03.10.2023 | Gender & Diversity

Warum alle Kinder von Inklusiver Bildung profitieren

Sich an individuellen Bedürfnissen orientieren und Teilhabemöglichkeiten für alle verbessern, ist das Ziel der Inklusiven Bildung. Was es dafür braucht, darüber spricht Tobias Buchner, Professor für Inklusive Pädagogik, im Interview. Er hält eine Lecture in der Reihe „Gender & Diversity“ an der ÖAW.

Studien bestätigen, dass die Lernerfolge von nicht behinderten Schüler:innen in inklusiven Settings gleich oder manchmal sogar besser sind, als in nicht inklusiven Klassen. © Adobe Stock

Ein Ort, wo Differenzen als Ressource betrachtet werden und die Diversität der Schüler:innen willkommen geheißen wird: So könnte eine Schule aussehen, in der Inklusion gelebt wird. Doch stattdessen herrscht ein ableistisches Verständnis von Bildung vor, das behinderte Menschen gemäß einer hierarchisierten Grenzziehung im Sinn von "dis/abled" ausschließt. Welche Strategien und Konzepte es für Inklusive Bildung gibt, wie man Ableism verlernen kann und warum es eine ableism-kritische Professionalisierung von Lehrenden an Schulen und Universitäten benötigt, beleuchtet Tobias Buchner, Professor an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich und Leiter des Instituts für Inklusive Pädagogik, im Interview.

Im Rahmen einer Lecture zu Gender & Diversity an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wird er am 4. Oktober zum Thema „Bildung und Fähigkeit – ableism-kritische Überlegungen zu inklusivem Lernen und Lehren“ sprechen.

Wie steht es um die Inklusion in Österreichs Schulen?

Tobias Buchner: Es gibt noch viel Luft nach oben. Der Grund: Es wird versucht, Inklusion in einem ableistischen Schulsystem umzusetzen. Dabei stehen unter anderem die Curricula sowie die jahrgangsbasierte Taktung des Bildungssystems, wonach Kinder im Gleichschritt lernen sollen, im Widerspruch zur inklusiven Bildung. Auch die momentan in Österreich favorisierte Variante der Umsetzung Inklusiver Bildung, die so-genannte Integrationsklasse, ist Beleg dafür, dass versucht wird, inklusive Bildung in spezifischen Territorien umzusetzen – während der Rest des Bildungssystems unverändert bleibt. Wie z.B. der so-genannte sonderpädagogische Förderbedarf, der die Schüler:innenschaft symbolisch in nicht_normal binarisiert und diese letztlich entlang von Fähigkeitserwartungen hierarchisiert und somit den Anliegen inklusiver Bildung diametral entgegen steht. Selbst jene Kinder mit Behinderungen, die in sogenannte Integrations- oder Inklusionsklassen platziert sind, erfahren die systemisch angelegte Zweiteilung auch innerhalb der Mauern der Regelschule.

Bei der Inklusion in Österreichs Schulen gibt es noch viel Luft nach oben.

In Österreich ist es der Normalfall, dass Kinder nach der Volksschule mit zehn Jahren an weiterführende Schulen verteilt werden. Wo gibt es hier Raum für Inklusion?

Buchner: Inklusion findet in der Regel in der Primarstufe, also in der Volksschule, in Integrationsklassen sowie in Mittelschulen der Sekundarstufe 1 statt. Das Gymnasium erweist sich hingegen als Bollwerk, das ganz klar macht, dass inklusive Bildung und der damit verbundene Anspruch an Lernen in den Räumen des Gymnasiums nichts verloren hat. Für die Oberstufe schaut es noch schlechter aus, was wiederum auf die ableistische Ordnung, die unser Bildungssystem grundlegend strukturiert, verweist.

Apropos Ableism: Wie grenzt sich der Begriff von Behindertenfeindlichkeit ab?

Buchner: Ableism taucht gerade auf Social Media als Begriff vermehrt auf, wie zum Beispiel in Form des Hashtags #ableismtellsme. Hier erzählen Personen mit Behinderungen von diskriminierenden Erfahrungen. Ableism meint jedoch mehr als Behindertenfeindlichkeit, nimmt die gesamtgesellschaftlichen Strukturen in den Blick und durchleuchtet, wie das vermeintlich Normale in der Mehrheitsbevölkerung konstruiert wird und darüber bestimmte Subjekte ausgeschlossen werden.

Ableism meint mehr als Behindertenfeindlichkeit, er nimmt die gesamtgesellschaftlichen Strukturen in den Blick.

Wie würde denn eine ableism-kritische, inklusive Schule anders organisiert sein?

Buchner: Es gibt in Österreich Schulen, die selbst in dem herrschenden ableistischen Korsett, das unser Schulsystem prägt, inklusive Strukturen schaffen. Um Schulen aber generell inklusiv gestalten zu können, braucht es einen grundlegenden Wandel des Bildungssystems. Dazu muss man sich trauen, die Grundpfeiler des Bildungssystems zu ändern, etwa die jahrgangsbasierten Klassen und die damit verbundenen Homogenisierungsphantasien. Für inklusives Lernen braucht es zudem eine Verkleinerung von Klassengrößen und entsprechenden pädagogischen Support. Wenn man der Vision einer inklusiven Schule folgen will, dann muss man sich auch von dem Label „sonderpädagogischer Förderbedarf“ verabschieden. Die Unterschiede der Schüler:innen würden als Ressource betrachtet werden. Schüler:innen würden voneinander lernen und gleichzeitig gemeinsam, aber auch individuell gefördert werden. Dafür braucht es auch sehr gut ausgebildete Lehrkräfte.

Ein Grund, warum alle Kinder von einer inklusiven Schule profitieren?

Buchner: Größere quantitative Studien bestätigen, dass die Lernerfolge von nicht behinderten Schüler:innen in inklusiven Settings gleich oder manchmal sogar besser sind, als in nicht inklusiven Klassen. Schließlich leben wir im Jahr 2023 in einer diversifizierten Gesellschaft. Die Art und Weise, wie Schüler:innen lernen sollen, und auch die Inhalte, werden dem nicht gerecht. Empirische Befunde zeigen auch, dass inklusive Bildung für soziales Lernen sehr zuträglich ist, Kinder sollen hier eine spezifische Form der Solidarität sowie einen ermächtigenden Umgang mit Diversität erlernen.

Wenn man der Vision einer inklusiven Schule folgen will, muss man sich vom Label „sonderpädagogischer Förderbedarf“ verabschieden. Die Unterschiede der Schüler:innen würden als Ressource betrachtet.

Wie kann man denn Ableism verlernen? Welche pädagogischen Konzepte gibt es hier?

Buchner: Ableism ist sehr häufig der unsichtbare Elefant im Raum. Schon in der Schule lernen wir, dass es normal ist, sich permanent anhand von Noten bewerten zu lassen und nach Fähigkeiten hierarchisiert und letztlich auch segregiert zu werden. Dazu kommt wie gesagt das Label „sonderpädagogischer Förderbedarf“ und man erlernt toxische Vorstellungen von Behinderung, etwa durch Kampagnen wie Licht ins Dunkel, wo Menschen mit Behinderung als Bittsteller dargestellt werden – fremdbestimmt und ohne Rechte. In der Lehrer:innenausbildung ist es unsere Aufgabe, sich diese ableistischen Setzungen zu vergegenwärtigen, zu reflektieren und eine entsprechende Arbeit am Selbst zu betreiben. Für angehende Lehrer:innen ist es aber auch wichtig, die Begrenzungen des Systems zu erkennen, das Möglichkeitsräume verschließt.

 

AUF EINEN BLICK

Tobias Buchner ist Leiter des Instituts Inklusive Bildung und Professor für Inklusive Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Linz mit dem Schwerpunkt Kognitive Entwicklung.

 

Vortrag

„Bildung und Fähigkeit – ableism-kritische Überlegungen zu inklusivem Lernen und Lehren“

Termin:

4. Oktober 2023, 17:00 Uhr

Österreichische Akademie der Wissenschaften, Theatersaal

Sonnenfelsgasse 19

1010 Wien

Anmeldung unter akg(at)oeaw.ac.at