10.01.2022 | TV-Analyse

Was Spiras „Alltagsgeschichten“ über Österreich verraten

Der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, das war die Kunst von Elizabeth T. Spiras ORF-Reihe „Alltagsgeschichten“. Die Kommunikationsforscher/innen Christian Oggolder und Christina Krakovsky analysieren nun, wie sich diese öffentlichen Äußerungen von Menschen in Österreich im Laufe der Zeit gewandelt haben. Besonderes Augenmerk legen sie dabei auf die Themen Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und den Wandel von Geschlechterbildern.

Frau vor Geschäftslokalen in Wien
© Unsplash/Nguyen Minh

Ob beim  Heurigen, am Würstelstand oder auf der Donauinsel: Von 1985 bis 2006 porträtierte die Journalistin Elizabeth T. Spira, die 2019 verstorben ist, in der ORF-Dokumentationsreihe „Alltagsgeschichten“ unterschiedliche Menschen in Österreich. Vornehmlich in Wien. Gesellschaftlich brisante Themen haben in den insgesamt 60 Ausgaben genauso ihren Platz gefunden wie Persönliches, manchmal schmerzhaft ehrlich erzählt. Vor laufender Kamera traf Elizabeth T. Spira aber auch häufig auf heftige politische Diskussionen – und auf viel Rassismus und Sexismus.

Ob und wie sich die Grenze des Sagbaren im Zeitverlauf verschob und welche Themen Mitte der 1980er-Jahre nur angedeutet, zehn Jahre später aber schon ausgesprochen wurden, das haben die beiden Forscher/innen Christina Krakovsky und Christian Oggolder vom Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Klagenfurt untersucht.

Sie suchen nach Verschiebungen des Sagbaren in Elizabeth T. Spiras „Alltagsgeschichten“, die zwischen 1985 und 2006 im ORF ausgestrahlt wurde. Welche Folgen haben Sie dabei ausgewählt?

Christina Krakovsky: Einen Schwerpunkt unserer Forschung bildet das Thema Migration und die Art und Weise, wie Menschen darüber sprechen. Bei den etwa 20 ausgewählten Folgen, also zirka einem Drittel des Gesamtmaterials, haben wir darauf geachtet, dass sie über die Jahre einen Querschnitt ergeben. Historisch bedeutende Ereignisse fanden in diesem Zeitraum statt, etwa der Anfang des Jugoslawienkrieges. Ein anderes zentrales Thema war die Waldheim-Affäre und die antisemitischen Äußerungen, die in den Gesprächen immer wieder aufgekommen sind.

Es ist eine Verschiebung inhaltlicher Schwerpunkte von antisemitischen Äußerungen hin zu allgemein ausländerfeindlichen Stellungnahmen festzustellen.

Ihre Analysen stützen sich auf die Sprachebene. Wie sind Sie vorgegangen?

Christian Oggolder: Methodisch basiert die Studie auf einer qualitativen Inhaltsanalyse. In einem ersten Schritt haben wir die ausgewählten Filme codiert, also thematisch relevante Aussagen und Erklärungszusammenhänge erfasst. Es handelt sich dabei um keine linguistische oder sprachanalytische Forschung, sondern um eine kommunikationswissenschaftliche Analyse mit historischen und politikwissenschaftlichen Aspekten.

Von Antisemitismus zu Ausländerfeindlichkeit

Welche Themen wollte man Mitte der 1980er Jahre nur andeuten, die zehn Jahre später bereits ausgesprochen wurden? Auf welche Verschiebungen sind Sie gekommen?

Oggolder: Unsere Hypothese war, dass die Protagonistinnen und Protagonisten in der „Alltagsgeschichte“ als Folge zunehmender rechtspopulistischer Rhetorik im Zeitverlauf weniger Scheu zeigen, antisemitische, ausländerfeindliche, sexistische etc. Äußerungen in der Öffentlichkeit zu tätigen. Das konnten wir nicht bestätigen, vielmehr ist eine Verschiebung inhaltlicher Schwerpunkte von antisemitischen Äußerungen hin zu allgemein ausländerfeindlichen Stellungnahmen festzustellen.

Die Folge „Am Stammtisch“ wurde vom ORF sogar erst fast 30 Jahre später, 2016, ausgestrahlt, weil es offensichtlich zu heftig war, was Frau Spira da dokumentiert hatte.

Woran lässt sich das festmachen?

Oggolder: Das lässt sich zum einen an den veränderten politischen Rahmenbedingungen festmachen, zum anderen aber auch am Generationenwechsel. Rund um die Waldheim-Affäre waren es ehemalige Kriegsteilnehmer, die mit antisemitischen Äußerungen ihr Handeln und jenes von Waldheim zu rechtfertigen versuchten. Die Folge „Am Stammtisch“ (1988) wurde vom ORF sogar erst fast 30 Jahre später, 2016, ausgestrahlt, weil es offensichtlich zu heftig war, was Frau Spira da dokumentiert hatte und senden wollte. In der Frühphase der Serie waren also schockierend offen-antisemitische Äußerungen dominierend. In späteren Jahren sind verstärkt jüngere Menschen vor die Kamera getreten, für deren Lebensrealität das sogenannte „Ausländerthema“ zentral war – und das knüpft an den Diskurs an, den die FPÖ im Laufe der Jahre zunehmend beherrscht.

Sie haben sich in Ihrer Auswertung auch mit den sexistischen Äußerungen der Protagonist/innen beschäftigt. Was haben Sie hier herausgefunden?

Krakovsky: Wir sind hier noch in der Analyse. Die Verschiebungen, die wir aber schon jetzt sehen, sind weniger drastisch, als wir angenommen hätten. Ein Beispiel: Wenn über Frauen gesprochen wird, dann sind Schönheit und Alter die großen Attribute. Das ist gleichgeblieben: Die schöne junge Frau wird in Gegensatz zur älteren Frau gesetzt, die als weniger attraktiv gesehen wird.

Rollenbilder bleiben klassisch

Gibt es auch Tendenzen, wonach sich Rollenbilder über die Jahre verändern?

Krakovsky: Verändert hat sich die Art, wie über die Aufteilung von Hausarbeiten gesprochen wird. Zwar bleibt die klassische Rollenaufteilung Normalität, aber es gibt eine größere Offenheit von Männern, darüber zu sprechen, dass sie „mithelfen“ und Aufgaben übernehmen. Das heißt, dass die Naturalisierung vom Bild des dominanten Mannes abnimmt und aufbricht. Auch die Weise, wie Partnerschaft abgebildet wird, erfährt eine Verschiebung. Während in den späten 1980er Jahren stärker von pragmatischen Gründen und finanziellen Grundlagen der Partnerschaft gesprochen wird, kommen in den Jahren danach beispielsweise auch ältere, alleinstehende Frauen vor, die offenherzig darüber reden, dass sie jüngere Partner suchen. Präsentiert werden auch weniger diskutierte Lebensentwürfe, etwa unverheiratete Paare oder homosexuelle Beziehungen. Es tut sich etwas. Aber: Wenn es um Rollenzuschreibungen geht, tut sich überraschend wenig.

Ein Anliegen von Elizabeth T. Spira war es, Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht im Fernsehen vorkommen würden.

„Alltagsgeschichte“ ist untrennbar mit Elizabeth T. Spira verbunden. Hat sich ihr Interviewstil im Zeitverlauf verändert?

Oggolder: Was schon in anderen Forschungsarbeiten festgestellt wurde: Elisabeth T. Spira tritt im Laufe der Zeit aktiver auf. Während es sich zu Beginn um eine traditionelle Dokumentation mit einer Erzählstimme aus dem Off handelte, kann man gegen Ende der Reportagereihe Frau Spira dabei zusehen, wie sie mit dem Mikrofon in der Hand auf die Menschen zugeht, meistens mit der Einstiegsfrage: „Wie geht es Ihnen?“ Wesentlich dabei ist: Durch die Auswahl der Gesprächspartner/innen wird eine bestimmte Realität konstruiert. In unserer Analyse versuchen wir, diese Auswahl mit den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit zu verbinden.

Stereotype aufbrechen

Haben Sie auch untersucht, welche Menschen Frau Spira vor die Kamera holt?

Krakovsky: Wir haben keine quantitative Analyse gemacht, wer tatsächlich zu Wort kommt und wer nicht. Aber: Ein Anliegen von Elizabeth T. Spira war es, Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht im Fernsehen vorkommen würden. Das ist eine spezifische Auswahl. So rückt sie zum Beispiel Arbeiterinnen in Fabriken, Sexarbeiterinnen und ältere Frauen ins Bild. Oder eine Migrantin am Brunnenmarkt, die über andere Migrant/innen schimpft. Die Frauen, die sie zeigt sind divers und sie sagen unterschiedliches. Sowohl klischeehaft, als auch untypisch.

Ist es das, was die Haltung der „Alltagsgeschichten“ auszeichnet?

Krakovsky: Eine Stärke dieses Formats ist es, dass Frau Spira häufig vereinfachte Darstellungen durchleuchtet und durch die Art und Weise, wie sie unterschiedliche Menschen darstellt, Stereotype aufbricht. In ihrer Serie gibt es sowohl starke und unabhängige Frauen als auch stereotype, die im Hintergrund sitzen und alles abnicken.

 

AUF EINEN BLICK

Christian Oggolder ist Senior Scientist am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Klagenfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienentwicklung und Medienwandel, Mediengeschichte, Memory Studies und Media Literacy.

Christina Krakovsky ist Junior Scientist am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der ÖAW und der Universität Klagenfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medien und politische Partizipation, Öffentlichkeit und Erinnerungskultur sowie Medien- und Kommunikationsgeschichte.

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