Srebrenica und die Schatten der Vergangenheit
07.07.2025
Am 11. Juli 2025 jährt sich der Genozid von Srebrenica zum 30. Mal – ein Verbrechen, das bis heute die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Bosnien und auf dem gesamten Balkan prägt. Im Interview analysiert die Politologin Ljiljana Radonić die konflikthafte Erinnerungskultur in der Region und erklärt, warum ohne Anerkennung der eigenen Schuld keine Versöhnung möglich ist.
Folgen des Weltkriegs
Im Jahr 2025 jährt sich der Genozid von Srebrenica zum 30. Mal – und das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Wie stehen diese beiden Erinnerungen in Beziehung zueinander?
Ljiljana Radonić: Die Jugoslawienkriege sind auch Folge einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit, insbesondere des Zweiten Weltkriegs. Damals tobte in Jugoslawien ein Bürgerkrieg zwischen kroatischen Ustascha, serbischen Tschetniks und Titos Partisan:innen – mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung. Nach dem Krieg wurde diese Geschichte im sozialistischen Jugoslawien ausgeblendet. Statt Aufarbeitung dominierte die Devise „Brüderlichkeit und Einheit“.
Gerade dieses Verdrängen begünstigte in den 1980er-Jahren die Reaktivierung alter Feindzuschreibungen. In meiner Forschung untersuche ich, wie in den 1990ern die Konfliktparteien historische (Selbst-)Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgriffen. Serbische Paramilitärs trugen erneut Tschetnik-Symbole, Kroat:innen bezogen sich unkritisch auf den Ustascha-Staat und nannten die neue Währung „Kuna“, wie zuletzt 1945.
Wenn der Feind als „Nazi“ gilt, bleibt kein Raum für eigene Schuld.
Hat diese verdrängte Vergangenheit auch die Erinnerungskultur nach den Kriegen der 1990er beeinflusst?
Radonić: Absolut. Sie dient teils sogar als Rechtfertigung für serbische Gewalt: Man behauptete, man müsse sich wehren, um einen neuen Genozid an Serben verhindern – wie einst durch die Ustascha. Auch das Narrativ, selbst „neue Juden“ zu sein, wurde von allen Seiten bedient. Die Gegner wurden entsprechend als „Nazis“ oder „Faschisten“ bezeichnet. Das erschwert jede kritische Selbstreflexion – insbesondere, da zwar die meisten und schlimmsten Verbrechen von serbischer Seite begangen wurden, aber auch die Kroati:innen und Bosniak:innen Verbrechen verantworteten. Wenn der Feind als „Nazi“ gilt, bleibt kein Raum für eigene Schuld.
Verlust und Leere
Sie beschäftigen sich intensiv mit musealer Aufarbeitung. Was fällt an der Gedenkstätte in Srebrenica auf?
Radonić: Auffällig ist der bewusste Verzicht auf Holocaust-Vergleiche. Das unterscheidet sie von anderen Einrichtungen wie dem „Museum für Verbrechen gegen die Menschheit und Genozid“ in Sarajevo, das visuelle Analogien zieht – etwa zwischen Armbinden, die Bosniak:innen im Krieg der 1990er tragen sollten und solchen im Warschauer Ghetto.
Die Srebrenica-Gedenkstätte hingegen wurde gemeinsam mit niederländischen Expert:innen konzipiert und konzentriert sich auf individuelle Opfergeschichten. Nicht Schockbilder, sondern persönliche Biografien stehen im Mittelpunkt. Auch die Darstellung der Fluchtkolonne aus Srebrenica durch bosnisch-serbisches Territorium greift auf das bekannte Symbol Schuhe zurück, jedoch ohne Gleichsetzung: im Wald gesammelte Schuhe der Flüchtenden sind auf einer Glasplatte ausgestellt und werfen so Schatten auf den Boden, dass sie die Schritte der Fliehenden symbolisieren. Die Ausstellung thematisiert Verlust und Leere, ohne Heroisierung und Sinnstiftung. In Sarajevo wird hingegen sexualisierte Gewalt deutlicher thematisiert, während sie in Srebrenica eher am Rande vorkommt. Die bosnische Museumslandschaft ist also vielfältig.
Aktives Erinnern
Sie kritisieren in Sarajevo eine „Pädagogik des Horrors“. Was meinen Sie damit?
Radonić: Wenn Museen, wie in Sarajevo, auf drastische Bilder setzen, etwa verwesende Leichen, aufgeschlitzte Körper. Solche Darstellungen schockieren, können aber auch überwältigen.
Diese überlagern in Sarajevo die individuellen Schicksale: Etwa die Geschichte einer Frau, die in einem Vergewaltigungslager war. Beim Verlassen fand sie einen Teller aus ihrem früheren Restaurant und übergab ihn später dem Museum. Damit wird sie nicht nur als Opfer gezeigt, sondern als handelnde Person, die aktiv erinnert und dokumentiert. Solche Perspektiven sind wichtig – sie zeigen Handlungsspielräume trotz brutaler Gewalt.
Geschichte für Politik manipuliert
Sie sprechen von einem „Krieg der Erinnerungen“. Wie zeigt sich das heute?
Radonić: Serbische Politiker:innen erkennen den Genozid in Srebrenica nicht an. Sie rechtfertigen die Verbrechen in den 1990er Jahren mit der angeblichen Verhinderung eines Genozids, wie ihn die kroatischen Ustascha im Zweiten Weltkrieg an ihnen begangen haben. Die kroatische Regierung hingegen leugnet den Ustascha-Genozid an den Serb:innen. Deshalb trat etwa der Direktor der KZ-Gedenkstätte Jasenovac, Ivo Pejaković, zurück, weil er sich weigerte, diesen Teil der Geschichte zu tilgen. Obwohl Wissenschaftler:innen aller Seiten die historischen Fakten etabliert haben, wird Geschichte vielfach für aktuelle politische Zwecke manipuliert.
Und in Bosnien?
Radonić: Die Lage ist noch komplexer. Der Staat ist de facto geteilt – in die bosniakisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska. Letztere lehnt den Begriff „Genozid“ für Srebrenica strikt ab. Würde man ihn anerkennen, käme auch das eigene Kriegshandeln ins Wanken – etwa das Narrativ, man habe nur einen Genozid an Serben verhindern wollen. Die offizielle Leugnung bleibt daher die Norm.
Zum 30. Jahrestag wird das wieder sichtbar: Am 11. Juli wird der Opfer von Srebrenica gedacht, am 12. Juli veranstalten die bosnischen Serben ihre eigene Gedenkfeier – für serbische Opfer. Auch in Srebrenica selbst gibt es einen Gedenkraum für serbische Opfer. Mit beidem wird eine falsche Gleichsetzung des Leids auf beiden Seiten betrieben. Das zeigt, wie politisch aufgeladen dieser Ort bleibt. Eine umfassende, kritische Aufarbeitung steht noch aus.
Mitverantwortung von Deutschland und Österreich
Es reicht nicht, auf andere Länder zu verweisen.
Gibt es auch Initiativen, die sich für eine andere Erinnerungskultur einsetzen?
Radonić: Ja, zivilgesellschaftliche Gruppen leisten wichtige Arbeit – etwa „Dokumenta“ in Kroatien oder „Frauen in Schwarz“ in Serbien. Die kroatische Wochenzeitung Feral Tribune dokumentierte bereits während des Krieges auch Verbrechen an serbischen Zivilist:innen – und wurde dafür verfolgt. Solche Gruppen sind marginalisiert, aber engagiert. Und sie zeigen: Es reicht nicht, auf andere Länder zu verweisen, die ebenfalls lange für die Aufarbeitung brauchten, das hilft den jetzt um Aufarbeitung bemühten nicht. Österreich und Deutschland tragen Mitverantwortung – auch historisch durch ihre Rolle auf dem Balkan.
Was wären nächste Schritte – auch mit internationaler Beteiligung?
Radonić: Wichtig wäre, dass man auch den Genozid an den Serb:innen im Zweiten Weltkrieg anerkennt – trotz seiner Instrumentalisierung heute. Die Erinnerung an Holocaust und Roma-Genozid erscheint da paradoxerweise leichter. Für die 1990er-Jahre bräuchte es zudem mehr Druck auf alle Seiten, eigene Verbrechen öffentlich einzugestehen und aufzuarbeiten. Auch wenn die bosniakische Bevölkerung die größte Opfergruppe war, müssen auch ihre Verbrechen benannt werden.
Aber Bosnien gilt politisch als „Failed State“. Eine EU-Beitrittsperspektive und wirtschaftlicher Aufschwung könnten helfen – davon sind wir aber weit entfernt. Umso wichtiger ist internationale Aufmerksamkeit, etwa zum 30. Jahrestag von Srebrenica. Auch wenn der Fokus 2025 auf dem Zweiten Weltkrieg liegt, wäre es ein wichtiges Zeichen an die Überlebenden und Angehörigen, dass ihre Geschichte nicht vergessen wird.
Auf einen Blick
Ljiljana Radonić ist Politologin, Mitlied der Jungen Akademie der ÖAW und stellvertretende Direktorin am Institut für Kulturwissenschaften der ÖAW. Sie studierte Politikwissenschaft und Philosophie sowie Übersetzen und Dolmetschen (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch und Englisch) an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Erinnerngspolitik und museale Repräsentation von Genozid und Krieg. Im E-Journal „Ethik und Militär“ ist jetzt ihr Artikel „Krieg um die Erinnerung – Museen und Gedenkstätten in Kroatien und Bosnien 30 Jahre nach den jugoslawischen Zerfallskriegen“ erschienen.