24.11.2022 | Querdenker

WIE VIEL ANTISEMITISMUS IN DER IMPFGEGNERBEWEGUNG STECKT

Warum die Verbindung von Impfgegnerschaft und antisemitischem Verschwörungsdenken nicht neu ist und was sie mit der Abkehr von wissenschaftlichem Denken zu tun hat, erklärt ÖAW-Historiker Martin Tschiggerl im Interview.

© Unsplash/Kajetan Sumila

Die Ablehnung von Impfungen ist so alt wie das Impfen selbst – und war schon im 19. Jahrhundert mit antisemitischen Verschwörungsdenken verbunden. Der Historiker Martin Tschiggerl erforscht die historischen Entwicklungslinien innerhalb der deutschsprachigen Impfgegnerbewegung. Im Interview berichtet er von antisemitischen Verschwörungsnarrativen in alternativmedizinischen Milieus.

VON DER LEBENSREFORMBEWEGUNG ZUR DEN QUERDENKERN

Sie forschen zur deutschsprachigen Impfgegnerbewegung und spannen dabei einen Bogen vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Wie homogen ist denn die gegenwärtige Querdenkerbewegung?

Tschiggerl: Die gegenwärtige Querdenkerbewegung ist ausgesprochen heterogen. Was sie eint, ist die ablehnende Haltung gegenüber der Covid-19 Impfungen sowie der Anti-Corona-Maßnahmen. Sie reicht über die klassisch bürgerliche Protestbewegung über die „Hippie“- oder „New Age Bewegung“, beinhaltet alternativmedizinische Strömungen wie auch rechts-esoterische und rechtsradikale Vertreter:innen, etwa die österreichischen Identitären, die versucht haben sich die Impfgegnerbewegung hierzulande zunutze zu machen.

Die österreichischen Identitären haben versucht, sich die Impfgegnerbewegung hierzulande zunutze zu machen.

In welcher historischen Tradition stehen die Impfgegner:innen?

Tschiggerl: Historische Parallelen lassen sich zu Bewegungen festmachen, die im 19. Jahrhundert entstanden sind, etwa die Lebensreformbewegung. Stark ausgeprägt war auch dort der Widerstand gegen das, was sie als „Schulmedizin“ bezeichneten. In meiner begonnenen Habilitation zeige ich die historischen Entwicklungslinien auf, wie sich diese im deutschsprachigen Raum durch das 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart gezogen haben. Denn: Ein Großteil der sogenannten Querdenkerbewegung rekurriert auf Ideen und Positionen aus diesem Milieu. Und: Ein guter Teil dieser Bewegungen trat in der Vergangenheit offen antisemitisch auf.

ANTISEMITISMUS ALS ARCHETYP EINES VERSCHWÖRUNGSNARRATIVS

Ist der Antisemitismus das, worin sich die deutschsprachige Impfgegnerbewegung von anderen unterscheidet?

Tschiggerl: Das ist eine meiner Thesen. Es gab ähnliche Bewegungen in Großbritannien, in Frankreich oder auch in den USA, aber diesen offenen Antisemitismus finden wir v.a. in Österreich und Deutschland. Ebenso die starken personellen Überschneidungen, etwa mit Paul Förster, einem der führenden Impfgegner Ende des späten 19. Jahrhunderts und Autor zentraler antisemitischer Texte. Oder in der Gegenwart, mit Attila Hildmann, einem der Köpfe der radikalen Querdenker-Bewegung im Jahr 2020, der mittlerweile per Haftbefehl gesucht wird und offener Antisemit ist.

Allerdings ist der Antisemitismus kein Alleinstellungsmerkmal, denken wir beispielsweise an die QAnon-Verschwörungstheorie, die erst im Zuge der Covid-19 Pandemie aus den USA nach Europa übergeschwappt ist und auf klassisch-antisemitischen Topoi aufbaut.

Und: Nicht jeder der radikalen Querdenker ist auch gleichzeitig Antisemit, aber auch wenn sie selbst keine Antisemiten sind, haben sie offensichtlich kein Problem, sich mit Antisemiten zu verbünden und mit offensichtlich Rechtsextremen und Neo-Nazis gemeinsam zu demonstrieren.

Die QAnon-Verschwörungstheorie, die erst im Zuge der Covid-19 Pandemie aus den USA nach Europa übergeschwappt ist, baut auf klassisch-antisemitischen Topoi auf.

Apropos Nationalsozialisten. Die Haltung im NS-Staat gegenüber Impfungen war lange Zeit sehr ablehnend, oder?

Tschiggerl: Die Nationalsozialisten waren hier, wie in anderen Bereichen, sehr ambivalent. Innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung gab es überzeugte Impfgegner, wie beispielsweise Julius Streicher oder Rudolf Hess, die alternativmedizinische Bewegungen förderten, etwa die Neue Deutsche Heilkunde. Gleichzeitig gab es im NS-Staat aber eine defacto Impfpflicht, um die Ausbreitung unterschiedlichster Infektionskrankheiten einzudämmen. Durchgesetzt wurden die breit angelegten Impfkampagnen vor allem über sozialen Druck um die „Wehrkraft“ zu erhalten und die Bevölkerung vor der Übertragung diverser Krankheiten von den im Reich befindlichen Zwangsarbeiter:innen zu schützen.

Sie bezeichnen den Antisemitismus als Archetyp eines Verschwörungsnarrativs. Inwiefern?

Tschiggerl: In der Argumentation vieler Verschwörungsnarrative wird der jüdischen Bevölkerung eine geheime Agenda unterstellt. Je nachdem, in welcher Zeit und von welchem Standpunkt aus dieser Verschwörungsmythos erzählt wird, ist es entweder eine Verschwörung von unten, also „die Juden“ versuchen beispielsweise durch Impfungen die Weltherrschaft an sich zu reißen, oder eine Verschwörungstheorie von oben, wonach „die Juden“ bereits die Welt beherrschen und durch die Impfungen diese Weltherrschaft sichern wollen.

In der Argumentation vieler Verschwörungsnarrative wird der jüdischen Bevölkerung eine geheime Agenda unterstellt, wonach „die Juden“ bereits die Welt beherrschen und durch die Impfungen diese Weltherrschaft sichern wollen.

Ist jede:r Impfgegner:in zwingend ein:e Verschwörungstheoretiker:in?

Tschiggerl: Nicht zwingend. Es hängt davon ab, wie diese Impfgegnerschaft artikuliert wird. Schon im 19. Jahrhundert existierten zwei große Lager: Auf der einen Seite die eher liberal Denkenden, die Impfungen nicht grundsätzlich ablehnten, sich aber gegen einen Impfzwang aussprachen, also konkret gegen das Reichsimpfgesetz von 1874.

Und auf der anderen Seite?

Tschiggerl: Dort, wo Impfungen zur Gänze abgelehnt werden, dominieren Verschwörungstheorien. Wer behauptet, Impfungen funktionieren nicht, stellt sich gegen wissenschaftliche Erkenntnisse und unzählige Studien und Metastudien, die das Gegenteil beweisen. Man kann solche Behauptungen nur aufstellen, wenn man an eine riesige Verschwörung glaubt, wonach alle Studienergebnisse gefälscht sind, und sowohl Ärzt:innen als auch Politiker:innen lügen oder belogen werden.

VERSCHWÖRUNG ALS MITTEL DER POLITIK

Was charakterisiert Verschwörungsdenken?

Tschiggerl: Eines der zentralen Charakteristika von Verschwörungstheorien ist der Glaube an eine böse Gruppe, die im Dunklen, im Hintergrund agiert, die das wahre Wissen geheim hält, fälscht, lügt und betrügt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Kurz gesagt: sobald der Glaube an eine Verschwörung gegeben ist und diese dazu benutzt wird, Kausalitäten herzustellen, wo ohne eine imaginierte Verschwörung keine auszumachen wären, handelt es sich um eine Verschwörungstheorie. Dazu kommt ein Weltbild, das sehr stark in Gut und Böse denkt. Narrative, die Komplexität zu reduzieren versuchen und einfache Erklärungen liefern.

Dort, wo Impfungen zur Gänze abgelehnt werden, dominieren Verschwörungstheorien. Wer behauptet, Impfungen funktionieren nicht, stellt sich gegen wissenschaftliche Erkenntnisse.

 Wann ist die gegenwärtige Impfbewegung zu einem gesellschaftlichen Problem geworden?

Tschiggerl: Wie wir wissen, ist es im Zuge der Pandemie zu einer Radikalisierung gekommen. Waren die Gruppen auf Social Media zu Beginn noch divers und kritisch eingestellt, haben sie sich sehr schnell radikalisiert. Das passierte u.a. durch Astroturfing Kampagnen, also gezielt durch gefälschte Accounts, wodurch radikalere Inhalte immer mehr Zustimmung gefunden haben. Das hat die Dynamik in den Foren manipuliert und die Menschen radikalisiert. Spätestens mit Trump ist die Verschwörungstheorie als legitimes Mittel in die Politik zurückzukehrt. Durch die Pandemie hat sich das weiter verstärkt. Das ist gefährlich für unseren demokratischen Grundkonsens.

 

AUF EINEN BLICK

Martin Tschiggerl ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Davor war er u.a. als Gastwissenschaftler an der University of Chicago sowie an der Humboldt Universität zu Berlin.

Beim Jour fixe Kulturwissenschaften am 24.11.2022 präsentiert er an der ÖAW einen Werkstättenbericht seines laufenden Habilitationsprojekts zur deutschsprachigen Impfgegnerbewegung.

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