04.05.2021 | Corona in Indien

Die Spitze des Eisberges

Fast 20 Millionen Ansteckungen: Kaum ein Land wird gerade so hart getroffen von Covid-19 wie Indien, das im ersten Lockdown erstaunlich wenig Todesfälle zu verzeichnen hatte. Wie es dazu kommen konnte, erklärt ÖAW-Sozialanthropologe Stephan Kloos im Interview.

Indien gehört zu den größten Covid-19-Impfstoffproduzenten weltweit, doch im Land selbst herrscht Mangel. © Paateel / shutterstock.com

Rekordzahlen an Todesopfern, ein überlastetes Gesundheitssystem, überfüllte Krematorien: Aus Indien erreichen uns tägliche neue Schreckensnachrichten. Obwohl rund die Hälfte aller Impfstoffe weltweit in Indien hergestellt werden, ist das Land selbst noch weit entfernt von einer Immunisierung. Stephan Kloos vom Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erklärt im Interview, warum Indien dermaßen hart von der zweiten Covid-19-Welle heimgesucht wird, was die Politik falsch gemacht hat und warum dieses Land erst am Anfang der Krise steht.

Indien hatte letztes Jahr einen harten Lockdown, die Infektionszahlen waren überschaubar. Warum ist die Lage jetzt dermaßen eskaliert?

Stephan Kloos: Der Lockdown war zwar streng, konnte aber nicht so konsequent eingehalten werden wie in reicheren Ländern. Die Dunkelziffer blieb hoch. Es hat die Wanderarbeiter sehr hart getroffen, führte zu einer sozialen Katastrophe. Epidemiologisch war allerdings trotzdem überraschend, dass Indien von der ersten Welle nicht schlimmer getroffen wurde. Darüber wurde viel spekuliert.

Man hat versäumt, sich auf eine zweite Welle vorzubereiten.

Was waren die Hauptthesen?

Kloos: In Indien grassieren viele endemische und epidemische Krankheiten, von Denguefieber über Malaria bis zu Durchfallerkrankungen. Man fragte sich, ob das dazu geführt hat, dass viele Menschen zum Teil auch gegen Covid-19 immun sind. Indien hat zudem eine sehr junge Bevölkerung, auch das könnte ein Grund für die niedrige Sterberate gewesen sein. Die hindu-nationalistische Regierung unter Premierminister Narendra Modi (BJP) wiederum reklamierte die relativ milde erste Welle als politischen Erfolg und als Zeichen einer gewissen indischen Überlegenheit in Bezug auf das indische Immun- wie auch Gesundheitssystem. Dadurch hat man versäumt, sich auf eine zweite Welle vorzubereiten.

In vielen Krankenhäusern herrscht akuter Sauerstoffmangel. War das auch Teil des politischen Missmanagements?

Kloos: Absolut. Kein einziges Spital in Indien – nicht einmal private Elitekrankenhäuser – hat Maschinen, mit denen sie ihren eigenen Sauerstoffbedarf decken können. Sie sind davon abhängig, den Sauerstoff von Drittanbietern teuer einzukaufen. Da stehen wirtschaftliche Interessen dahinter. Wissenschaftler/innen, Ärzte und Ärztinnen, Oppositionspolitiker/innen haben vor diesem Problem gewarnt. Eine zweite Welle war vorhersehbar, aber man hat sich nicht vorbereitet. Das ist einer der Gründe, warum die Modi-Regierung jetzt stark unter Druck ist.

Das religiöse Kumbh-Mela-Fest wurde zum Superspreader-Event.

Was wurde politisch noch falsch gemacht?

Kloos: Anfang dieses Jahres standen für die Regierungspartei wichtige Regionalwahlen an. Besonders in Westbengalen wollte die BJP unbedingt gewinnen. Sie organisierte riesige Wahlveranstaltungen und einen mutwillig in die Länge gezogenen Wahlablauf. Hinzu kam das religiöse Kumbh-Mela-Fest, das zum Superspreader-Event wurde. Eigentlich hätte das Fest erst 2022 stattfinden sollen, aber die Regierung folgte der Meinung einiger Hindu-Astrologen, dass die Planetenkonstellationen dieses Jahr besser seien. Bis jetzt weigert sich die Regierung aus wirtschaftlichen Gründen, einen landesweiten Lockdown zu verhängen.

Indien produziert einen Großteil des Covid-19-Impfstoffes weltweit. Warum dauert die Impfung so lange im eigenen Land?

Kloos: Der Großteil ging in den Export. Der wurde mittlerweile gestoppt, um genug Impfstoff im eigenen Land zu haben, was nun ein großer Rückschlag für die COVAX-Initiative ist, die von Lieferungen aus Indien abhängig ist. Trotz ihrer Riesenkapazitäten kann Indien aber noch nicht so viel produzieren, wie gerade im Land nötig wäre. Es mangelt unter anderem an Rohmaterialen, die man für den Impfstoff braucht, da kämpft man mit Exportbeschränkungen von reichen Ländern wie den USA.

Es mangelt unter anderem an Rohmaterialen, die man für den Impfstoff braucht, da kämpft man mit Exportbeschränkungen von reichen Ländern wie den USA.

Aufgrund von Covid-19 gab es viele Übergriffe auf Chines/innen, der Rassismus wuchs. Ist das auch mit Indien zu befürchten?

Kloos: Ich glaube und hoffe, dass sich das in diesem Fall nicht so stark auswirken wird. Allerdings fragen sich schon viele Inder/innen, warum ihr Land anders behandelt wird als reiche westliche Länder. Als vor ein paar Monaten Europa der große weltweite Corona-Hotspot war, wurde nicht diskutiert, ob man Europa absperrt. Gleichzeitig sind sich viele in Indien bewusst, dass diese Krise zu einem großen Teil hausgemacht ist.

Wie wird es weitergehen in den nächsten Wochen?

Kloos: Die Nachrichten, die es in die großen Medien schaffen, sind nur die Spitze des Eisberges. Tatsächlich ist es noch viel schlimmer, und ich fürchte, dass das erst der Beginn der Katastrophe ist, da die Mortalitätsraten erst zeitversetzt ansteigen und der Höhepunkt dieser zweiten Welle wahrscheinlich noch nicht erreicht ist. Natürlich ist die Situation nicht überall so dramatisch wie in Neu Delhi. Indien ist ein sehr diverses, riesiges Land. Aber auch in Bundesstaaten, die momentan noch relativ gut zurechtkommen, kann sich die Lage schnell ändern. Ich denke, dass Indien noch sehr harte Zeiten bevorstehen.

 

AUF EINEN BLICK

Stephan Kloos ist interimistischer Direktor des Instituts für Sozialanthropologie der ÖAW und ERC-Preisträger. Er promovierte in Medizinanthropologie an der University of California, San Francisco & Berkeley. Zahlreiche Feldforschungen führten ihn nach China, in die Himalayaregion und nach Indien.