13.05.2022 | Awaren

Mysteriöses Steppenvolk

Fast 250 Jahre lang beherrschten die Awaren große Teile Mittel- und Osteuropas. Nun gelang es einem internationalen Team mit Beteiligung der ÖAW die Herkunft des Reitervolks zu klären. ÖAW-Historiker Walter Pohl erzählt im Interview, was er und seine Kolleg/innen herausgefunden haben.

Europa im 9. Jahrhundert © Wikipedia

Etwas überspitzt könnte man sagen: Wien war einst ein Teil der Mongolei. Denn das Reich der Awaren reichte zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert bis in das heutige östliche Österreich hinein. Auch die Steiermark, Kärnten und Osttirol waren unter der Herrschaft des Reitervolks aus dem Osten.

Doch woher kamen die Awaren genau? Und wie veränderte sich dieses Volk auf seinem Weg von Ost nach West? Diese Fragen konnte nun ein internationales Team aus Genetiker/innen, Historiker/innen und Archäolog/innen beantworten. An der Publikation im Fachjournal Cell war auch der Historiker Walter Pohl vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beteiligt. Er erklärt im Interview, was das Forschungsteam herausgefunden hat.

Wer waren die Awaren?

Walter Pohl: Das war ein Steppenvolk, das zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert ein großes Reich in Mitteleuropa errichtet hat, dessen Zentrum im heutigen Ungarn lag. Wie die Hunnen, die zweihundert Jahre früher nach Europa gekommen und viel weniger lang geblieben sind, stammen die Awaren aus Ostasien. Sie sind aber deutlich weniger bekannt. 

Die Awaren waren für die Völker im Westen deutlich friedlichere Nachbarn als die Hunnen.

Warum haben sich die Hunnen tiefer in unser kollektives Gedächtnis gegraben?

Pohl: Die Awaren waren für die Völker im Westen deutlich friedlichere Nachbarn. Konflikte gab es hauptsächlich mit Byzanz, und dort haben die Awaren auch Spuren hinterlassen. Heute noch wird in der orthodoxen Liturgie der Hymnus gesungen, der an die wunderbare Rettung Konstantinopels vor der Belagerung durch die Awaren im Jahr 626 erinnert.

Welche Konsequenzen hatte das Einwandern der Awaren?

Pohl: Der nachhaltigste Effekt war wohl, dass die Ausbreitung der Slawen in Europa begünstigt wurde. Die Awaren haben von slawischen Gruppen als Tribut landwirtschaftliche Erzeugnisse bekommen und daher ihre Ansiedlung gefördert. Die Awaren haben auch praktische Neuerungen mitgebracht, sie waren die ersten in Europa, die Steigbügel verwendet haben.

Wie groß war das Reich dieser Reiter?

Pohl: Das Kerngebiet lag in Ungarn, dazu kamen Siebenbürgen, Teile des heutigen Kroatien und Landstriche entlang der unteren Donau bis ans Schwarze Meer. In Österreich reichte das Awarenreich bis an die Enns, wo die Grenze durch einen Vertrag zwischen den Bayern und den Awaren gesichert war. Die heutigen Bundesländer Steiermark, Kärnten und Osttirol gehörten damals ebenfalls zum Awarenreich. 

Ursprung in der Mongolei

Was konnten Sie mit ihren Kolleg/innen über die Herkunft herausfinden?

Pohl: Genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Awaren ursprünglich aus der heutigen Mongolei stammten. Das dortige Rouran-Reich zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert ist aus chinesischen Quellen bekannt, seine Führungsschicht nannte sich bereits Awaren. Nach der Unterwerfung der Rouran durch die Türken 552 ist eine Gruppe unter der Führung eines Herrschers nach Westen geflohen. Das waren die Awaren. 

Warum war die Herkunft bisher umstritten?

Pohl: Die Bezeichnung “Awaren” war damals prestigeträchtig. Die Türken haben deshalb versucht, die Legitimität der Awaren in Frage zu stellen. Sie bezeichneten die fliehenden Awaren als “Pseudo-Awaren” und unterstellten, es handle sich nur um Reste anderer Völker. In Byzanz hat man diese Darstellung geglaubt. Die genetische Forschung konnte die türkische Propaganda jetzt endgültig entlarven und klären, dass der Kern der Awaren tatsächlich aus dem Reich der Rouran stammte. 

Wie lange hat die Flucht vor den Türken nach Europa gedauert?

Pohl: 552 wurde das Rouran-Reich zerstört und die Awaren sind schon 557 nördlich des Kaukasus aufgetaucht. 567 haben sie das Karpatenbecken im heutigen Ungarn besetzt. Sie haben also in wenigen Jahren 5.000 Kilometer zurückgelegt.

Wie war das möglich?

Pohl: Die Awaren kamen zu Pferd, vielleicht auch mit Wagen. Zu Fuß ging da niemand. Es ist überliefert, dass die Awaren auf Kriegszügen Reservepferde in großer Zahl mitführten, um sicherzustellen, dass alle jederzeit schnell vorankommen.

Wie viele Awaren sind geflohen?

Pohl: Die Gruppe muss mindestens stark genug gewesen sein, um mehrere mächtige Reiche zu queren, ohne aufgerieben zu werden. Wir gehen von einer Gruppe mit tausenden Reiterkriegern aus, die sich unterwegs durch die Anschlüsse weiterer Verbände weiter verstärkte. Das ergibt insgesamt wohl etwa einige zehntausend Menschen.

Das Leben in der Steppe war hart. Nahrungsmittelmangel auf dem Zug der Awaren ist belegt. 

Bei Ankunft in Europa war die Gruppe also schon vermischt?

Pohl: Unsere Analysen zeigen, dass auch Frauen aus Ostasien mitgekommen sind. Die Kerngruppe aus der heutigen Mongolei hat sich genetisch über mehrere Generationen nicht vermischt, weil nur untereinander geheiratet wurde. Das gilt zumindest für die Eliten. Die reichsten Awarengräber aus Europa aus dem siebten Jahrhundert weisen fast ausschließlich ostasiatisches Erbgut auf. Unsere Publikation in der Fachzeitschrift Cell ist nur der erste Schritt zu einer umfassenden Untersuchung der Bevölkerungsgeschichte Ostmitteleuropas im 5.bis 9. Jahrhundert. In unserem Großprojekt HistoGenes, das vom europäischen Forschungsrat (ERC) finanziert wird, planen wir die Auswertung von insgesamt 6000 DNA-Proben, um ein umfassenderes Bild zu bekommen. Dabei wollen wir auch ganze Gräberfelder genetisch analysieren.

Wie konnten die Awaren nach ihrer langen Reise sofort mit dem Aufbau eines Reichs beginnen?

Pohl: Das Leben in der Steppe war hart, diese Menschen waren Entbehrungen gewohnt. Nahrungsmittelmangel auf dem Zug der Awaren ist belegt, weil die sie nach ihrem Sieg gegen die Franken vor allem Lebensmittel verlangt haben. 

Was war die Rolle der Historiker in diesem interdisziplinären Projekt?

Pohl: Das ist das erste Forschungsprojekt, das von Beginn an von Historikern, Archäologen und Genetikern gemeinsam entworfen und durchgeführt worden ist. Wir haben die historischen Fragestellungen ausgearbeitet, um festzulegen, was überhaupt beprobt werden soll. Historiker haben eine wichtige Aufgabe, weil sie helfen, die Daten zu interpretieren. Das ist gerade bei DNA-Analysen oft schwierig, weil sie dazu verleiten, weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen, die historisch aber oft nicht haltbar sind. Wir haben hier einen neuen Standard für interdisziplinäre Zusammenarbeit definiert. 

 

AUF EINEN BLICK

Walter Pohlleitet das Projekt HistoGenes, das vom European Research Council (ERC) gefördert wird. Er war bis zu seiner Emeritierung Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und leitet dort die Arbeitsgruppe Gemeinschaften, Völker, Mobilität. Er ist wirkliches Mitglied der ÖAW und Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien.