03.10.2022 | Konferenz

Ukraine-Krieg und Zweiter Weltkrieg – lässt sich das vergleichen?

Historische Vergleiche sind ein Mittel zum Erkenntnisgewinn, aber auch eine rhetorische Kampfzone der Propaganda. Das zeigt sich deutlich im Ukrainekrieg, wo jede Partei andere Analogien zum Zweiten Weltkrieg zieht. Der deutsche Historiker Joachim von Puttkamer erklärt im Gespräch, welche Narrative es gibt. Er ist als Vortragender bei einer Konferenz zum Thema an der ÖAW zu Gast.

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Um die Gegenwart zu verstehen, werden in der politischen Diskussion gern Vergleiche herangezogen. Eine Methode, die allerdings auch ihre Tücken hat. Welche Motive hat man, sich in eine bestimmte Tradition zu stellen? Welche Mythen werden da aktiviert? Und, welche historischen Vergleiche sind schlichtweg empörend?

KRIEG DER NARRATIVE

Das Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) veranstaltet vom 6. bis zum 7. Oktober 2022 in Wien seine Jahreskonferenz zum Thema „Der historische Vergleich. Erkenntnisgewinn und Kampfzone“. Einer der Vortragenden ist der deutsche Historiker Joachim von Puttkamer, der sich mit der Rhetorik im Krieg in der Ukraine beschäftigt. Welche Narrative greift Russland auf, welche die Ukraine? Und warum zieht man besonders in Deutschland gern Parallelen zum Zweiten Weltkrieg?

Im Ukrainekrieg wird verstärkt eine Analogie zum Zweiten Weltkrieg hergestellt. Warum ist das ein verbindendes Narrativ?

Joachim von Puttkamer:  Weil wir noch immer im Horizont des Zweiten Weltkrieges leben. Dieses Geschehen und dieses Leid ist für uns leicht abrufbar. Bei Vergleichen mit dem Ersten Weltkrieg oder gar dem Krim-Krieg muss man immer erst etwas erklären. Obwohl die Unterschiede auch beim Zweiten Weltkrieg augenfällig sind: Jede Nation hat andere Erfahrungen gemacht und einen anderen Blick auf die Geschichte. Jede interpretiert und nutzt sie für eigene Zwecke.

Jede Nation hat andere Erfahrungen gemacht und einen anderen Blick auf die Geschichte. Jede interpretiert und nutzt sie für eigene Zwecke.

Wie sieht die Sicht der Ukraine aus?

Puttkamer:  In seinen Reden kurz nach dem Kriegsbeginn hat sich Staatschef Wolodymyr Selenskyj sehr deutlich auf das Jahr 1941 bezogen. Seine Aussage war: Kiew wird bombardiert, ein Aggressor versucht unser Land zu erobern, wir sind in Lebensgefahr. Es ging um die Erfahrung, aus heiterem Himmel überfallen zu werden, die zur Analogie mit dem Überfall von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion führte.

VERGLEICH MIT 1939

Was wollte man mit diesem Vergleich bewirken?

Puttkamer:  Selenskyjs Ansprachen sind zuvorderst an die eigene Bevölkerung gerichtet. Insofern ging es in diesem konkreten Vergleich auch darum, das Entsetzen überhaupt in Worte zu fassen und verständlich zu machen. Man wollte sich in der Position des Opfers klar artikulieren. Und damit eine Gemeinschaft schaffen. Aber natürlich war es auch ein Appell an den Westen zu handeln und zu helfen.

Es ging um die Erfahrung, aus heiterem Himmel überfallen zu werden, die in der Ukraine zur Analogie mit dem Überfall von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion führte.

Wie wurde diese Analogie in Deutschland interpretiert?

Puttkamer: Hier dominierte der Vergleich mit 1939, dem deutschen Überfall auf Polen. Schnell wurde der russische Staatschef Putin mit Hitler verglichen. Es wurde beschworen, dass man mit dem Erbe der Friedensbewegung, also mit Pazifismus, jetzt nicht mehr weiterkommt. Viele politischen Entscheidungsträger, die Teil der SPD und Grünen sind, haben ja in der Friedensbewegung ihre biografische Sozialisation erlebt. Man hat allerdings gesehen, dass Demonstrieren auf der Straße gegen den Ukrainekrieg nichts an der Situation ändert. Die Bundesregierung in Deutschland hat sich auf Waffenlieferungen verständigt. Der völker- und menschenrechtliche Impetus, der Ukraine mit allen Mitteln helfen zu wollen, hat sich durchgesetzt.

In der russischen Bezeichnung der ukrainischen Seite als faschistisch oder neonazistisch schwingt ja auch mit, dass der sowjetische Sieg gefährdet sei und jetzt noch einmal vollendet werden müsse.

Was ist problematisch an den Vergleichen mit dem Nationalsozialismus?

Puttkamer:  Gerade die Gleichsetzung Putins mit Hitler dämonisiert. Man kann dadurch zwar die Genozide, die seine Armee in der Ukraine zweifelsohne begeht, benennen, aber sie haben doch einen deutlich anderen Hintergrund als das NS-Vernichtungsprogramm gegenüber den Juden – und auch andere Mittel. Und natürlich kann man Russland militärisch nicht so niederringen wie seinerzeit NS-Deutschland. Es ist auch fraglich, ob man das wollen kann.

MORALISCHER HANDLUNGSDRUCK

Warum tätigt man diese Vergleiche dann?

Puttkamer:  Um eine moralische Eindeutigkeit zu erzeugen. Einen Handlungsdruck herzustellen, dass es eigentlich nur eine Option gibt, wie man in dieser Situation handeln kann. Man hat den Nationalsozialismus nicht rechtzeitig stoppen können, man möchte diesen Fehler nicht wiederholen. 

Wie blickt die russische Seite auf die NS-Zeit?

Puttkamer:  Die russische Propaganda stellte früh den Donbass-Konflikt ins Zentrum. Auch sie beruft sich auf den Zweiten Weltkrieg, der aus russischer Sicht unter schweren Verlusten gewonnen wurde. Das Narrativ heute ist: Wir wollen uns diesen Sieg nicht nehmen lassen. In der Bezeichnung der ukrainischen Seite als faschistisch oder neonazistisch schwingt ja auch mit, dass der sowjetische Sieg gefährdet sei und jetzt noch einmal vollendet werden müsse.

 

Joachim von Puttkamer ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Co-Direktor des Imre Kertész Kolleg. Er forscht u.a. zu osteuropäischen Erinnerungskulturen und historischen Vergleichen.

Die Jahreskonferenz des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) diskutiert historische Vergleiche als wissenschaftliche Methode und als geschichtspolitisches Argument. Die Konferenz findet vom 6. bis 7. Oktober 2022 in Wien statt und kann auch im Livestream verfolgt werden.

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