23.12.2021 | Weihnachtsgeschichte

Stille Nacht auf dem Vulkan

Was haben ein verheerender Vulkanausbruch in Indonesien und die Entstehung des berühmten „Stille Nacht“ im Jahr 1816 miteinander zu tun? Mehr als man glaubt, denn die Vulkanasche führte in Europa zu einem „Jahr ohne Sommer“ und Hungersnöten. In dieser tristen Zeit verfasste Joseph Franz Mohr sein berühmtes und Trost spendendes Weihnachtslied.

Der Krater des 1815 explodierten Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa. Gas und Asche wurden bis auf eine Höhe von 43 Kilometern in die Stratosphäre geschleudert. ©  NASA Earth Observatory/Wikimedia
Der Krater des am 10. April 1815 mit weltweit verheerenden Folgen explodierten Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa. Gas und Asche wurden bis auf eine Höhe von 43 Kilometern in die Stratosphäre geschleudert. © NASA Earth Observatory/Wikimedia

Man könnte sagen: Die Stille Nacht hat ein Herz aus Feuer. Mehr als ein Jahr bevor das Weihnachtslied verfasst wurde, brach im April 1815 der Vulkan Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien aus. Es war eine gewaltige Eruption, die eine starke Abkühlung in Westeuropa zur Folge hatte und sogar Ernteausfälle und Hungersnöte.

Es war genau in dieser bedrückenden Zeit, als  Joseph Franz Mohr in Mariapfarr die Verse der „Stillen Nacht“ verfasste. Darin stelte er dem Elend in einfachen Worten die Hoffnungsbotschaft des Weihnachtsfestes gegenüber: „Jesus der Retter ist da!“, wie es in der letzten Strophe im Originaltext heißt. Und er war nicht der einzige, der vom „Jahr ohne Sommer“ inspiriert wurde. Auch Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ enstand in dieser Zeit.

Welche weitreichenden Auswirkungen plötzliche Klimaveränderungen auf Menschen und Gesellschaften haben können, untersucht der Klima- und Globalhistoriker Johannes Preiser-Kapeller vom Institut für Mittelalterforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Im Interview erzählt er, was wir über den Ausbruch des Tambora und dessen Folgen heute wissen.

Gewaltige Explosion

Stille Nacht ist für viele Menschen positiv konnotiert. Sie haben sich mit der düsteren Vorgeschichte befasst. Wie kam das?

Johannes Preiser-Kapeller: Eine Inspiration war der Fernsehfilm „Das ewig Lied“ von 1997 über die Entstehung von “Stille Nacht”. Dort wurde die soziale Not dargestellt, aus der das Lied entstanden ist. Die Hintergründe sind äußerst spannend: Der Liedtext entstand 1816, nach dem Ende der Napoleonischen Kriege, in Salzburg. Die Zeiten waren unruhig, es zogen immer noch Armeen durchs Land und es gab Hungersnöte. In diesem sogenannten “Jahr ohne Sommer” kam es dann zusätzlich zu Missernten durch eine starke Abkühlung in Westeuropa. Auslöser war ein verheerender Ausbruch des Vulkans Tambora im heutigen Indonesien ein Jahr zuvor.

Was wissen wir über den Tambora-Ausbruch?

Preiser-Kapeller: Das war eine gewaltige Explosion, etwa zehn Mal stärker als der Ausbruch des Krakatau 1883. Es wurden 140 Kubikkilometer Asche in die Atmosphäre ausgeworfen und die Hälfte des über 4.000 Meter hohen Vulkans auf der indonesischen Insel Sumbawa weggesprengt. Das ausgestoßene Material verteilte sich in der Atmosphäre um den Globus und führte in Westeuropa im Sommer 1816 zu bis zu drei Grad tieferen Durchschnittstemperaturen. Das ist dramatisch, denn man muss immer bedenken, dass eine Änderung im Schnitt immer bedeutet, dass auch die Extremausschläge schlimmer werden. Es gab damals kaum Sonnentage. Der folgende Winter war ebenfalls deutlich kälter und schneereicher. So kam es dann zu Hungersnöten. Klimatische Extreme treffen in bestehenden Krisensituationen Gesellschaften oft besonders hart, weil keine Puffer vorhanden sind.

Vom Ausbruch des Tambora gab es nur vereinzelte Nachrichten durch die damalige niederländische Kolonialverwaltung Indonesiens. Obwohl zehntausende Menschen vor Ort unmittelbar durch die Katastrophe ums Leben kamen."

Warum ist der Krakatau-Ausbruch bekannter als der des Tambora, obwohl er viel schwächer war?

Preiser-Kapeller: 1883 gab es bereits Telegrafen, der Ausbruch des Krakatau war ein weltweites Medienereignis. Vom Ausbruch des Tambora gab es nur vereinzelte Nachrichten durch die damalige niederländische Kolonialverwaltung Indonesiens. Obwohl zehntausende Menschen vor Ort unmittelbar durch die Katastrophe ums Leben kamen, wurde die globale Auswirkung des Ausbruchs erst 30 Jahre später vom Schweizer Forscher Heinrich Zollinger rekonstruiert.

Vulkanasche bis heute nachweisbar

Kann man den Ausbruch heute noch nachweisen?

Preiser-Kapeller: Die Asche hat sich global verteilt und kann auch in Ablagerungen weit entfernt vom Tambora nachgewiesen werden. Dazu kommt das indirekte kulturelle Vermächtnis, das sich nicht nur auf Stille Nacht beschränkt. Der britische Maler William Turner hielt die beeindruckenden Sonnenuntergänge, die durch die vielen Aerosole in der Atmosphäre entstanden, in seinen Gemälden fest. Auch Mary Shelley beschrieb, wie der außergewöhnlich stürmische Sommer 1816 und die damit einhergehende Stimmung am Genfer See dazu beitrugen, ihren Roman „Frankenstein“ zu inspirieren.

Oft boomen in Krisenzeiten auch Verschwörungserzählungen. Es gibt ein vielfältiges Arsenal an kulturellen Bewältigungstechniken."

Ist der Einfluss von Klima auf Kultur schwer nachzuweisen?

Preiser-Kapeller: Quantifizieren lässt sich das nicht so einfach, aber wie die Bilder von Turner zeigen, ändert ein solcher Klimawandel die physikalische Realität für die Menschen. Das beeinflusst natürlich die Darstellung in der Kunst. Hungersnöte schlagen sich auch nieder, wie Stille Nacht mit seiner Ankündigung des Erlösers schön zeigt. Historische Analysen zeigen auch, dass solche Krisen mitunter Einfluss auf die Mentalität der Menschen haben, etwa wenn Frömmigkeit und Heiligenverehrung zunehmen. Auch der Umgang mit Randgruppen kann sich ändern. Die Verfolgung der Juden hat sich in solchen Krisensituationen beispielsweise manchmal intensiviert. Aber die Wirkung ist nicht determiniert, Krisen können auch zu mehr Solidarität und Legitimation für das herrschende System führen. Manchmal passiert sogar beides gleichzeitig – der gesellschaftliche Zusammenhalt steigt, aber auf Kosten ausgegrenzter Randgruppen. Oft boomen in Krisenzeiten auch Verschwörungserzählungen. Es gibt ein vielfältiges Arsenal an kulturellen Bewältigungstechniken.

Vulkanausbrüche können Klima verändern

Wie oft passiert ein Ausbruch wie der des Tambora?

Preiser-Kapeller: Man hat in Eisbohrkernen in Grönland die chemische Signatur vieler Vulkanausbrüche nachgewiesen, zum Beispiel eine Eruption in Alaska, die um 850 passiert sein muss oder einen starken Ausbruch um 1257 in Indonesien. Ereignisse, die das Klima kurzfristig so stark beeinflussen können, treten im Schnitt alle paar hundert Jahre auf. Das sind aber immer Durchschnittswerte. 536 und 540 kam es etwa kurz hintereinander zu zwei gewaltigen Ausbrüchen, die die spätantike Kleine Eiszeit eingeleitet haben, die bis 660 gedauert hat. Der Ausbruch 1257 wiederum hat im Zusammenspiel mit geringerer Sonnenaktivität und weiteren Eruptionen zum Übergang zur Kleinen Eiszeit beigetragen. Kleinere Ausbrüche, wie aktuell auf den Kanarischen Inseln, kommen alle paar Jahre vor.

Ein noch stärkerer Ausbruch war der des Toba auf Sumatra vor etwa 70.000 Jahren, der als globaler „Killer“ gilt, und das Klima mehrere Jahre lang sehr deutlich abgekühlt haben muss."

Wie beurteilt man die Intensität von Vulkanausbrüchen?

Preiser-Kapeller: Analog zu Erdbeben gibt es eine Skala, den Volcanic Explosivity Index (VEI). Der Tambora erreicht hier die Stufe 7, wobei jede Stufe einem Faktor zehn entspricht. Ein rekonstruierbarer noch stärkerer Ausbruch war der des Toba auf Sumatra ebenfalls im heutigen Indonesien vor etwa 70.000 Jahren, der mit 8 bewertet wurde und als globaler „Killer“ gilt, der das Klima mehrere Jahre lang sehr deutlich abgekühlt haben muss. Modellberechnungen aufgrund von DNA-Analysen legen nahe, dass die damals ohnehin noch nicht sehr zahlreichen menschlichen Populationen stark unter Druck gekommen sind. Die Auswirkungen einer Eruption hängen aber immer auch von der geographischen Lage des Vulkans und der Jahreszeit ab und den gerade vorherrschenden großräumigen Luftströmungen. Je näher am Äquator, desto stärker verteilt sich in der Regel die Asche beispielsweise in der Atmosphäre und beeinflusst das Klima.

Würden wir einen großen Ausbruch heute überstehen?

Preiser-Kapeller: Dass früher oder später wieder etwas passiert, ist klar. Es gibt Horrorszenarien wie einen Ausbruch der Phlegräischen Felder bei Neapel oder im Yellowstone Nationalpark. Aber wie sich so eine Eruption im Einzelnen auswirkt, lässt sich nicht wirklich vorhersagen. Der vergleichsweise kleine Ausbruch des Eyjafjallajökull auf Island (mit einen VEI von 4, Anm.), der 2010 für mehrere Wochen den Flugverkehr in Europa lahmlegte, hat gezeigt, dass unsere technischen Systeme verwundbar sind. 

 

AUF EINEN BLICK

Johannes Preiser-Kapeller studierte Byzantinistik und Neogräzistik sowie Alte Geschichte in Wien. Er lehrt an der Universität Wien und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), wo er den Forschungsbereich „Byzanz im Kontext“ leitet.

Mehr über den Einfluss von Klimaveränderungen auf die Geschichte der Menschheit erzählt Johannes Preiser-Kapeller in zwei neuen Büchern „Die erste Ernte und der große Hunger“ und „Der lange Sommer und die große Eiszeit“ sind im Mandelbaum Verlag erschienen. Die Geschichte des Weihnachtslieds „Stille Nacht“ rekonstruiert er in seinem Blog.