15.02.2021 | Corona-Statistik

Covid verringert Lebenserwartung, stiehlt aber keine Lebensjahre

Die durchschnittliche Lebenserwartung in Österreich ist laut vorläufigen Zahlen der Statistik Austria im Corona-Jahr 2020 um sechs Monate gesunken. Das heißt aber nicht, dass die Österreicher/innen jetzt weniger alt werden, erklärt Demograph Marc Luy von der ÖAW.

Wenn die Pandemie bald überwunden wird, sollte die Lebenserwartung in Österreich wieder steigen. © Shutterstock.com

Die Coronapandemie hat laut den bisher bekannten Bevölkerungszahlen zu einer Verringerung der durchschnittlichen Lebenserwartung im Jahr 2020 um sechs Monate geführt. Kürzer leben werden die Menschen insgesamt aber trotzdem nicht. Klingt widersprüchlich? Ist es aber nicht, erklärt Marc Luy vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Denn die durchschnittliche Lebenserwartung wird für jedes Jahr neu berechnet. Das bedeutet: Ein heute Neugeborenes würde insgesamt ein halbes Jahr kürzer leben, wenn jedes Jahr 2020 wäre: „Für diese hypothetischen Durchschnittsbabys findet also jeder Geburtstag 2020 statt, mitten in der Corona-Pandemie“, verdeutlicht Luy. Das ist aber wenig wahrscheinlich. Denn wenn es gelingt, die Pandemie bald zu überwinden, sollte auch die Lebenserwartung in Österreich wieder steigen, so der Demograph im Interview.

Ein Rückgang der Lebenserwartung um sechs Monate klingt dramatisch. Wie schätzen Sie das ein?

Marc Luy: Dass die Lebenserwartung im Jahr 2020 gesunken ist, ist an sich keine große Überraschung. Das haben die Sterbezahlen schon länger angedeutet. Dass durch die Pandemie vor allem oberhalb des Alters von 60 Jahren mehr Menschen gestorben sind, wirkt sich besonders stark auf den Indikator Lebenserwartung aus. Ein Rückgang von sechs Monaten ist ein merkbarer Knick im Trend, aber auch kein Jahrhundertereignis. Die durchschnittliche Lebenserwartung zeigt immer kurzfristige Schwankungen. Auch 2015 hatten wir in Österreich einen Rückgang von 0,3 Jahren. In einigen Nachbarländern ging die Lebenserwartung damals sogar um ein halbes Jahr zurück.

Wie wird die Lebenserwartung überhaupt berechnet?

Luy: Das ist eine wirklich wichtige Frage. Der Indikator ist nämlich nicht das, was die meisten Menschen aufgrund seiner Bezeichnung erwarten würden. Der Begriff Lebenserwartung klingt nach einer Prognose und der Rückgang durch die Coronapandemie so, als ob wir jetzt alle im Vergleich zu früher ein halbes Jahr kürzer leben würden. Das stimmt so aber nicht.

Vereinfacht gesagt heißt der aktuelle Rückgang der Lebenserwartung, dass ein neugeborener Mensch sechs Monate weniger lang leben würde, wenn jedes seiner Lebensjahre wie 2020 aussähe.

Die durchschnittliche Lebenserwartung wird für jedes Jahr neu berechnet, indem alle Sterbefälle des Jahres aufgeschlüsselt nach Alter und Geschlecht in Beziehung gesetzt werden zur entsprechenden Zahl der Lebenden. Daraus ermittelt man dann für jedes Alter, wie hoch die Wahrscheinlichkeit in diesem Jahr war, den nächsten Geburtstag zu erleben. Vereinfacht gesagt heißt der aktuelle Rückgang der Lebenserwartung also, dass ein neugeborener Mensch sechs Monate weniger lang leben würde, wenn jedes seiner Lebensjahre wie 2020 aussähe.
 

Es handelt sich also um einen vertikalen Schnitt durch die Bevölkerungsstruktur?

Luy: Genau. Die durchschnittliche Lebenserwartung verknüpft die Daten aus dem jeweiligen Kalenderjahr und drückt aus, wie lange in diesem Jahr Neugeborene im Schnitt leben würden, wenn sie ihr ganzes Leben in jedem Alter genau die Überlebenswahrscheinlichkeiten dieses Jahres erfahren würden. Für diese hypothetischen Durchschnittsbabys findet also jeder Geburtstag 2020 statt, mitten in der Corona-Pandemie.

Ereignisse wie Corona hinterlassen Spuren in der Lebenserwartung, die aber gleich wieder verschwinden sollten, sobald die Pandemie vorbei ist.

Tatsächlich werden wir aber hoffentlich nur einen oder maximal zwei Geburtstage während der Pandemie durchleben. Der Zweck des Indikators Lebenserwartung ist es, die gegenwärtige Gesundheitssituation in einem Land in einer Zahl auszudrücken, damit man sie mit früheren Jahren vergleichen kann. Deshalb steigt die durchschnittliche Lebenserwartung in Ländern wie Österreich normalerweise jedes Jahr etwas an, weil die medizinische Versorgung und die Lebensbedingungen besser werden.
 

Der aktuelle Rückgang der Lebenserwartung bedeutet also nicht, dass Menschen, die 2020 geboren wurden, im Durchschnitt weniger alt werden?

Luy: Das tatsächliche Sterbealter der heute Lebenden kann man auch projizieren, wenn man möchte. Das ist dann aber eine völlig andere Berechnung, weil man die Überlebenswahrscheinlichkeiten hier im Längsschnitt schätzen würde statt sie für den Querschnitt zu berechnen. Deswegen ist der Begriff Lebenserwartung vor allem in der Querschnittsbetrachtung unglücklich gewählt, weil er falsche Erwartungen weckt. Als Instrument, um die Sterblichkeitsverhältnisse einer Bevölkerung in einem bestimmten Jahr auszudrücken, funktioniert er aber gut.

Wie lange wird es dauern, bis der negative Effekt von Corona auf die Lebenserwartung verschwunden sein wird?

Luy: Ereignisse wie Corona hinterlassen Spuren in der Lebenserwartung, die aber gleich wieder verschwinden sollten, sobald die Pandemie vorbei ist. Sollte es aber neben der momentanen Erhöhung der Sterblichkeit schwere Langzeitfolgen bei vielen der überlebenden Infizierten geben, dann könnten sich auch in einigen Jahren noch Corona-Effekte in der Lebenserwartung zeigen. Zum Beispiel wenn sich herausstellt, dass Corona-Erkrankte in zehn bis 20 Jahren anfälliger für Herz-Kreislauferkrankungen sind. Das wissen wir heute aber noch nicht. Die kurzfristigen Folgen der Pandemie auf die Lebenserwartung klingen in der Regel aber schnell ab.

Wie stark ist der Einfluss zufälliger Schwankungen?

Luy: Die können einiges ausmachen und das Bild von der gegenwärtigen Lebenserwartung verzerren. Ein Grund für das plötzliche Sinken der Lebenserwartung 2015 war, dass 2014 ein Ausreißer nach oben war. 2014 war die Grippewelle sehr schwach und im Sommer gab es vergleichsweise wenig Hitzetote. Im Frühjahr 2015 gab es dann eine wesentlich heftigere Grippewelle, die zu einer stark erhöhten Zahl an Sterbefällen führte.

2021 wird die Lebenserwartung vermutlich wieder steigen, wenn wir den Kampf gegen die Pandemie schnell gewinnen und sie nicht weiter zu zusätzlichen Sterbefällen führt.

Der Rückgang der Lebenserwartung erschien aber nur durch den Vergleich mit dem günstigen Vorjahr 2014 so dramatisch. Im Vergleich zu 2013 war die Lebenserwartung 2015 höher. Auch 2019 stieg die Lebenserwartung deutlich an, wenngleich nicht ganz stark wie das 2014 der Fall war. Der 2020-Rückgang kann also nur zum kleinen Teil auf Ausreißereffekte im Jahr 2019 zurückzuführen sein. Dass Corona für den Großteil der zusätzlichen Toten und den Rückgang der Lebenserwartung verantwortlich ist, lässt sich daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen.

Heißt das, dass die Lebenserwartung in Österreich 2021 stark steigen wird?

Luy: 2021 wird die Lebenserwartung vermutlich wieder steigen, wenn wir den Kampf gegen die Pandemie schnell gewinnen und sie nicht weiter zu zusätzlichen Sterbefällen führt. Wie stark der Anstieg sein wird, kann man schlecht vorhersagen. Das hängt davon ab, wie schnell wir die Pandemie in den Griff bekommen und was sonst im Verlauf des Jahres noch passiert. Sollte die Eindämmung von Corona allerdings nicht gelingen und die Sterblichkeit weiter so hoch bleiben, dann könnte die Lebenserwartung auch auf dem aktuellen Niveau bleiben oder vielleicht sogar noch etwas zurückgehen.

Es ist etwa zu erwarten, dass die sinkende Lebenserwartung Männer, Ältere und Personen aus sozial schwächeren Gruppen stärker betrifft. Darauf deuten einige internationale Studien hin.

Hat Corona auch positive Auswirkungen auf die Lebenserwartung, etwa durch eine geringere Zahl von Verkehrstoten?

Luy:  Es ist durchaus möglich, dass es durch die Lockdowns zu einer geringeren Zahl von Verkehrstoten kommt. Für den Wert der Lebenserwartung wird dieser Rückgang aber weniger bedeutend sein als der Anstieg der Todesfälle durch das Virus selbst. Dazu kommt, dass Corona wohl auch indirekte Sterbefälle bewirkt, etwa wenn durch medizinische Engpässe eine Behandlung an anderen Erkrankungen wie Krebs später begonnen werden kann.

Sind die Zahlen für das Jahr 2020 bereits fix oder handelt es sich noch um Schätzungen?

Luy: Für das Jahr 2020 liegen noch keine vollständigen Daten vor. An den von der Statistik Austria veröffentlichten Schätzungen der Lebenserwartung wird sich jedoch vermutlich nicht mehr viel ändern. In den kommenden Monaten werden aber sicher detailliertere Studien zum Einfluss von Corona erscheinen, die auch Auswirkungen auf einzelne Gruppen, zum Beispiel nach Alter, Geschlecht oder Bildung, untersuchen. Es ist etwa zu erwarten, dass die sinkende Lebenserwartung Männer, Ältere und Personen aus sozial schwächeren Gruppen stärker betrifft. Darauf deuten zumindest einige internationale Studien hin. Für Österreich ist das derzeit allerdings noch Spekulation. Wenn wir die detaillierten Daten für 2020 vorliegen haben, vor allem auch zu den Todesursachen der Sterbefälle, können wir uns das ganz genau ansehen.

 

AUF EINEN BLICK

Marc Luy Marc leitet die Forschungsgruppe “Health and Longevity” am Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und ist korrespondierendes Mitglied der ÖAW. Zuvor war er Junior Professor für Demographie an der Universität Rostock. Er forschte u.a. am Max Planck Institute for Demographic Research in Rostock sowie am deutschen Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden.