20.02.2023 | Wiengeschichte

Willkommene Gastarbeiter, unerwünschte Migranten

Wien lebte schon immer von Zuwanderung. Warum aus Gastarbeitern im Laufe der Jahre Migranten wurden, erklärt der ÖAW-Historiker Wladimir Fischer-Nebmaier – und zeigt anhand der verwendeten Begriffe, wie sich die Haltung der Politik und der Medien verändert hat.

Am Wiener Brunnenmarkt treffen viele Kulturen zusammen. © Wikimedia Commons
Am Wiener Brunnenmarkt treffen viele Kulturen zusammen. © Wikimedia Commons

In Wien müsse man nur einen Blick ins Telefonbuch oder in die Speisekarten werfen, um zu verstehen, dass diese Stadt schon immer ein Schmelztiegel gewesen sei, lautet ein beliebtes Bonmot. Der Kabarettist Georg Kreisler schrieb 1957 sogar ein Lied darüber. In seiner „Telefonbuchpolka“ zählt er typische Wiener Namen auf: „Alle meine Freind stehn drin. Und zwar auf Seite Vau: Vondrak, Vortel, Viplaschil, Voytech, Vozzek, Vimladil, Viora, Vrabel, Vrtilek,
Viglasch, Vrazzeck, Vichnalek“. Nimmt man das Telefonbuch als Spiegel der heimischen Realität scheint der viel zitierte „echte Wiener“ vor allem aus den späteren Ländern Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien zu kommen. Wien war Hauptstadt eines großen Reiches, Franz Joseph herrschte über 53 Millionen Menschen aus 15 verschiedenen Nationalitäten. Und in den 1970er-Jahren folgten Arbeitskräfte aus Jugoslawien und der Türkei.

Migration war lange Zeit kein Thema

Wenn FP-Politiker Gottfried Waldhäusl vor Kurzem ein „Wien wie früher“ heraufbeschwört, stellt sich die Frage, was er damit meint. Und, warum eine Stadt, die stets von der Zuwanderung gelebt hat, sich plötzlich vor unerwünschten Migrant:innen abschotten sollte. „Bis in die späten 1980er-Jahre musste man nach Meldungen in den Zeitungen suchen, Migration war kein Top-Thema wie heute“, sagt der ÖAW-Historiker Wladimir Fischer-Nebmaier. „In den der ÖVP nahestehenden Medien in den 1960er- und 1970er-Jahren wurden Gastarbeiter, wie man damals sagte, vor allem dann als problematisch gesehen, wenn es zu wenige davon gab. Aber auch das war ein mediales Rand-Thema, mit dem man keine Wahl hätte gewinnen können.“

Gleichzeitig betont Fischer-Nebmaier wie problematisch die Rede vom „Schmelztiegel“ in der aktuellen Debatte sei. „Es handelt sich um einen Propaganda-Begriff aus den USA aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ist eigentlich das Gegenteil eines multikulturellen Verständnisses. Im Schmelztiegel werden unterschiedliche Metalle zu einem vermischt. Man könnte sagen, dass etwa das Wiener Tschechische ein Opfer des Schmelztiegels wurde.“

Begriffsgeschichte erzählt von politischer Wahrnehmung

Überhaupt verrate die Begriffsgeschichte viel über Veränderungen in der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung. „Von Migrant:innen spricht man in den Medien erst seit rund 20 Jahren, meist als Synonym für Flüchtlinge. Zuvor war Migration ein neutraler Wissenschaftsbegriff, oft auch im Kontext der Sozialarbeit“, so Fischer-Nebmaier. In den 1920er- und 1930er-Jahren war von Immigranten und Emigranten die Rede, vor allem, wenn es um die USA ging, oft durchaus positiv besetzt. In den 1970er-Jahren sprach man in Österreich von Ausländern, Gastarbeitern oder Fremden. Auf den neutralen Begriff Migrant:innen wich die Wissenschaft aus, weil die Unterscheidung in Immigration und Emigration nicht mehr vertretbar erschien. „Es entspricht meist nicht der Realität, dass jemand ein- oder auswandert in ein bestimmtes Land, diese Zielgerichtetheit der Erzählungen überdeckt multiple Bewegungen“, sagt Fischer-Nebmaier.

Sein Fazit: „Was aus der Diskursgeschichte ganz deutlich wird: Wenn es den Zielen bestimmter Elitengruppen dient, Migration zu problematisieren, werden sie das tun (so wie jetzt). Wenn Migration den Interessen bestimmter Elitengruppen gerade dienlich ist, werden sie die Probleme im öffentlichen Diskurs verschweigen oder relativieren (so wie in den 1970ern). Das erkennt man etwa daran, dass dieselben der ÖVP nahestehenden Medien, die in den 1960er- und 1970er-Jahren von der Notwendigkeit der Gastarbeiter für die Wirtschaft schrieben, heute (mit ganz anderen Chefredaktionen als damals, natürlich) das Thema Migration nach Belieben aufbauschen.“

 

AUF EINEN BLICK

Wladimir Fischer-Nebmaier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Bandherausgeber bei der Edition der Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848−1918 (insbesondere deren digitale Edition) am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).