28.12.2023 | Demographie-Konferenz

Soziale Ungleichheit macht Nachwuchs für viele unbezahlbar

Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Europa wieder weiter auf, warnt die Demographin Anna Matysiak. Sie untersucht, was das für die Gründung von Familien bedeutet. Vor Kurzem war sie Wien bei der Jahreskonferenz des Instituts für Demographie der ÖAW zu Gast.

Kein Geld, keine Familiengründung. Das ist für immer mehr Paare in Europa Realität. © Adobe Stock

Lange Zeit galt in der Demographie ein klarer Zusammenhang zwischen Armut und Kinderwunsch: „Höhere Bildung und Einkommen, vor allem der Frauen, bedeuteten weniger Kinder“, sagt Anna Matysiak. Das aber habe sich inzwischen gewandelt, so die Demographin: „Heute sind die Geburtenraten der höher gebildeten Frauen mehr oder weniger konstant, aber bei weniger gebildeten Frauen gehen sie zurück, weil der ökonomische Druck so hoch ist.“

Maytsiak, die an der Universität Warschau forscht, untersucht solche Zusammenhänge unter anderem mit einer Förderung des European Research Council (ERC). Über den Einfluss von steigender sozialer Ungleichheit auf die Familienplanung sprach sie kürzlich in Wien bei der Jahreskonferenz des Instituts für Demografie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Für wen Familie nicht mehr infrage kommt

Sie haben über den Zusammenhang von Arbeitsmarktentwicklung und Familiengründung gesprochen. Wie wirkt sich das eine auf das andere aus?

Anna Matysiak: Die Globalisierung und der rasante technologische Fortschritt verändern die Situation am Arbeitsmarkt drastisch. Hochgebildete Menschen profitieren wirtschaftlich, während weniger privilegierte Personen an Boden verlieren. Ich erforsche, wie sich das auf Familiengründungen auswirkt. Wir sehen, dass die steigende Ungleichheit dazu führt, dass Menschen mit höherer formaler Bildung plötzlich mit höherer Wahrscheinlichkeit Familien gründen, als weniger gebildeten Bürger:innen. Historisch war es umgekehrt: Höhere Bildung und Einkommen, vor allem der Frauen, bedeuteten weniger Kinder. Heute sind die Geburtenraten der höher gebildeten Frauen mehr oder weniger konstant, aber bei weniger gebildeten Frauen gehen sie zurück, weil der ökonomische Druck so hoch ist.
 

Menschen, die auf den unteren Sprossen der ökonomischen Leiter stehen, fallen immer weiter zurück.

Wann hat diese Trendumkehr begonnen?

Matysiak: Diese Entwicklungen sehen wir natürlich nur in reichen Ländern. Ich habe aktuell Analysen für Deutschland, Schweden und das Vereinigte Königreich, wo die Trendumkehr schon in den 1990er-Jahren begonnen hat. In Deutschland zum Beispiel waren Menschen, deren Job keine spezielle Bildung benötigt, vorher klar die Gruppe mit der höchsten Wahrscheinlichkeit, Nachwuchs zu haben. Mittlerweile ist die Wahrscheinlichkeit einer Familiengründung in dieser Gruppe kleiner, als im hochgebildeten Gesellschaftssegment.

Was sind die Gründe dafür?

Matysiak: Die Menschen, die auf den unteren Sprossen der ökonomischen Leiter stehen, fallen immer weiter zurück. Ihre Situation ist mittlerweile so prekär, dass Familie in vielen Fällen gar nicht mehr in Frage kommt. Diese Entwicklung hat mit der Globalisierung begonnen, die ab den 1980er-Jahren die Schranken für die Wirtschaft nach und nach abgebaut hat. Damit standen die Arbeiter:innen auf einmal in Konkurrenz zu Billiglohnkräften aus anderen Ländern. Die Automatisierung hat zudem zu einem sinkenden Angebot an Jobs für weniger gebildete Menschen geführt. Hochgebildete Fachkräfte verlieren ihre Jobs nicht an Roboter. Sie profitieren eher von der Automatisierung und bekommen Zugang zu neuen Möglichkeiten, wie flexiblen Arbeitszeiten und Home Office.

Jobkiller Künstliche Intelligenz?

Einige Menschen wollen nicht wahrhaben, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter aufgeht. Was sagen Sie denen?

Matysiak: Die steigende Ungleichheit ist Fakt. Die Forschungsergebnisse belegen, dass die Änderungen am Arbeitsmarkt ab den 1980ern der Ausgangspunkt waren. Das ist auch ein Grund für die steigende Beliebtheit populistischer Parteien. Wenn traditionelle Parteien und Politiker sich heute über Populismus beschweren, vergessen sie, dass das eine Konsequenz ihres eigenen politischen Handelns ist. Wir haben einige gesellschaftliche Gruppen zurückgelassen und deren unerfüllte Bedürfnisse verschaffen sich jetzt Gehör, in Form von Brexit, Trump und zahllosen Populist:innen in Europa.

Wir haben einige gesellschaftliche Gruppen zurückgelassen und die verschaffen sich jetzt Gehör, in Form von Brexit, Trump und zahllosen Populist:innen in Europa.

Wird Künstliche Intelligenz (KI) jetzt auch die Jobs der höher gebildeten Schichten automatisieren?

Matysiak: Der technologische Wandel passiert so schnell, dass sogar die wirtschaftlichen Gewinner riskieren auszubrennen, weil sie sich nicht schnell genug anpassen können. Bislang hat technologischer Wandel meist die unteren Schichten der Gesellschaft betroffen. Mit KI wird die Frage in Zukunft sein, ob genug  neue Jobs entstehen. Wie sich das entwickeln wird, kann heute niemand vorhersehen. Ich glaube persönlich nicht daran, dass KI uns alle arbeitslos macht. Die Anforderungen an die Bildung von Arbeitskräften werden wahrscheinlich weiter steigen.

Was können Regierungen tun, damit Nachwuchs wieder leistbar wird?

Matysiak: Die Politik muss die Schwächsten unterstützen und entsprechende Institutionen bereitstellen, die für eine gerechtere Verteilung der Ressourcen sorgen. In Westeuropa haben wir noch solche Systeme, aber der Sozialstaat kommt auch hier immer häufiger unter Druck. Europa kann seine Traditionen und Institutionen nutzen, um den am stärksten betroffenen Menschen zu helfen und ungünstige Entwicklungen einzubremsen. Dazu müssen die Betroffenen sich aber auch organisieren und Druck auf die Politik ausüben. Gegen das Modell der Ein-Euro-Jobs wurde auch öffentlicher Druck aufgebaut und dann wurden entsprechende Gesetze erlassen.

 

AUF EINEN BLICK

Anna Matysiak promovierte 2009 in Wirtschaftswissenschaften. Sie war Assistenzprofessorin am Institut für Statistik und Demografie der Wirtschaftsuniversität Warschau und wechselte 2013 ans Institut für Demographie der ÖAW. Seit 2020 ist sie Professorin an der Universität Warschau.

Die Jahreskonferenz des Instituts für Demografie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) fand vom 6. bis 7. Dezember 2023 in Wien statt. Der Titel lautete “Exploring Population Heterogeneities”. Zu den Keynote Speakern zählten neben Anna Matysiak Ridhi Kashyap, University of Oxford, und Iñaki Permanyer, Universitat Autònoma de Barcelona.