26.07.2020 | Innovationsfonds

Wiens Hofgesellschaft als Datenbank

Obersthofküchenmeister oder Kammernäherin – der kaiserliche Hofstaat des 17. Jahrhunderts umfasste hunderte Positionen. Eine neue Datenbank will die Geschichten der Menschen dahinter sichtbar und bisher ungeklärte Fragen zum Netzwerk des Wiener Hofes beantwortbar machen.

Kupferstich des Wiener Rossballetts im Jahr 1667
Kupferstich des Wiener Rossballetts im Jahr 1667 aus der Ausstellung „Spettacolo barocco!“, die 2016 im Theatermuseum gezeigt wurde. © Theatermuseum Wien

Die Wiener Hofgesellschaft im 17. Jahrhundert bestand nicht aus einem einzigen Hofstaat, sondern aus fast zwei Dutzend. Jedes Mitglied der kaiserlichen Familie verfügte über einen eigenen kleineren oder größeren Kreis an Bediensteten; der des Kaisers war naturgemäß der umfangreichste. Der Hofstaat von Leopold I. zählte im Jahr 1675 circa 1.125 Personen. Auch seine Söhne ab dem 10. Lebensjahr führten eigene Hofstaate, ebenso wie des Kaisers jeweilige Gattin. Die verwitwete Kaiserin Eleonora Gonzaga-Mantua, die Stiefmutter Leopolds I., hatte sogar ein Gefolge, das das der amtierenden Kaiserin um das vier- bis fünffache überstieg. Das „Who is Who“ dieses umfangreichen Personals wurde in handschriftlich verfassten Hofstaatsverzeichnissen erfasst und später auch auszugsweise für eine breitere Öffentlichkeit als „Hofkalender“ abgedruckt.

Ein historisches Netzwerk in 48.000 Excel-Zeilen

Wie aber hingen all diese Personen zusammen und in welchem Verhältnis standen sie zur Wiener Bevölkerung? Mit Hilfe neuer digitaler Techniken ist es möglich, die Wiener Hofgesellschaft auch „prosopografisch“ zu erfassen, das heißt, die beteiligten Personen als Gesamtheit in ihren Verbindungen untereinander darzustellen. Das Forschungsprojekt „The Viennese Court. A prosopographical portal“ hat sich genau das vorgenommen. Angesiedelt am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und unterstützt vom Innovationsfonds der ÖAW wird das Forschungsteam ab Herbst 2020 eine innovative digitale Infrastruktur für die dokumentierte Wiener Hofgesellschaft unter Kaiser Leopold I. (1640–1705) schaffen.

Die Datenbasis für die Arbeit der Forscher/innen bildet eine Sammlung, die zwischen 2001 und 2005 erstellt wurde und über tausende Hofmitglieder zwischen 1657 und 1705 erfasst hat. Diese Daten füllen insgesamt rund 48.000 Zeilen in Excel-Tabellen. „Solch eine Tabelle ist nur für Fachleute verstehbar“, sagt Marion Romberg Co-Leiterin des Projekts. „Unsere Aufgabe ist es jetzt, eine neue Infrastruktur zu schaffen, um diese Personendaten zu verknüpfen und differenziertere Abfragen zu ermöglichen.“

Was dabei herauskommen soll, werde „nicht nur eine trockene Liste von Namen sein, sondern ein Abbild der Hofgesellschaft in ihrer sozialen, funktionalen und personellen Diversität.“ Geplant ist, die vorhandenen Daten in eine interaktive Umgebung einzubetten, so dass sich beim Anklicken einzelner Namen und Begriffe ein Verweissystem an weiterführenden Informationen öffnet, Tabellen, Grafiken und Netzwerkdarstellungen werden Bezüge innerhalb des Hofsystems abbilden. Ausgehend von einer Einzelperson und ihren Beziehungen zu Personen, Orten und Institutionen lässt sich das Netzwerk dann je nach Fragestellung erweitern und vergrößern.

„Es handelt sich dabei um eine Tiefenerschließung, die einzelne Quellen miteinander verbindet und daher neue Möglichkeiten der Abfragen bietet“, erläutert Maximilian Kaiser, vom Austrian Centre für Digital Humanities and Cultural Hertiage der ÖAW, der ebenfalls Co-Leiter des Projekts ist und sich auf historische Netzwerkanalyse spezialisiert hat.

Neue Antworten auf alte Fragen

Was die neue Datenbank bringt? Zahlreiche bisher nur mühsam erforschbare Fragen zum Leben am Wiener Hof lassen sich dann wesentlich leichter beantworten. Zum Beispiel: Wie war das Geschlechterverhältnis am Hof? Wer bekam welche Gehälter? Wie liefen die Verwandtschaftsverhältnisse und wie gestalteten sich die Karrierewege im Einzelnen?

Allerdings: Eine solche Datenbank ist nur von Nutzen, wenn sie kontinuierlich gepflegt und aktualisiert wird. „Die ÖAW ist mit der Förderung von langfristigen Vorhaben die perfekte Heimat für unser Portal“, sagt daher Marion Romberg. Denn nur auf lange Sicht mache das zunächst für zwei Jahre bewilligte Projekt wirklich Sinn. Diese ersten Jahre gelten dem Aufbau der Infrastruktur, mit der sich dann zusätzliche Quellen, etwa Bild- und Tondokumente aus anderen Archiven und Bibliotheken, einfügen lassen als auch weiterführende Forschungen durchgeführt werden können. So kann diese Infrastruktur zum Beispiel von einem gleichzeitig an der ÖAW startenden und vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt unter Leitung der Historikerin Katrin Keller genutzt werden, das die Daten zu den Höfen von Kaiser Karl VI. (1711–1740) bis Franz I. (II.) (1768–1835) einbringen wird.

Dabei richtet sich die Datenbank nicht nur an Wissenschaftler/innen sondern auch an alle historisch interessierten Menschen. Die Benutzungsoberfläche soll sich intuitiv erschließen, sodass sich hier auch Laien über die Geschichte des Wiener Hofes informieren können, zum Beispiel nach Ahnen forschen, die vielleicht in Verbindung zum Hof standen. „Man könnte das Ganze sogar zu einem Citizen Science Projekt ausbauen“, meint Marion Romberg. Auch Privatpersonen könnten dann mit ihrem Spezialwissen zur Datenbank beitragen.

Vom Kaiser bis zur Kammerzofe

„Man kann durch Visualisierung der Netzwerke zeigen, wie komplex die Beziehungsstrukturen am Hof waren“, sagt Maximilian Kaiser. Wenn das Projekt abgeschlossen ist, werden sich die Wege einzelner Personen bei Hofe verfolgen lassen – und zwar nicht nur die der Allermächtigsten. Der Hofstaat umfasst Hunderte an Positionen wie den Obersthofküchenmeister, den Zuschroder, den Edelgestein-Bohrer, den Edelknaben-Tafeldecker, die Kammernäherin, die Leibwäscherin, das „Kuchlmensch“. Hinter all diesen Positionen stehen Menschen, über deren Geschichte vielleicht etwas zu erfahren ist. Das bietet dann nicht nur Stoff für die Wissenschaft, sondern vielleicht auch für den einen oder anderen historischen Roman.

 

AUF EINEN BLICK

Das Projekt„The Viennese Court. A prosopographical portal“ wird von Marion Romberg und Maximilian Kaiser geleitet und vom Innovationsfonds der ÖAW gefördert. Es kooperiert eng mit dem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt „Der Wiener Hof: Eliten, Herrschaft und Repräsentation“, das am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der ÖAW durchgeführt wird.

Der Innovationsfonds „Forschung, Wissenschaft und Gesellschaft“ wurde von der ÖAW eingerichtet, um außergewöhnlich innovative Projekte zu unterstützen. Ziel ist die Förderung von Forschungsvorhaben, die neue Paradigmen eröffnen sowie neue methodische Wege einschlagen.