04.01.2021 | Corona im Museum

Wie wir das Jahr 2020 erinnern werden

Die Corona-Pandemie hat das vergangene Jahr bestimmt. Auch wenn wir uns in Zukunft nicht gerne an sie erinnern werden, wird sie als kollektive Erinnerung Eingang in die Museen finden, sind die ÖAW-Historikerin Heidemarie Uhl und die Direktorin des Haus der Geschichte Österreich, Monika Sommer, überzeugt.

Ein Symbol für 2020: Der allgegenwärtige Mund-Nasenschutz. © Shutterstock
Ein Symbol für 2020: Der allgegenwärtige Mund-Nasenschutz. © Shutterstock

„Die Pandemie ist eine kollektive Erfahrung“, sagt Heidemarie Uhl, Historikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie hat uns alle betroffen. „2020 wird daher für Österreich sicher als Ausnahmejahr in die Geschichte eingehen“, verdeutlicht Monika Sommer, Direktorin des zu Österreichischen Nationalbibliothek gehörenden Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ).

Doch wie werden wir uns an die Pandemie erinnern? Welche Rolle spielen Museen dabei, die kollektive Erinnerung wach zu halten? Und welche gesellschaftliche Erzählung wird von 2020 bleiben? Darüber sprechen Heidemarie Uhl und Monika Sommer im Interview. Eines vorweg: Wenn Gesellschaften sich an Pandemien der Vergangenheit erinnern, dann zumeist an die erfolgreiche Überwindung.

Die Corona-Pandemie war das bestimmende Thema 2020. Wie wird dieses Jahr in das kollektive Gedächtnis eingehen?

Heidemarie Uhl: Die Pandemie ist eine kollektive Erfahrung, von der 2020 jede und jeder betroffen war. Die Erinnerung daran wird aber auseinander gehen. In den Theorien zum kollektiven Gedächtnis gibt es nach den deutschen Kulturwissenschaftler/innen Jan Assmann und Aleida Assmann das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Während 2020 im kommunikativen Gedächtnis als einschneidende Erzählung in die nächste Generation weitergetragen wird – etwa auf der familiären Ebene als das Weihnachtsfest, wo man nicht gemeinsam feiern konnte – wird es auf der Ebene des kulturellen Gedächtnisses ein Jahr sein, an das man nicht gerne erinnert werden wird.

Traumatische kollektive Erfahrungen wollen Gesellschaften so schnell wie möglich vergessen.

Monika Sommer: 2020 wird für Österreich sicher als ein Ausnahmejahr in die Geschichte eingehen. Man könnte sagen, das kommunikative Gedächtnis hat das kulturelle verdrängt. Ein Jahr, in dem etwa die Feierlichkeiten zum 75sten Jahr des Kriegsendes nicht stattfinden konnten. Und: Wir sind 2020 um ein trauriges Kapitel in der Gewaltgeschichte reicher geworden. Mit dem Anschlag vom 2. November in Wien, aber auch mit zunehmenden Attacken, die sich eindeutig einem virulenten Antisemitismus zuordnen lassen. Hier gilt es die Sensorien wieder zu schärfen und zu aktivieren.

Frau Uhl, warum genau will man an die Pandemie nicht erinnert werden?

Uhl: Hier gibt es keinen „Empowerment-Faktor“ – keine Gruppe gewinnt etwas. Anders als bei der Errichtung des Denkmals für die Opfer der Homosexuellen-Verfolgung im Nationalsozialismus oder des Roma-Denkmals, wo betroffene Gruppen ihren Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung auch im Sinne einer emanzipatorischen Kategorie zum Ausdruck bringen können. Denken wir demgegenüber an die Spanische Grippe, die mehr Menschen das Leben gekostet hat als der Erste Weltkrieg, und die dennoch erst jetzt wieder erinnert wird – oder ganz vergessene Bedrohungen, wie jene der Kinderlähmung der Nachkriegszeit. Diese traumatischen kollektiven Erfahrungen wollen Gesellschaften so schnell wie möglich vergessen.

Was erinnert werden wird, ist die erfolgreiche Überwindung.

Wir sind in der Geschichte nicht die Ersten, die mit einer Pandemie einen Umgang finden müssen. Welche Erzählung wird bleiben?

Uhl: Was erinnert werden wird, ist die erfolgreiche Überwindung. Und hier zeigt sich schon ein Narrativ, das fast einem Revival der großen Erzählungen des 19. Jahrhunderts gleichkommt: die heroische Wissenschaft als Retterin der Welt. Allerdings ist es eine Wissenschaft ohne große Heroen. Es sind nicht mehr die Einzelkämpfer und Einzelkämpferinnen, sondern die großen Industriekomplexe der Pharmaindustrie, durch die die rasche Entwicklung von Impfstoffen möglich wurde.

Frau Sommer, wie lässt sich die Situation der Menschen im Jahr 2020 museal erfassen?

Sommer: Der Blick auf die Spanische Grippe und deren kaum vorhandene Musealisierung hat uns gezeigt, dass wir hier sehr rasch handeln müssen. Nämlich so, wie es das HdGÖ seit seiner Gründung macht, also mit einem schnellen Reagieren auf die Gegenwart, einem beschleunigten Sammeln und Ausstellen – im Fachjargon „Rapid Response Collecting“. Auf der ganzen Welt haben die Museen gleichzeitig damit begonnen, zu COVID-19 zu sammeln. Das ist in der Museologie eine absolute Neuheit. Spannend wird sein, welche Ausstellungsprojekte daraus hervorgehen.

Wobei ich zur Spanischen Grippe noch sagen muss, dass sie eigentlich in Amerikanische Grippe umbenannt werden sollte, weil man ja heute weiß, dass der erste Patient eigentlich ein US-amerikanischer Soldat war und die Grippe-Pandemie sicher nicht spanischen Ursprungs ist.

Der Blick auf die Spanische Grippe und deren kaum vorhandene Musealisierung hat uns gezeigt, dass wir hier sehr rasch handeln müssen – im Fachjargon „Rapid Response Collecting“.

Die Museen waren 2020 immer wieder geschlossen. Inwiefern spielen sie beim Erinnern eine systemrelevante Rolle?

Sommer: Wir als Geschichtsmuseum sind absolut systemrelevant. Während des ersten Lockdowns haben wir sofort damit begonnen, diese historische Ausnahmesituation mit zu dokumentieren und zu sammeln, um auch einen Resonanzraum für die Zukunft anlegen zu können. Denn: Diese Pandemie und ihre Nachwirkungen werden uns noch sehr lange begleiten. Und die Objekte und auch die Digitalisate, die jetzt gesammelt wurden, sind Reibebäume für die Zukunft.

Apropos Reibebäume. Welche musealen Zugänge gibt es bei Themen, die nicht gern erinnert werden?

Sommer: Museen sind mehr als eine Ressource für den Tourismus, sie sind immer auch Bildungsinstitutionen – und auf diesem Auftrag müssen wir beharren. Somit gehört es u.a. zu unseren Aufgaben, Themen aufzugreifen, die nicht unbedingt von einer Gesellschaft gewünscht sind. „Undesired Heritage“, also „unerwünschtes Kulturerbe“, nennt das die britische Museumswissenschaftlerin Sharon MacDonald. Das Ausstellen soll immer auch Anlass sein, Gespräche anzuregen und Diskussionen auf Augenhöhe zu führen.

Museen sind mehr als eine Ressource für den Tourismus, sie sind immer auch Bildungsinstitutionen.

So sammelt das HdGÖ immer mit, wenn Proteste stattfinden, so auch bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Dabei ist für uns allerdings noch offen, wie wir mit den Verschwörungstheorien rund um das Virus umgehen werden. Auch spannend: Die vielfältigen nationalen Lösungsansätze, die versucht wurden. Und wo europäische oder globale Wege aus dieser Pandemie zu finden gewesen wären.

Wie hat das Jahr 2020 den Blick auf Museen und auf Gedenkstätten verändert?

Uhl: Gedenkveranstaltungen wie das Fest der Freude am 8. Mai oder die Gedenksitzung im Parlament am 5. Mai, dem österreichischen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, konnten nicht durchgeführt werden, hier wurden neue hybride und digitale Formen entwickelt – und das in einem Jahr, in dem die ganz großen Feiern zum 75sten Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus mit Zeitzeug/innen angestanden wären, die vielleicht zum letzten Mal präsent gewesen wären. Die Frage ist: Wie nachhaltig werden sich Gedenkfeiern in Zukunft verändern? Was wird von diesen digitalen und virtuellen Formaten bleiben?

Haben Sie eine Vermutung?

Uhl: Was sich schon jetzt zeigt: Die Bedeutung, die konkrete Orte als Erfahrungsräume haben. Die Bedeutung des Museums als „Contact Zone“ hat sich in diesem Ausnahmejahr ganz entscheidend gezeigt. Es ist kein Ersatz, wenn ich ein Museum oder eine Gedenkstätte nur virtuell besuchen kann. Es braucht diese Begegnung mit dem Ort und auch die Begegnung mit anderen Menschen, um mit ihnen gemeinsam diesen Ort zu erfahren.

Die Bedeutung des Museums als „Contact Zone“ hat sich in diesem Ausnahmejahr ganz entscheidend gezeigt. Es braucht diese Begegnung mit dem Ort und auch die Begegnung mit anderen Menschen, um mit ihnen gemeinsam diesen Ort zu erfahren.

Sommer: Das Museum kann diesen Raum der gemeinsamen sozialen Erfahrung bieten. Die Frage bei den Museen ist auch, wohin man den Blick bei der Digitalisierung richtet. Man kann eine Sammlung offenlegen und im Katalog der Dinge blättern oder tatsächlich digitale Vermittlungsformate anbieten, bei denen eine Überblicksführung oder sogar ein partizipatives Projekt möglich sind. Die Palette dessen, was hier an Digitalisierungsprojekten realisiert wird, ist sehr breit.

 

AUF EINEN BLICK

Heidemarie Uhl ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie ist Mitglied des internationalen wissenschaftlichen Beirats des HdGÖ.

Monika Sommerist seit 2017 Direktorin des zu Österreichischen Nationalbibliothek gehörenden Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ) in Wien. Sie ist assoziierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW.