20.01.2023 | Russland

MORALKONSERVATIVE WERTE ALS KRIEGSTREIBER

Russland sieht sich selbst an der Spitze in einem globalen Kulturkampf und führt den Widerstand gegen liberale Werte an. Was hinter dieser Rhetorik steckt und wie sie als Rechtfertigung für den Krieg gegen die Ukraine dient, erklärt die Soziologin Kristina Stoeckl im Interview.

Bild einer Statue in Moskau
Kirche und Staat sind nicht erst seit dem Ukraine-Krieg eine Allianz in Russland eingegangen. © Stepanov Aleksei/Adobe Stock

Warum sind Gender, Homoehe und Abtreibungen im Westen Teil der russischen Kriegsrhetorik geworden? Wann wurde die russisch-orthodoxe Kirche in Russland enge Verbündete der staatlichen Propaganda? Und wie haben sich die russisch-orthodoxe Kirche und der russische Staat bereits vor 30 Jahren mit rechtskonservativen und christlich-fundamentalistischen Gruppen im Westen vernetzt?

Antworten auf diese Fragen liefert die kürzlich erschienene Publikation „The Moralist International: Russia in the Global Culture Wars". Darin beschreibt Kristina Stoeckl, Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Professorin für Soziologie an der Universität Innsbruck, gemeinsam mit Dmitry Uzlaner den russischen Moralkonservativismus und seine Rolle in transnationalen Netzwerken.

RUSSLANDS PROPAGANDA VOM SCHWACHEN WESTEN

Frau Stoeckl, in einem Artikel in der Washington Post beschreiben Sie und Dimitry Uzlaner, wie sich Russland mittlerweile selbst an der Spitze eines weltweiten Kulturkrieges wahrnimmt und den Westen als verweichlicht sieht. Ein Erklärungsansatz für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine?

Kristina Stoeckl: In einer Predigt am 6. März 2022, etwa zwei Wochen nach Kriegsbeginn, rechtfertigt Patriarch Kyrill, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, den Einmarsch in die Ukraine als notwendig, um die orthodoxen Christen gegen westliche Werte und „Schwulenparaden“ zu verteidigen. Und auch der russische Präsident Wladimir Putin wiederholt immer wieder, dass der Westen die traditionelle Familie und Russland zerstören wolle. Russland stellt sich selbst in der Propaganda als das Land der Stärke dar, als Bollwerk der traditionellen Familien: mit starken Männern, fruchtbaren Frauen und Kindern, die vor sogenannter subversiver homosexueller Propaganda geschützt sind.

Der Westen wird von Russland stets als dekadent und schwach präsentiert, als gespalten."

Im Gegensatz zum Westen ...

Stoeckl: Der Westen hingegen wird stets dekadent und schwach präsentiert, als gespalten. Wenn man christlichen Konservativen im Westen zuhört, klingt das ganz ähnlich: der Westen schafft sich selbst ab, Pluralismus und Liberalismus schwächen die christliche Identität Europas etc. Nachdem die russischen Medien dieses Bild des schwachen Westens seit vielen Jahren bemühen, glauben viele Russen, die westliche Gesellschaften aus eigener Erfahrung nicht kennen, daran. Und mit Sicherheit hat die russische Führung nicht damit gerechnet, dass der Westen, den man sich wankelmütig, zerstritten und verweichlicht erzählt hat, weitgehend geeint hinter der Ukraine steht.

Unser Buch erklärt, wie es zu dieser Sichtweise des Westens kam. Aber zu keinem Zeitpunkt hätten wir vermutet, dass Russland diesen Kulturkrieg in einen militärisch geführten Krieg übersetzt. Diese Ideen werden jetzt als Waffen verwendet.

Das Baptist-Burqa-Babushka-netzwerk

In Ihrem Buch „The Moralist International: Russia in the Global Culture Wars“ untersuchen Sie die Verbindungen zwischen der US-amerikanischen christlichen Rechten und der russisch-orthodoxen Kirche. Wie kam es dazu?

Stoeckl: Wir sind nicht die Ersten, die sich mit transnationalen rechtskonservativen Netzwerken beschäftigen. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Clifford Bob hat mit seinem Buch „The Global Right Wing“ den Begriff des „Baptist-Burqa“-Netzwerks geprägt. Darin beschreibt er, wie sich ab den späten 1990er-Jahren konservative Christen vor allem in den USA mit muslimischen Gruppierungen vernetzen, um gegen Liberalismus und Frauenrechte aufzutreten. Wenige Jahre später beobachtet er, dass Kontakte auch nach Russland verlaufen und skizziert dies in einem Aufsatz mit dem Titel „The Baptist-Burqa-Babushka-Network“. Was uns interessiert hat: Wie kommt es überhaupt dazu, dass Russland da mitmacht?

Ab 2012, als Wladimir Putin zum dritten Mal das Amt des Präsidenten übernommen hatte, bestimmten moralkonservative Werte das Regierungsprogramm."

Die Entstehung des russischen Moralkonservativismus wird von Ihnen minutiös aufgearbeitet. Wie hat es begonnen?

Stoeckl: Es war ein subtiler Prozess, der langsam vor sich gegangen ist. Es begann in der Phase der Perestroika, einer Zeit des Umbruchs, als christliche Missionare aus den USA ins Land kamen und die orthodoxe Kirche etwa mit Bibelübersetzungen unterstützen. Wir haben viele qualitative Interviews dazu geführt, u.a. mit einem Priester, der die erste russischen Anti-Abtreibungs-NGO gründete. Er erzählte uns, dass er in den frühen 1990er-Jahren einer der ersten Priester war, der eine Emailadresse hatte und von da an regelmäßig Bilder erhielt, auf denen abgetriebene Föten zu sehen waren. Er dachte sich, „da müssen wir was tun“. Bis dahin hatte die russisch-orthodoxe Kirche den Kampf gegen Abtreibung nicht als zentrale Aufgabe gesehen; Abtreibungen waren in der Sowjetunion weitgehend üblich und kein Thema der Moralpolitik. Der Impuls das zu ändern kam von einer US-amerikanischen Anti-Abtreibungs-NGO, die ihm dann auch die Übersetzung des Infomaterials ins Russische finanzierte.

Aber diese moralkonservativen transnationalen Netzwerke engagieren sich nicht nur gegen Abtreibung, sie bekämpfen eine egalitäre Ausweitung der Menschenrechte an sich – sei es beim Thema häusliche Gewalt, LGBTIQ-Rechte oder Ausdrucks- und Meinungsfreiheit.

Wann wurde die moralkonservative Agenda Teil des russischen Regierungsprogramms?

Stoeckl: Ab 2012, als Wladimir Putin zum dritten Mal das Amt des Präsidenten übernommen hatte, bestimmten diese moralkonservativen Werte das Regierungsprogramm. Auch auf der Ebene der russischen Außenpolitik übernahmen russische Diplomaten moralkonservative Themen und brachten sie z.B. in den Menschenrechtsbeirat der UNO ein. Russische Aktivist:innen begannen an Sitzungen des World Congress of Families, etwa in Madrid 2012, teilzunehmen. Der Weltfamilienkongress wurde 2014 nach Moskau eingeladen. Ein anderes Beispiel ist die Global Home Education Exchange Konferenz, eine große Homeschooling Veranstaltung, deren Organisatoren eigentlich in den USA sitzen; sie wurde 2018 nach Moskau gebracht.

KRIEG HAT KLIMA IN RUSSLAND VERSCHÄRFT

Inwiefern spiegelt sich dieser Moralkonservativismus in der russischen Gesellschaft wider?

Stoeckl: Das ist ein spannender Punkt: Tatsächlich spielen diese „traditionellen Werte“ in der russischen Gesellschaft eine geringe Rolle, das zeigen auch sozialwissenschaftliche Studien. Es finden nach wie vor viele Abtreibungen statt, die Scheidungsrate ist hoch, wenige Menschen gehen in die Kirche. Die einzige Ausnahme: die Ablehnung von Homosexualität. Hier gibt es regelmäßig Ablehnungsraten zwischen 70 und 80 Prozent. Die Forschung führt das auf die lange Geschichte der Kriminalisierung und Diskriminierung von Homosexualität in der Sowjetunion und in Russland zurück, die jetzt im Namen von „traditionellen Werten“ weiter betrieben wird.

Russland ist toxisch geworden und wird es wahrscheinlich eine Zeit lang bleiben."

Wie hat der Krieg die Arbeit an Ihrem Buch beeinflusst?

Stoeckl: Der Krieg hat die Karten neu gemischt. Es ist eine Sache, Russland als Anführer in einem ideologischen Kulturkrieg zu sehen, der mit Resolutionen, NGO-Mobilisierung und anderen „weichen“ Mitteln geführt wird. Aber es ist eine ganz andere, wenn Russland diese Themen zur Rechtfertigung eines echten Angriffskriegs verwendet. Vor dem Krieg hatte Russland innerhalb der transnationalen moralkonservativen Netzwerke ein großes Gewicht. Heute ist Russland toxisch geworden und wird es wahrscheinlich eine Zeit lang bleiben. Vor allem in den USA, etwa beim World Congress of Families, versucht man die enge Verbindung, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut hat, zurückzufahren oder zumindest weniger sichtbar zu machen. Ein anderer Einfluss des Kriegs auf meine Arbeit betrifft die Forschung und Wissenschaft. Fast alle meine russischen Kolleg:innen und Bekannten haben Russland verlassen. Die moralkonservativen Gruppen, mit denen wir uns beschäftigt haben, gehören jetzt zur Partei der Kriegstreiber. Die Forschung, die im Buch steckt, sie wäre heute nicht mehr möglich.

 

AUF EINEN BLICK

Kristina Stoeckl ist Leiterin des Instituts für Soziologie an der Universität Innsbruck und Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie ist START-Preisträgerin des Wissenschaftsfonds FWF und Preisträgerin eines Starting Grant des European Research Council (ERC).

Gemeinsam mit Dmitry Uzlaner hat sie im Dezember 2022 das Buch „The Moralist International: Russia in the Global Culture Wars“ (Fordham University Press, 2022) veröffentlicht, das in der e-Version kostenlos heruntergeladen werden kann. Die Forschung für dieses Projekt wurde vom ERC gefördert.