09.01.2020 | Historische Stereotype

Wir und die Anderen

Was verraten historische Reiseberichte über Konstruktionen von Fremdheit? ÖAW-Historiker Arno Strohmeyer untersucht die Wahrnehmungen des Orients in der Geschichte und erzählt im Interview, warum das Wissen über diese „Fremdbilder“ auch für die Gegenwart von Bedeutung ist.

Historische Ansicht von Jaffa aus dem Buch: „Bilder aus dem Orient“ von August Löffler und Moritz Busch, Triest: 1864 © ÖNB

„Es ist wichtig, die Menschen über das Thema Fremdheit aufzuklären, ihnen bewusst zu machen, dass Fremdheit immer etwas Konstruiertes ist, das stets von der eigenen Position ausgeht“, sagt der Historiker Arno Strohmeyer. Sein Team und er untersuchen am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und der Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) Fremdheit in ihrer historischen Dimension. Konkret analysiert das Projekt Travelogues Wahrnehmungen „des Anderen“ und „des Orients“ in europäischen Reiseberichten von 1500 bis 1876 aus den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek.

Die geschichtlichen Orientbilder waren kürzlich auch Thema einer Konferenz an der ÖAW, die Forscher/innen aus zahlreichen Ländern in Wien versammelte. Was dort genau diskutiert wurde, mit welchen digitalen Methoden die Forschung an diese Reisenberichte herangeht und warum manche Stereotype von damals noch heute wirken, erklärt Arno Strohmeyer im Interview.

Was können uns historische Reiseberichte aus dem Orient über Fremdheit erzählen?

Arno Strohmeyer: Sie können zeigen, wie Fremdheit entsteht. Wie wird Fremdheit konstruiert, wie wird sie wahrgenommen, wie wird sie verarbeitet, wie weitergegeben?  Wie werden daraus stereotype Bilder von Ländern oder Kulturen? Reiseberichte sind dazu eine sehr gute Quelle. Zum einen, weil sehr viele solcher Texte überliefert sind. Zum anderen, weil sie dem Autor Gelegenheit geben, seine Empfindungen und Wahrnehmungen relativ ausführlich dazulegen.

Fremdheit ist ein Schlüsselproblem unserer Zeit. Unsere Gesellschaft braucht Zuwanderung, wenn wir unser Sozialsystem aufrechterhalten wollen. Und Zuwanderung bedeutet Auseinandersetzung mit Fremdheit.

Sie haben kürzlich die Tagung “On the Way into the Unknown?” mitorganisiert. Was war das Ziel dieser Konferenz?

Strohmeyer: Das Thema waren Orientbilder in Reiseberichten der Neuzeit, also im Zeitraum von etwa 1500 bis 1900. Die Grundfragestellung lautete, welche Bilder Reisende aus Europa von den bereisten orientalischen Ländern zeichnen – von deren Menschen, deren Kultur, deren Religion. Diese Fremdwahrnehmungen wollten wir in einem möglichst breiten Rahmen analysieren. Breit insofern, als dass Berichte von Reisenden aus verschiedenen Herkunftsländern diskutiert wurden. Zugleich haben wir versucht, möglichst viele unterschiedliche Forschungsperspektiven zu integrieren. Wir hatten Vortragende aus 12  Ländern und drei Kontinenten zu Gast. Jedes dieser Länder hat eine eigene Wissenschaftskultur, eine spezielle Forschungslandschaft und damit auch einen spezifischen Blick auf dieses Thema.

Das Feindbild vom Türken oder Vorbehalte gegenüber dem Islam bedienen im 21. Jahrhundert die gleichen Bilder wie im 16. Jahrhundert.

Was macht diese Forschungen für die Gegenwart so brisant?

Strohmeyer: Der Hintergrund dieser Forschung ist eine sehr aktuelle Problemlage, die in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Fremdheit ist ein Schlüsselproblem unserer Zeit. Unsere Gesellschaft braucht Zuwanderung, wenn wir unser Sozialsystem aufrechterhalten wollen. Und Zuwanderung bedeutet Auseinandersetzung mit Fremdheit. Auch durch diverse Globalisierungsprozesse sind wir heute ständig mit Fremdheit konfrontiert. Damit müssen wir umgehen. Das wiederum ist einfacher, wenn man besser versteht wie Fremdheit zustande kommt. Ich halte es außerdem für wichtig, zu sehen wie bestimmte Bilder bis in die Gegenwart fortdauern, selbst wenn sich der Kontext völlig verändert hat. Das Feindbild vom Türken oder Vorbehalte gegenüber dem Islam beispielsweise bedienen im 21. Jahrhundert die gleichen Bilder wie im 16. Jahrhundert. Auch diese Erkenntnis ist in meinen Augen ein wichtiger Gewinn.

Die Konferenz war Teil des Projekts „Travelogues“. Was ist das Besondere an diesem Projekt?

Strohmeyer: Das Spezielle daran ist die enge Beziehung zu den Digital Humanities. Travelogues ist ein internationales und interdisziplinär ausgelegtes Projekt, an dem die ÖAW, das Austrian Institute of Technology, die Österreichische Nationalbibliothek und das Forschungszentrum L3S der Universität Hannover beteiligt sind. Finanziert wird es vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF und der deutschen DFG. Ziel des Projekts ist es, alle digitalisierten Orientreiseberichte der Österreichischen Nationalbibliothek aus der Zeit zwischen 1500 und 1876 durch eigens entwickelte Algorithmen zu analysieren und die dort beschriebenen Fremdwahrnehmungen systematisch zu untersuchen. Das Thema Fremdheit ist generell sehr schwer zu analysieren, das ist auch auf der Konferenz wieder deutlich geworden. Deswegen sind neue Methoden so wichtig.

 

AUF EINEN BLICK

Arno Strohmeyer ist seit 2017 wissenschaftlicher Direktor und stv. Direktor am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der ÖAW. Er studierte Geschichte und Ethnologie an der Universität Wien und forschte u.a. am Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig,  an der Universität Bonn und der Universität Wien. Seit 2007 ist Strohmeyer Professor für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Universität Salzburg und seit 2013 korrespondierendes Mitglied der ÖAW.

Die Konferenz „On the Way into the Unknown?“ diskutierte die Thematik von Fremdwahrnehmungen am Beispiel (früh-)neuzeitlicher Reiseberichte über den Orient. Sie fand von 28. bis 30. November 2019 in Wien statt.