31.03.2022 | Europa und Russland

Der Balkan und Russlands Krieg in der Ukraine

Wo steht der Balkan zwischen West und Ost? Was sich mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine in der Region geändert hat und weshalb Russland ein besonderes Verhältnis zu Ländern wie Serbien hat, schildert ÖAW-Historiker und Balkan-Experte Robert Pichler.

Serbiens Hauptstadt Belgrad bei Nacht. Der Balkanstaat gilt als langjähriger Partner Russlands. © Pixabay.com

Der Krieg in der Ukraine hat auch die Länder des Balkans erschüttert. Das Verhältnis zu Russland, das in der Region traditionell eine wichtige Rolle spielt, ist allerdings deutlich ambivalenter als zu anderen Teilen Europas - und zwar nicht nur in Serbien, wo sich Anfang April Präsident Aleksandar Vučić seiner Wiederwahl stellte. 

Die Gründe dafür sind unter anderem auf politischer, historischer, kultureller und religiöser Ebene zu finden, sagt Robert Pichler, Balkan-Experte am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Welche Bedeutung historische Erfahrungen wie der Kosovo-Krieg von 1999 auf die Bewertung der aktuellen Ereignisse in der Ukraine haben, wie Russland  binnen weniger Jahrzehnte für einige gesellschaftlichen Schichten von einem Gegner zu einem Verbündeten werden konnte und was die EU nun tun müsste, erläutert der Historiker im Interview. 

Angst und Traumata

Die Bilder vom Krieg in der Ukraine reaktivieren Ängste und verunsichern die Menschen."

Die meisten Balkanstaaten standen als Teil des Ostblocks über Jahrzehnte unter sowjetisch-russischem Einfluss. Wie werden die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine in den Balkanländern wahrgenommen?

Robert Pichler: Der russische Einmarsch in der Ukraine und die Brutalität des Angriffskrieges haben in weiten Teilen der Bevölkerung der Balkanstaaten Entsetzen, Unsicherheit und Unverständnis ausgelöst. In den Gebieten des ehemaligen Jugoslawien, die in den 1990er Jahren von Belagerung, Bombardierung und Vertreibung betroffen waren, leiden viele Menschen unter Retraumatisierungen: Die Bilder vom Krieg in der Ukraine reaktivieren Ängste und verunsichern die Menschen. Was die Deutung des Ukrainekrieges angeht, zeigen sich jedoch viel stärker als im Westen unterschiedliche Positionen. Diese Positionen spiegeln bestehende ökonomische Interessen, machtpolitische Verflechtungen sowie historische und ideelle Beziehungen wider.

Die Frage der nationalen Identität

Russlands Präsident Wladimir Putin hat der Ukraine eine eigenstaatliche Tradition und eigene kulturelle Identität abgesprochen. Wie ist das am Balkan angekommen?

Pichler: Dieses Denken ist auf dem Balkan weit verbreitet. Seit dem Ende des Kommunismus feiert der Ethnonationalismus eine Wiedergeburt. Diesem Denken zufolge soll ein Staat von Menschen bewohnt werden, die eine gemeinsame Geschichte, Herkunft und Sprache aufweisen. Von den einen als Instrument nationaler Emanzipation gefeiert, dient der Ethnonationalismus aber vorwiegend der Abgrenzung und Ausgrenzung. Wenn staatliche Grenzen nicht mit ethnischen Grenzen übereinstimmen, können auf Basis dieses Denkens darüber hinaus Ansprüche auf fremde Territorien geltend gemacht werden.

Oft impliziert der Ethnonationalismus eben auch, dass man anderen ihre Identität abspricht. Auf dem Balkan gibt es zahlreiche Beispiele dafür aus der jüngeren Geschichte, etwa als serbische und kroatische Nationalisten den Bosniaken ihre nationale Eigenständigkeit absprachen. Oder im Falle Nordmakedoniens, das von den Nachbarn Griechenland und Bulgarien nicht als Nation anerkannt wird.

Die Idee der Dekadenz des Westens, die auch Putin immer wieder betont, kommt ja auch von kirchlicher Seite."

Welche Rolle spielt bei all dem die Religion?

Pichler: Mit dem Ende des Kommunismus hat die Religion am Balkan wieder an Bedeutung gewonnen. Bulgarien, Rumänien, Serbien, Nordmazedonien und Montenegro sind mehrheitlich orthodoxe Gesellschaften, die jeweiligen Nationalkirchen sind traditionell eng mit dem Staat verbunden. Die Renaissance der Orthodoxie hat hier zugleich dazu geführt, dass gewisse Segmente der Gesellschaft sich spirituell und weltanschaulich als Teil einer orthodoxen Welt begreifen, die der westlichen Lebensweise kritisch gegenübersteht.  

Die Idee der Dekadenz des Westens, die auch Putin immer wieder betont, kommt ja auch von kirchlicher Seite. Nun steht man jedoch einem Konflikt gegenüber, bei dem sich zwei orthodoxe slawische Brüdervölker bekriegen. Das macht es für die Orthodoxen Nationalkirchen doppelt schwer, eine klare Position einzunehmen. In der Regel verurteilt man den Krieg, der nicht zu rechtfertigen sei, ruft zu Gebet und Solidarität mit den Leidenden auf, vermeidet aber klare Stellungnahmen über die Verantwortung für den Krieg.

Serbien und Russland

In Serbien, wo Anfang April gewählt wurde, sind prorussische Strömungen offenbar besonders stark. Was verbindet Serbien mit Russland?

Pichler: Immer wieder wird auf die kulturelle Verbundenheit verwiesen, auf die orthodoxe Tradition, auf die gemeinsame slawische Herkunft und Sprache sowie auf die historische Allianz, die Unterstützung Russlands bei der Befreiung der Serben von der osmanischen Herrschaft. Diese Faktoren sind wichtig, aber ich würde sie nicht überbetonen. Man sollte nicht vergessen, dass Serbien im jugoslawischen Verbund bis zu den Zerfallskriegen in den 1990er Jahren eine enge Bindung zum Westen hatte. Der Sonderweg, den das sozialistische Jugoslawien nach dem Bruch mit Stalin 1948 einschlug, war eine Abkehr vom sowjetischen Modell. Beim Zerfall Jugoslawiens übernahmen dann aber die Nationalisten die Macht, sie hatten auch die Kirche sowie akademische Eliten auf ihrer Seite.  

Das NATO-Bombardement im Kosovokrieg 1999 war eine entscheidende Zäsur."

In dieser Phase wendete sich das Blatt, die religiöse und kulturelle Verbundenheit mit Russland wurde wieder hervorgehoben. De facto war das aber vor allem ein machtpolitisches Kalkül. Das NATO-Bombardement im Kosovokrieg 1999 war eine entscheidende Zäsur. Diese Demütigung wurde zu einer tiefsitzenden Kränkung, sie trübte das Verhältnis zum Westen, schuf eine Aversion gegen NATO und USA und bereitete den Boden für eine Allianz mit Putins Russland, die von dort aus auch propagandistisch geschickt betrieben wird.

Sorge vor Destabilisierung

Steht zu befürchten, dass der Balkan im Zuge der Ukraine-Krise nun erneut destabilisiert werden könnte?

Pichler: Ich denke nicht, dass es zu neuen kriegerischen Auseinandersetzungen kommen wird. Entscheidend wird zugleich sein, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht. Wird Russland noch stark genug sein, um weiterhin über die eigenen Grenzen hinweg Macht auszuüben?

Man kann nur hoffen, dass die neue europäische Einigkeit auch in der Balkanfrage zum Tragen kommen wird."

Ich rechne jedenfalls nicht damit, dass sich die Gesellschaften des Westbalkans durch die Ereignisse in der Ukraine politisch grundlegend neu orientieren werden. Die Autokraten werden die Verunsicherung dazu nutzen, Stärke zu demonstrieren und damit den Eindruck zu vermitteln, Sicherheit gewährleisten zu können. Kernprobleme wie die Dysfunktionalität Bosnien-Herzegowinas und die Kosovofrage werden sich unter diesen Umständen nicht lösen lassen.

Entscheidend wird aber auch sein, wie die EU diesen Problemen begegnen wird. Es ist zu hoffen, dass man nun endlich alternative EU-Integrationsmodelle andenkt. Es braucht auf jeden Fall eine Überwindung des vorherrschenden Status Quo und man kann nur hoffen, dass die neue europäische Einigkeit auch in der Balkanfrage zum Tragen kommen wird.

 

Auf einen Blick

Robert Pichler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsbereich Balkanforschung des Instituts für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes. 

Balkanforschung am IHB