Tradition steht auch die Geschichtsinterpretation der aktuellen Führung Russlands.

Um Expansion zu legitimieren, wird die Erzählung entwickelt, Moskau sei die einzig legitime Fortsetzung der Rus und müsse alle „russischen“ Länder einsammeln.

Die Rolle der nomadischen Völker wird unterschätzt?

Preiser-Kapeller: Tatsächlich redet man die Bedeutung dieser Gruppen für die Entstehung von Staatlichkeit im heutigen Osteuropa klein. Als eine der größten Katastrophen gilt die Eroberung der Fürstentümer der Rus in den 1240er-Jahren durch die Mongolen. Das Khanat der Goldenen Horde gilt als Unterdrücker, der für einen „Entwicklungsrückstand“ im Vergleich zu Westeuropa gesorgt hätte. Dabei vollzog sich der Aufstieg der Großfürsten von Moskau in Kooperation mit der Goldenen Horde, von denen wichtige Elemente der staatlichen Organisation und des Militärwesens übernommen werden. Im 16. Jahrhundert präsentierte sich der Zar Russlands auch als Khan.

Wenn Politik Geschichte instrumentalisiert

Man deutet die Geschichte also wie es gerade in die politische Ausrichtung passt?

Preiser-Kapeller: Geschichtsdeutungen sind zeitabhängig. Im Gefolge der Kriege mit Schweden will man die Abkunft der Rus aus Skandinavien zurückweisen. Wenn hingegen eine stärkere Anlehnung an den Westen propagiert wird, betont man solche Aspekte. Diese Nutzung von Geschichte für aktuelle politische Agenden hat eine lange Tradition, natürlich nicht nur in Russland, aber mit fatalen Konsequenzen, wie bei der Legitimation des derzeitigen Krieges.

Die Nutzung von Geschichte für aktuelle politische Agenden hat eine lange Tradition.

Wie sieht es mit der ukrainischen Identität aus?

Preiser-Kapeller:Auch hier wählt die Nationalgeschichtsschreibung situationsbedingt Aspekte aus. Die Gebiete der heutigen Ukraine standen nach dem Zerfall der Goldenen Horde im Spannungsfeld expandierender Mächte wie dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen im Westen und dem Moskauer Staat im Osten. Gilt es eine Westorientierung zu betonen, verweist man auf das Fürstentum des Danylo von Galizien, der Mitte des 13. Jahrhunderts die Vormacht im Südwesten des Gebiets der Rus erlangte, Kontakte mit Westeuropa suchte und vom Papst als König anerkannt wurde. Das Bild Danylos ist in der Ukraine auf Münzen zu finden, auch der Flughafen von Lwiw (Lemberg) ist seit 2012 nach ihm benannt.

 

AUF EINEN BLICK

Johannes Preiser-Kapeller lehrt Byzantinistik und Globalgeschichte an der Universität Wien und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), wo er den Forschungsbereich „Byzanz im Kontext“ leitet, in dessen Rahmen er auch die Beziehungen im mittelalterlichen Eurasien untersucht.