08.11.2016

LETZTE ORTE VOR DER DEPORTATION. KLEINE SPERLGASSE, CASTELLEZGASSE, MALZGASSE

66.000 Jüdinnen und Juden in Österreich wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Der Weg in die Vernichtung begann für einen großen Teil dieser Menschen mitten in Wien, in den Sammellagern Kleine Sperlgasse, Castellezgasse und Malzgasse. Eine neue Ausstellung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften beleuchtet ab 9. November 2016 in der Krypta des Heldendenkmals diese vergessenen Orte des Holocaust und die Schicksale der Opfer der Deportationen.

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Der Weg in die Vernichtung begann mitten in der Stadt. Kleine Sperlgasse 2a, Castellezgasse 35, Malzgasse 7 und 16 – diese Adressen in der Wiener Leopoldstadt sind im kollektiven Gedächtnis Österreichs kaum präsent. In der Topographie der Shoah sind es jedoch zentrale Orte. Hier haben sich in der Zeit des nationalsozialistischen Terrors vier Sammellager befunden, in denen Jüdinnen und Juden vor der Deportation interniert und in Gruppen von je 1.000 Personen in Lastwägen zum Aspangbahnhof überstellt wurden. Von dort brachten insgesamt 45 Deportationszüge diese Menschen zwischen Februar 1941 und Oktober 1942 in Ghettos und Vernichtungslager. Der Großteil der mehr als 66.000 österreichischen Opfer der Shoah wurde somit von den vier Wiener Sammellagern aus in die Vernichtung geschickt.

Eine neue Ausstellung des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beleuchtet von 9. November 2016 bis 30. Juni 2017 unter dem Titel „Letzte Orte vor der Deportation“ im Äußeren Burgtor am Wiener Heldenplatz diese lange Zeit vergessenen Stationen des Holocaust und die Schicksale der dort internierten Menschen.

„Der Öffentlichkeit sind diese Orte heute kaum bekannt und nur wenige historische Originalquellen sind erhalten“, erklärt ÖAW-Historikerin und Kuratorin Heidemarie Uhl. „Die Ausstellung möchte daher bewusst machen, dass der Holocaust nicht nur in den Konzentrationslagern stattfand, sondern hier begann, inmitten der Stadt, in der unmittelbaren Nachbarschaft, vor den Augen der Wiener Bevölkerung“, so Uhl weiter.

Für die Ausstellung wurden Interviews mit den letzten Überlebenden der Wiener Sammellager geführt. Sie sind als Videos zu sehen und geben einen Einblick in die hermetisch abgeschlossene Welt, in der die Deportationstransporte organisiert wurden. Vom Leben und vom Leiden in den Lagern erzählen auch zahlreiche Fotografien, Postkarten, Briefe und Gedichte deportierter Menschen sowie Deportationslisten, Notizen und Dokumente der Täter. Viele dieser oftmals aus Privatbesitz stammenden Ausstellungsstücke sind erstmals öffentlich zu sehen.

„Der Ausstellungsort selbst führt zudem in die Spannungsfelder der österreichischen Zeitgeschichte“, erläutert Co-Kuratorin Monika Sommer: „Die Krypta des Heldendenkmals wurde ursprünglich den gefallenen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs gewidmet. Nun wird hier an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Die Ausstellung leistet damit auch einen Beitrag zur Transformation des Heldendenkmals in einen historischen Lern- und Vermittlungsort für die Gegenwart.“

Wien 1941: „Einrücken“ in die ersten Sammellager

„Zirka drei Wochen nach meinem 14. Geburtstag haben wir die Verständigung gekriegt, dass wir in ein Sammellager gehen müssen“, erzählt Helga Feldner-Busztin, eine der wenigen österreichischen Überlebenden des Holocaust, von dem Tag, an dem sie und ihre Familie die Aufforderung zum „Einrücken“, der Einberufung in eines der Wiener Lager, erhielten. Wer sich weigerte, wurde ausgeforscht und eingeliefert. Anfang des Jahres 1941 lebten in Wien noch rund 61.000 Menschen, die nach Definition der nationalsozialistischen „Rassengesetze“ als Jüdinnen und Juden galten. Sie alle – Kinder, Jugendliche, Männer, Frauen und alte Menschen – sollten nach dem Willen der Nazis in die Vernichtung geschickt werden.

Die Deportationen in Wien wurden von der NS-„Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ organisiert, geleitet vom SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, einem der berüchtigsten Gehilfen von Adolf Eichmann bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas. Brunner richtete die Sammellager in jüdischen Schulen ein, zunächst in der Castellezgasse 35 und der Kleinen Sperlgasse 2a in der Wiener Leopoldstadt. Zwischen dem 15. Februar und 12. März 1941 wurden von hier fünf Transporte mit 5.031 Menschen in offenen Lastwägen zum Aspangbahnhof gebracht, um in Züge nach Polen gepfercht zu werden. Die Fahrt durch die Stadt glich dabei oftmals einem Spießrutenlauf: „Schau Dir an, die Juden. Naja, schleicht’s euch, san wir froh, dass wegfahrts“, so gibt Herbert Schrott, der mehrere Konzentrationslager überlebte, die Reaktionen von Passanten entlang des Weges vom Lager zum Bahnhof in einem Video in der Ausstellung wieder.

„Juden raus“: Die Deportationen beginnen

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden die antijüdischen Maßnahmen der Nazis weiter verschärft. Ab September verpflichtete man Jüdinnen und Juden ab sechs Jahren den gelben „Judenstern“ zu tragen. Mitleid ebenso wie offene Feindseligkeit schlugen den nun öffentlich Stigmatisierten entgegen, wie die damals jugendliche Feldner-Busztin beschreibt: „Ich bin da auf dem Franz-Josefs-Kai gegangen mit dem Stern und plötzlich ist eine Frau gekommen und hat mir eine Watsche gegeben und hat gesagt: ‚Du Judensau!’ (...) Zufällig an einer ähnlichen Stelle, auch am Kai, ist eine andere Frau gekommen und hat mir ein Sackerl Obst in die Hand gedrückt und hat gesagt: ‚Du armes Kind!’“

Den Sammellagern und der drohenden Vernichtung ist Ende 1941 schließlich kaum mehr zu entkommen. Auswanderung wurde verboten und Alois Brunners „Zentralstelle“ begann damit, Jüdinnen und Juden auf der Straße und in Wohnungen systematisch „auszuheben“, wie es im damaligen NS-Jargon hieß.  Mitarbeiter der Israelitischen Kultusgemeinde wurden gezwungen, als „Rechercheure“ und „Ausheber“ mitzuwirken. Der Zeitzeuge Herbert Schwarz beschreibt in der Ausstellung diese Razzien: „Und dann plötzlich am Abend, in der Nacht, sind die SS und die SA reingekommen: ‚Die Juden raus! Raus, raus, raus!.’ Da hat jeder den Koffer genommen und ist rausgelaufen und endete am Lastwagen.“ Die Deportationslisten wurden nun immer länger. Die Ausstellung zeigt eine dieser Listen für einen Transport vom 24. September 1942 nach Theresienstadt. Unter den verzeichneten Namen ist auch Viktor Frankl zu finden. Der international renommierte Psychoanalytiker überlebte mehrere Konzentrationslager und wurde 1945 von der US-Armee aus dem KZ Dachau befreit.

Trostlosigkeit, Demütigung, Enteignung: Leben in den Lagern

Die Situation in den Lagern selbst war trostlos. Die ehemaligen Schulgebäude boten kaum Platz für die vielen Internierten, waren im Winter nicht beheizt und die Lebensmittelversorgung war unzureichend. Die Angst vor der sogenannten „Kommissionierung“ ist ständiger Begleiter. Denn sie entschied darüber, wer deportiert und wer „zurückgestellt“ oder aus dem Lager entlassen wurde. Es war ein Akt der Demütigung. Die SS-Männer zerrissen Heimatscheine und Reisepässe vor den Augen der Lagerinsassen, die einen Vermögensverzicht unterschreiben und Bargeld sowie Wertgegenstände aushändigen mussten. Auf eine „Zurückstellung“ konnte nur hoffen, wer durch nicht-jüdische Verwandte geschützt war, eine ausländische Staatsbürgerschaft besaß oder zu den Angestellten der Kultusgemeinde zählte. Alle anderen wurden in Lastwägen zum Aspangbahnhof gebracht.

„Fahre morgen ins Dunkle“: Vom Lager in die Vernichtung

„‚Aspangbahnhof’. Schon der Name allein löst in mir Schaudern aus“, hält die Holocaust-Überlebende Edith de Zeeuw-Klaber noch Jahrzehnte später fest. Die 19-jährige wurde am 4. Jänner 1942 mit ihren Eltern deportiert. Sie beschrieb die Abfahrt vom Bahnhof als eine quälende „Reise ins Ungewisse“. Die Wiener Jüdin Rita Rockenbauer ahnte hingegen bereits, was ihr bevorstand. In einem berührenden Brief, der in der Ausstellung erstmals zu sehen ist, schreibt sie an ihren geschiedenen Mann: „Nun bin ich soweit und fahre Morgen ins Dunkle – in die Fremde – ins Unglück!! Wer kann es wissen, ob wir uns je im Leben wieder sehen werden – nach aller Voraussicht – nicht mehr; und doch fühle ich mich noch so jung – so unverbraucht - - warum muss ich soviel leiden? Warum?“ Rita Rockenbauer wurde am 14. September 1942 nach Maly Trostinec deportiert und ermordet.

Rita Rockenbauer ist einer von insgesamt 45.451 Menschen, die von Februar 1941 bis zum letzten der großen Deportationstransporte am 9. Oktober 1942 von den Nazis in Ghettos und Vernichtungsorte gebracht wurden. Der Weg nach Maly Trostinec, nach Auschwitz-Birkenau, Chelmo, Belzec, Sobibor oder Treblinka begann in der Kleinen Sperlgasse, der Castellezgasse und der Malzgasse – mitten in der Stadt, vor den Augen der Wienerinnen und Wiener. Nur 989 österreichische Überlebende dieser Deportationen sind bekannt.

„Macht über Leben und Tod“: Die Täter wurden kaum behelligt

Und die Täter? Alois Brunner, der Leiter der Wiener „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, konnte nach Syrien fliehen und starb vermutlich 2009 oder 2010 in Damaskus. Josef Weiszl, ein gefürchteter „Deportationsexperte“, dessen lakonisch von ihm mit „Meine Dienstzeit“ betiteltes Fotoalbum in der Ausstellung auszugsweise zu sehen ist, wurde 1949 in Paris zu lebenslanger Haft verurteilt, erhielt später in Wien Heimkehrerfürsorge und starb 1984. Anton Brunner, ein „eiskalter Sadist, der seine Macht über Leben und Tod genoß“ – so die Holocaust-Überlebende Susanne Kriss – wurde nach Kriegsende verhaftet, in Wien zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. Doch nur wenige der für die Deportationen verantwortlichen NS-Täter wurden so wie Brunner nach 1945 vor Gericht zur Rechenschaft gezogen.

 

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