02.03.2022 | Krieg gegen Ukraine

„Schwere Schläge gegen die Demokratie“

Die Geschichte der Ukraine und Russlands ist komplex. Welches propagandistische Geschichtsbild sich Wladimir Putin als Rechtfertigung für den Angriff auf einen souveränen Staat zurecht legt, darüber spricht Wolfgang Mueller, Historiker und Mitglied der ÖAW.

Weltweit finden Proteste gegen den von Putin entfesselten Krieg gegen die Ukraine statt.  © Unsplash/Gayatri Malhotra
Weltweit finden Proteste gegen den von Putin entfesselten Krieg gegen die Ukraine statt. © Unsplash/Gayatri Malhotra

Der russische Präsident Wladimir Putin begründet seinen gegenwärtigen Krieg gegen die Ukraine auch historisch. In seiner Propagandaversion der Geschichte existiert kein eigenständiges ukrainisches Volk. Denn für ihn ist die Ukraine historisch ein Teil Russlands. Auf welches Geschichtsbild er dabei zurückgreift und welche propagandistischen Erzählungen erneut aufgegriffen werden, erklärt Wolfgang Mueller, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und stellvertretender Vorstand am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien.

Staatliche Tradition der Ukraine

Der russische Präsident Wladimir Putin spricht der Ukraine das Existenzrecht ab und behauptet, das Land sei historisch ein Teil der russischen Welt. Stimmt es, dass die Ukraine kaum Staatstradition aufweist?

Wolfgang Mueller: Eine solche Sichtweise entspräche nicht dem aktuellen Wissensstand. Die eigenstaatliche Tradition der Ukraine ist zweifellos weniger kontinuierlich als jene des modernen Russlands. Aber deshalb ist sie nicht inexistent – im Gegenteil. Die älteste Staatlichkeit auf dem Boden des heutigen Russlands und der Ukraine hatte sogar ihr Zentrum in Kiew. Nach Zerstörung des Kiewer Reiches durch die Mongolen geriet der Raum unter wechselnde Herrschaft: der Südosten unter mongolisch-tatarische, der Westen unter polnisch-litauische.

Die älteste Staatlichkeit auf dem Boden des heutigen Russlands und der Ukraine hatte ihr Zentrum in Kiew.

Vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg war der Raum hauptsächlich zwischen der Habsburgermonarchie und Russland aufgeteilt. Im Zuge des Zerfalls dieser Reiche entstand unter anderem die Ukrainische Volksrepublik.

Die ukrainische Unabhängigkeit währte damals für drei Jahre. Wie erging es ihr in der Zeit der Sowjetunion?

Mueller: Die Ukrainische Volksrepublik wurde nach der Machtübernahme der Bolschewiken in Russland weitgehend von der Roten Armee erobert und 1922 als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik in die Sowjetunion einverleibt. In der Sowjetunion wurde die ukrainische Identität wechselweise gefördert und unterdrückt. Auf die Förderung durch die Nationalitätenpolitik Lenins spielt Putin an. Die Realität ist aber komplexer.

Propaganda der „Entnazifizierung“

Worauf bezieht sich Putins vorgebrachte „Entnazifizierung“ der Ukraine?

Mueller: Die Chiffre geht auf die Sowjetunion zurück. Ein Teil der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die seit der Zwischenkriegszeit für eine unabhängige Ukraine und gegen den Kommunismus kämpfte, stand dem Faschismus sehr nahe und begrüßte Hitler als Befreier vom Kommunismus. Um die ukrainische Nationalidee zu diskreditieren, wurde in der sowjetischen Propaganda aber behauptet, dass alle, die für eine unabhängige Ukraine kämpften, Faschisten seien.

Diese propagandistische Erzählung wird jetzt wiederbelebt?

Mueller: 2014 hat die russische Propaganda dieses Bild aufgegriffen und die Demonstrationen am Maidan als neonazistischen Putsch bezeichnet. Tatsächlich waren rechtsextreme Gruppen an den Protesten beteiligt. Bei Wahlen zeigte sich aber ihr geringer politischer Einfluss: sie errangen nur einzelne Mandate.

Die Regierung der Ukraine ist proeuropäisch.

Heute soll die Bezeichnung der innenpolitischen Rechtfertigung des Krieges dienen. Allerdings spielen Neonazis keine Rolle im Parlament der Ukraine. Die Regierung ist proeuropäisch und gemäßigt. Zahlreiche demokratisch gewählte Spitzenpolitiker wie Staatspräsident Volodymyr Zelenskyj und der frühere Ministerpräsident Volodymyr Hrojsman sind jüdischer Abstammung.

Putin spricht von der Ukraine als einem „Brudervolk“ Russlands. Warum?

Mueller: Die beiden ostslawischen Völker sind verwandt, beide gehören mehrheitlich dem orthodoxen Kulturraum an. Sie haben gemeinsame Wurzeln und sich erst ab dem 13. Jahrhundert unterschiedlich entwickelt.

Prowestliche Ukraine als Antithese zum Kreml

Im Donbass, also der Region, in der auch die Separatistengebiete Luhansk und Donezk liegen, gibt es einen hohen Anteil von ethnischen Russ/innen und russischsprachigen Ukrainer/innen. Putin argumentiert auch, dass er den Krieg wegen der ethnischen Minderheiten führt. Was steckt dahinter?

Mueller: Die Behauptung angeblicher Verfolgung der russischsprachigen Minderheit durch die ukrainischen Behörden, ja sogar eines Genozids, soll der Legitimation des Angriffskrieges gegen die Ukraine dienen. Tatsächlich fand ein Genozid an den Ukrainern in der stalinistischen Sowjetunion statt, aber nicht heute an der russischsprachigen Volksgruppe.

Die Behauptung angeblicher Verfolgung der russischsprachigen Minderheit durch die ukrainischen Behörden, ja sogar eines Genozids, soll der Legitimation des Angriffskrieges gegen die Ukraine dienen.

Geht es Putin beim Krieg in der Ukraine vorrangig um die Einflusssphäre auf ehemalige sowjetische Gebiete – oder lässt sich die Eskalation als Teil Putins Angriff auf Demokratie deuten?

Mueller: Die Abwägung von innenpolitischen und außenpolitischen Motiven ist schwierig. Das am weitesten verbreitete Erklärungsmodell verbindet beide Komponenten. Es lautet, dass eine demokratische und prowestliche Ukraine im Kreml als Antithese zum monokratischen und das „westliche Modell“ ablehnenden aktuellen System Russlands aufgefasst wird. Tatsächlich hat der Präsident Russlands die demokratische Entwicklung der Ukraine vorwiegend negativ dargestellt. Als Kriegsziele hat er die völlige Entwaffnung und Neutralisierung der Ukraine ausgegeben und die Beseitigung der demokratisch gewählten, gemäßigten proeuropäischen Regierung angedeutet. Beides würde schwere Schläge gegen die Unabhängigkeit der Ukraine und die Demokratie insgesamt darstellen.

 

AUF EINEN BLICK

Wolfgang Mueller ist seit 2016 korrespondierendes Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und stellvertretender Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er forscht unter anderem zur Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion, zum Kalten Krieg sowie zur Wahrnehmungsgeschichte und zur Geschichte des Politischen Denkens.