23.03.2022 | Krieg in der Ukraine

Grösste Fluchtbewegung Europas seit dem 2. Weltkrieg

Auf welche Szenarien sich europäische Regierungen einstellen sollten angesichts der Fluchtbewegung aus der Ukraine, erklärt ÖAW-Migrationsforscher Rainer Bauböck im Interview.

Bereits 3,5 Millionen Menschen mussten aufgrund des Krieges in der Ukraine flüchten.
Bereits 3,5 Millionen Menschen mussten aufgrund des Krieges in der Ukraine flüchten. © Shutterstock

Seit 24. Februar führt Russland einen Krieg gegen die Ukraine. Bereits 3,5 Millionen Menschen haben in den ersten Kriegswochen das Land verlassen, bis zu vier Millionen erwarten die Vereinten Nationen. Das ist die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Rund 80 österreichische Migrationsforscher/innen haben anlässlich der Ukraine-Krise kürzlich einen Aufruf unterstützt, initiiert wurde dieser von der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Über die große Welle an Hilfsbereitschaft von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Seite gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine und den Wandel in der Haltung der europäischen Regierungen, spricht Migrationsforscher Rainer Bauböck, Obmann der Kommission und Mitglied der ÖAW.

Nicht gekommen, um zu bleiben

Was ist das Besondere an der Fluchtbewegung aus der Ukraine?

Rainer Bauböck: Abgesehen vom historisch seit dem Zweiten Weltkrieg einmaligen Umfang ist es die Tatsache, dass die Flucht gleichzeitig mit einer bislang erfolgreichen militärischen Mobilisierung durch die legitime Regierung der Ukraine stattfindet. Einerseits ist die Fluchtbewegung so groß, weil die russische Armee wie im zweiten Tschetschenienkrieg und bei ihrer Intervention im Syrienkrieg massive Opfer unter der Zivilbevölkerung in Kauf nimmt – in der Hoffnung damit eine allgemeine Demoralisierung und den Zusammenbruch der politischen Ordnung auszulösen. Andererseits ist der Widerstand jedoch so stark und gut organisiert, dass dies bisher nicht gelungen ist und die in vieler Hinsicht gespaltene ukrainische Gesellschaft zusammengeschweißt wurde.

Die Opferbereitschaft, um einen militärisch überlegenen Aggressor abzuwehren ist unglaublich groß.

Wer flüchtet aktuell aus der Ukraine?

Bauböck: Aus den genannten Gründen kommen derzeit vor allem Frauen und Minderjährige. Volljährige Männer werden zum Militärdienst verpflichtet, wobei es keine Anzeichen gibt, dass dies auf größeren Widerstand stößt. Die Opferbereitschaft, um einen militärisch überlegenen Aggressor abzuwehren ist unglaublich groß.

Handelt es sich dabei um Geflüchtete, die bleiben wollen oder nur temporär Schutz suchen?

Bauböck: In der jetzigen Situation geht es um temporären Schutz. Die meisten Geflüchteten werden so bald wie möglich zurückkehren wollen. Das werden sie auch tun, wenn das Putin-Regime seine bisherigen Kriegsziele aufgeben muss, die ukrainische Regierung anerkennt und mit ihr eine Vereinbarung über die Beendigung der „besonderen Militäroperation“ trifft. Es wird jedoch auch in diesem Szenario viele Menschen geben, die nicht gleich zurückkehren können, weil ihre Wohnungen zerstört worden sind.

Die meisten Geflüchteten werden so bald wie möglich zurückkehren wollen.

Auf welche anderen Szenarien sollten sich europäische Regierungen einstellen?

Bauböck: In einem pessimistischen Szenario kann der Krieg noch lange dauern oder mit einem militärischen Erfolg Russlands enden. In diesem Fall käme es wohl zu einer Okkupation großer Teile der Ukraine und der Einsetzung eines illegitimen Vasallenregimes in Kyiv, das ähnlich wie Ramsan Kadyrow in Tschetschenien mit großer Härte gegen jeden Widerstand vorgeht. Dann haben die bisher Geflüchteten keine Möglichkeit zur Rückkehr und jene Männer, die bisher die Ukraine verteidigt haben, werden versuchen, sich ihren Familien in der EU anzuschließen. Wir sollten also auch mit der Möglichkeit rechnen, dass sich mehrere Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer dauerhaft in der EU niederlassen werden.

EU gewährt temporären Schutz

Die EU antwortet mit umfangreichen Unterstützungsmaßnahmen für die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen. Was hat sich rechtlich verändert?

Bauböck: Für Geflüchtete aus der Ukraine hat die EU ja jene Richtlinie über temporären Schutz im Fall von Massenzuwanderung aus dem Jahr 2001 aktiviert, die schon 2015 zur Anwendung hätte kommen müssen, was aber damals von mehreren Mitgliedstaaten blockiert wurde. Diese Richtlinie ermöglicht nicht nur ein Aufenthaltsrecht und den Zugang zum Arbeitsmarkt ohne individuelle Prüfung von Asylgründen, sondern auch sogenannte „sekundäre Migration“.

Was bedeutet das?

Bauböck: Das heißt, dass Geflüchtete aus der Ukraine in jene Zielländer weiterwandern können, in denen es bereits Familienangehörige, größere ukrainische Communities oder auch bessere Arbeitsangebote für sie gibt. Das ist einerseits ein enormer Vorteil für ihre Integrationsperspektiven im Vergleich zu den langwierigen Asylverfahren und der „Immobilisierung“ der Geflüchteten aus Afghanistan, Syrien oder afrikanischen Staaten. Andererseits wird damit die Verantwortung für die aus der Ukraine Geflüchteten ungleich auf die EU-Staaten verteilt. Deshalb fordert der Aufruf der österreichischen Migrationsforscher/innen einen Lastenausgleich zwischen den EU-Staaten. Dadurch, dass jetzt Staaten wie Polen, die 2015/16 europäische Solidarität blockierten, nun selbst stark betroffen sind und auf Öffnung der Grenzen setzen, gibt es viel bessere Chancen auf konstruktive Lösungen.

Der Krieg in der Ukraine könnte unabsehbare Folgewirkungen für Migrations- und Fluchtbewegungen in ärmeren Staaten haben.

Besteht die Gefahr, dass nicht-ukrainische Geflüchtete aus der Ukraine als Geflüchtete zweiter Klasse behandelt werden? Es gab Berichte, dass in der Ukraine lebende Migrant/innen sowie Studierende aus dem Ausland ungleich behandelt wurden, als sie versuchten zu fliehen.

Bauböck: Die Richtlinie der EU muss in nationale Verordnungen und Gesetze umgesetzt werden und dabei gibt es gewisse Spielräume für die Mitgliedstaaten. Deutschland hat entschieden, die Richtlinie auf alle Personen anzuwenden, die in der Ukraine Aufenthaltsstatus hatten und von dort geflüchtet sind. In Österreich wird in dieser Hinsicht leider zwischen ukrainischen Staatsangehörigen und anderen differenziert.

Welche Folgen hat dieser Krieg auf die weltweiten Migrationsbewegungen?

Bauböck: Der Krieg in der Ukraine könnte unabsehbare Folgewirkungen für Migrations- und Fluchtbewegungen in ärmeren Staaten haben, vor allem aufgrund des Ernteausfalls in der Ukraine und der steigenden Preise für Getreide am Weltmarkt. Wir müssen uns also darauf einstellen, dass in vielen Staaten Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens zur prekären Sicherheitslage und den Folgen der Klimakatastrophe auch jene des Kriegs in der Ukraine als Auslöser für Migrations- und Fluchtbewegungen hinzukommen können. Eine realistische und humanitäre Antwort darauf wäre es, mehr Möglichkeiten für reguläre Migration aus diesen Staaten zu schaffen, um zu verhindern, dass diesen Menschen keine anderen Optionen offenstehen, als die Dienste von Schleppern anzunehmen um in Europa Asylanträge zu stellen.

Neue Willkommenskultur

Überall in Europa gibt es eine große Welle an Hilfsbereitschaft von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Seite. Wie unterscheidet sich die Willkommenskultur von jener im Sommer 2015?

Bauböck: Jene, die dachten, dass die Lektion aus dem Sommer 2015 das Scheitern der Willkommenskultur sei, haben sich geirrt. Es gibt Schätzungen, dass damals ca. ein Viertel der deutschen Bevölkerung sich in irgendeiner Weise an freiwilligen Hilfsmaßnahmen beteiligt hat. 2022 könnten es noch mehr werden, weil im Gegensatz zu damals das Thema nicht zur politischen Polarisierung der Gesellschaft genutzt wird.

In der Ukraine gibt es, wie in anderen osteuropäischen Staaten, kriminelle Netzwerke, die sicherlich versuchen, aus der jetzigen Situation Kapital zu schlagen.

Könnte diese Stimmung – ähnlich wie nach der Silvesternacht 2015 in Köln – auch wieder kippen?

Bauböck: Dies kann einerseits durch die Mobilisierung von „Wohlfahrtschauvinismus“ geschehen, d.h. dem Argument, dass die Leistungen der europäischen Sozialstaaten nicht jenen zugutekommen sollten, die neu angekommen sind, andererseits durch die Mobilisierung eines bedrohten Sicherheitsgefühls. In der Ukraine gibt es bekanntlich, wie in anderen osteuropäischen Staaten, auch kriminelle Netzwerke, die sicherlich versuchen, aus der jetzigen Situation Kapital zu schlagen. Wenn es zu einzelnen Vorfällen kommt, die von Boulevardmedien, sozialen Netzwerken und populistischen Parteien aufgebauscht werden, dann braucht es große Standfestigkeit der Regierungen und demokratischen Parteien. Ich fürchte, dass auch Moskau jede Gelegenheit nutzen wird, um die öffentliche Meinung in Europa gegen Geflüchtete aus der Ukraine aufzuhetzen. Und dafür gibt es auch andere Kanäle und Transmissionsriemen als die nunmehr im Westen gesperrten russischen Propagandamedien. Besonders wichtig scheint mir, das Putin-Regime als alleinigen Verursacher des Kriegs zu sehen und nicht in die Falle einer allgemeinen Russophobie zu tappen, die Wasser auf die Mühlen des Kremls wäre.

 

AUF EINEN BLICK

Rainer Bauböck ist Migrationsforscher, Politikwissenschaftler und Vorsitzender der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wisenschaften (ÖAW). Zudem ist er Professor am Robert Schuman Centre for Advanced Studies des European University Institute in Florenz. Seit 2013 ist er korrespondierendes Mitglied der ÖAW.

Aufruf österreichischer Migrationsforscher/innen