Kleine Geschichte der Preisfrage

Quelle est lʼorigine de lʼinégalité parmi les hommes et si elle est autorisée par la loi naturelle? (Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt?). Die ausführliche Antwort des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau auf diese Preisfrage der Akademie von Dijon (1754) ließ ihn gleichsam mit einem Schlag berühmt werden, auch wenn seine radikale Zivilisationskritik nicht die Zustimmung der Preisrichter erhielt. Damit rückte zugleich ein wissenschaftliches Format verstärkt in den Blickpunkt, das – ausgehend von der ersten Preisaufgabe der Academie française (1671) – im Verlauf des 18. Jahrhunderts fast alle europäischen Akademien, zum Teil auch sog. ökonomische Gesellschaften und sogar Einzelpersonen höheren Ranges, in ihr Programm aufgenommen hatten.

Herausfordernde zu lösende Aufgabe

Aus der Sicht der Zeitgenossen stand die Herausforderung einer schwer zu lösenden Aufgabe, die einen bestimmten wissenschaftlichen Gegenstand betraf, im Mittelpunkt, wobei der ausgelobte Preis die motivierende und gleichsam pädagogische Funktion besaß, möglichst viele Teilnehmer zur Bewerbung zu ermuntern. Dem Preisgeld kam im Verhältnis zu der damals raren Möglichkeit, mit einer Publikation an die Öffentlichkeit treten zu können, lediglich symbolischer Charakter zu.

Instrument partizipativer Wissenschaftskommunikation

Die Hochkonjunktur der Ausschreibung von Preisfragen ist im 18. und frühen 19. Jahrhundert zu verorten: So schrieb die Berliner Akademie zwischen 1745 und 1900 insgesamt 178 Preisfragen aus, zu denen etwa 700 Antworten, also sog. Preisschriften, eingingen, die preisgekrönten gedruckten Schriften nicht miteingerechnet. Die Preisfrage gewann somit im Sinne einer sich immer stärker professionalisierenden scientific community den wichtigen Rang eines Instruments und Mediums partizipativer Wissenschaftskommunikation. Der sich verändernden Wissenschaftslandschaft Rechnung tragend, ist ein sukzessiver Wandel von den ursprünglich dominierenden rhetorischen und poetischen Preisaufgaben hin zu ökonomischen, naturhistorischen und technologischen Fragestellungen erkennbar. Mittels entsprechender Berichte in sog. gelehrten Zeitschriften wurde die interessierte Öffentlichkeit über Ausschreibungen zu Preisfragen und die eingegangenen Antworten informiert.

Der im 18. Jahrhundert hauptsächlich praktizierte Modus der Einreichungen zur Beantwortung einer Preisfrage ist allerdings mit der heute wiederbelebten Praxis nicht vergleichbar, da damals die Schriften anonym eingesendet und lediglich bei der Zuerkennung des ersten Preises oder einer Auszeichnung hinsichtlich ihrer Autorschaft bekannt gemacht wurden. Gerieten die akademischen Preisaufgaben nicht zuletzt angesichts der aufkommenden institutionalisierten Wissenschaftspreise, wie sie akademische Institutionen auch heute noch vergeben, zunehmend in die Defensive, hat es sich die ÖAW seit 2018 zum Ziel gesetzt, dieses traditionsreiche Format mit höchst aktuellen Fragestellungen neu zu beleben.

In der Tradition der „Gelehrtenrepublik“

Mit dem Wettbewerb will die Akademie an die Idee der „Gelehrtenrepublik“ des 18. Jahrhunderts anknüpfen. Die res publica literaria umfasste alle wissenschaftlich Publizierenden und hatte den Anspruch, den wissenschaftlichen Diskurs über die Grenzen von Institutionen hinaus zu fördern, unabhängig von Standesunterschieden oder Nationalitäten. Ganz im Sinne einer verantwortungsvollen Forschung, wie sie heute europaweit diskutiert wird, soll die Preisfrage mit neuen Impulsen zu einem besseren Austausch von Wissenschaft und Gesellschaft beitragen. Zugleich will die ÖAW damit das allgemeine Interesse an Wissenschaft in der Öffentlichkeit erhöhen.