27.03.2023 | Institutsjubiläum

Linzer Mathematik wird Zwanzig

Vor 20 Jahren wurde das Johann Radon Institute for Computational and Applied Mathematics der ÖAW in Linz gegründet. Die Forschungsprojekte der angewandten Mathematiker:innen reichen von Medizin bis Astrophysik. Gründungsdirektor Heinz W. Engl zieht im Gespräch eine Bilanz über zwei Jahrzehnte.

Zwei Forscher:innen diskutieren vor einer Tafel mit mathematischen Symbolen
Mathematiker:innen am RICAM der ÖAW forschen zu Ulrtraschalldiagnostik ebenso wie zur Bildverbesserung bei Weltraumteleskopen. © ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Am 28. März 2003, seinem 50. Geburtstag, konnte der Mathematiker Heinz W. Engl das RICAM - Johann Radon Institute für Computational and Applied Mathematics der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) eröffnen. Nun, zwanzig Jahre später, feiert das Institut Jubiläum und Engl seinen Siebziger.

Im Interview spricht der Gründungsdirektor über den Namensgeber des RICAM, wie sich das Institut und die Mathematik selbst in den Jahren seit der Gründung entwickelt haben, welche wissenschaftlichen Fragen die Mitarbeiter:innen beschäftigen und welches seine persönlichen Forschungshighlights sind.

MATHEMATIK MIT ANWENDUNGEN IM BLICK

Vor 20 Jahren wurde das RICAM der ÖAW in Linz mit Ihnen als Gründungsdirektor gegründet. Was war der Anlass dafür?

Heinz W. Engl: Es gab vorher schon große Projekte, zum Beispiel einen Spezialforschungsbereich des Wissenschaftsfonds FWF an der Uni Linz. Da ging es um numerische und symbolische Mathematik und um deren Verbindung miteinander. Das hat mehrere Gruppen an der Uni zusammengebracht und war sehr erfolgreich. Da solche Spezialforschungsbereiche des FWF zeitlich beschränkt sind, entstand die Idee, eine längerfristige Struktur aufzubauen, die auf dieser Ebene und besonders mit Anwendungsbezug diese Themen weiterführt. Nach Gesprächen mit dem damaligen Akademiepräsident Werner Welzig, einigen Konzepten und Gutachten wurde am 28.3.2003 das Institut eröffnet. Es war übrigens das erste Institut der ÖAW in Linz und ist bis heute das einzige hier. Ich habe es als Direktor bis 2011 geleitet, bis ich das Rektorat der Universität Wien übernommen habe. Fachlich war ich auch danach noch weiter involviert.

Der Kern all unserer Aufgaben ist immer Mathematik."

Und welche Idee steckte hinter der Gründung?

Engl: Die Idee dahinter ist angewandte Mathematik, das heißt „seriöse“ Mathematik, mit dem Anspruch, etwa die Korrektheit von Modellen und Algorithmen auch beweisen zu können, aber immer mit Bezug auf konkrete Anwendungsfelder, auch in Kooperation mit der Industrie.

Warum wurde der österreichische Mathematiker Johann Radon als Namensgeber ausgewählt?

Engl: Radon hat 1917 eine relativ kleine und damals kaum beachtete Arbeit zum Thema „Wie man aus radialen Schnitten eine zweidimensionale Funktion rekonstruieren kann“ geschrieben. Als Antwort auf die Problemstellung hat er Formeln angegeben, die auch die Grundlage erster Algorithmen waren.

40 Jahre später ist dieses Thema dann in Zusammenhang mit der Computertomografie wieder aufgetaucht. Mit der Frage: wie kann man aus Röntgenstrahlen, die quer durch den Körper durchgehen, die Dichteverteilung im Körper rekonstruieren? Und diese Frage ist eigentlich genau dieselbe, die Radon damals mathematisch gelöst hat.

Das Radon Institut auch eine Turbofunktion für wissenschaftliche Karrieren."

Auch heutzutage beschäftigen wir uns im Institut immer noch mit Themen, die mit Tomografie zu tun haben. Und zwar nicht nur in der Medizin, sondern auch der Astrophysik oder der Molekularbiologie – aber mit Algorithmen, die natürlich viel schneller sein müssen als es die ersten zu diesem Thema waren. So ist der Name Radon durchaus angemessen, um zu beschreiben, was das Institut macht. Übrigens war bei der Eröffnung auch die Tochter von Radon dabei, sie hat uns die Genehmigung gegeben, es nach ihm zu benennen.

Mit welchen Aufgaben beschäftigt sich das Institut?

Engl: Wir beschäftigen uns mit schnellen Algorithmen, mit numerischer Mathematik, mit Tomografie, mit Methoden der Bildverarbeitung und mit Optimierung und Kontrolltheorie. Ebenso mit Problemstellungen aus der Industrie, für die wir Modelle und Algorithmen entwickeln, um eben diese Probleme zu lösen. Der Kern all dieser Aufgaben ist immer Mathematik.

MATHEMATISCHE SPITZENFORSCHUNG IN LINZ

Wie hat sich das Institut in den letzten 20 Jahren entwickelt?

Engl: Wir sind sehr groß geworden, haben mittlerweile rund 60 Mitarbeiter:innen, wobei etwa 40 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen über Drittmittel finanziert werden. Was aus meiner Sicht bemerkenswert ist, dass viele der Leute, die hier im Laufe der Zeit Postdocs waren, später Professuren in anderen Ländern angeboten bekommen haben – von Vancouver bis Shanghai, aber natürlich auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Insgesamt gab es über 50 Rufe an RICAM-Mitarbeiter:innen auf Professuren. In dem Sinn hat das Radon Institut auch eine Turbofunktion für wissenschaftliche Karrieren.

Wir versuchen auf der internationalen Landkarte zu den Topinstituten zu gehören."

Das sind beeindruckende Zahlen. Das Institut hat also ein besonderes Profil und einen entsprechenden Ruf?

Engl: Wenn Sie den Akademiepräsidenten fragen, würde er wohl sagen, dass Akademieinstitute immer die Aufgabe haben, in ihrem Gebiet – zumindest, aber natürlich nicht nur, in Österreich – die Besten zu sein. Diesem Anspruch versuchen wir in unserer Spezialisierung nachzukommen und auf der internationalen Landkarte zu den Topinstituten zu gehören. Auch durch unsere Special Semesters zu aktuellen Themen sind wird international sehr wirksam.

VON ULTRASCHALLDIAGNOSTIK BIS ZU RIESENTELESKOPEN

Wie haben sich die Aufgaben und Forschungen des Institutes in den letzten 20 Jahren geändert?

Engl: Die grundlegende Aufgabe mit einem speziellen Methodenkern aus der angewandten Mathematik, meist basierend auf partiellen Differentialgleichungen, ist erhalten geblieben. Im Detail hat sich aber natürlich alles massiv verändert, sonst wären wir total veraltet. In 20 Jahren hat sich die Mathematik sehr entwickelt, nicht nur dadurch, dass die Computer und damit die Möglichkeiten der Algorithmen immer schneller werden, es sind auch die Anwendungsgebiete viel breiter geworden. Aber auch die Anforderungen aus der Praxis werden immer größer und bedürfen ganz neuer mathematischer Ideen.

So wie alle anderen Wissenschaften auch, schreitet Mathematik ständig voran."

So wie alle anderen Wissenschaften auch schreitet Mathematik ständig voran. Wenn man angewandte Mathematik macht, wendet man sie immer in einem außermathematischen Fachgebiet an, wie Physik, Elektrotechnik oder dem Finanzbereich. Und so, wie sich diese Felder ständig weiterentwickeln, entwickelt sich auch die Mathematik weiter.

Es gab in diesem Zeitraum viel spannende Projekte, viele Preise und Auszeichnungen. Welches waren denn Highlights der letzten Jahre?

Engl: Dazu zählt ein ganz aktuelles Projekt unter Leitung von Otmar Scherzer, das sich mit der Entwicklung von neuen Methoden zur pränatalen Ultraschalldiagnostik beschäftigt. Dafür werden Bild-generierende Algorithmen basierend auf mathematischen Modellen und deren Einsatz in Prototype von neuen Ultraschallgeräten erforscht, ihre Leistungsfähigkeit numerisch simuliert, und in der medizinischen Praxis evaluiert.

Ein zweites Highlight kommt aus der Astrophysik, die in den letzten Jahren ein großer Anwendungsschwerpunkt war. Das RICAM hat in Kooperation mit der Universität Wien, der Universität Innsbruck und der Universität Linz die derzeit schnellsten Algorithmen für das Extremely Large Telescope (ELT) des European Southern Observatory (ESO) zur Bildentzerrung und Bildschärfung entwickelt. Diese riesigen Teleskope, mit einem Spiegeldurchmesser von 30 Metern und noch mehr, stehen in der Atacama-Wüste im Norden Chiles. Dort gibt es keine Städte in der Nähe, keine Lichtverschmutzung und obwohl die Luft sehr rein ist, ist sie es nicht ganz. Zudem gibt auch ständig Schwankungen in der Luft. Wenn nun das Licht von einem Stern auf das Teleskop trifft, ist der Strahl des Lichtes nicht ganz gerade, sondern flattert leicht, und das stört das Bild. Unsere mathematische Aufgabe war, schnelle Methoden zu entwickeln, die das Flattern rückgängig machen – und das in Echtzeit. Diese Projekte leitet Ronny Ramlau, der bis vor kurzem Institutsdirektor war.

Das Jubiläum des Instituts am 28. März ist zeitgleich auch ihr 70. Geburtstag – Gratulation! Ist der Festakt dazu auch ein schönes Geburtstagsgeschenk?

Engl: Natürlich. Es ist eigentlich Zufall, dass das Institut genau an meinem Geburtstag eröffnet wurde, aber dadurch eignet sich das Jubiläum auch als Geburtstagsfeier für mich. Und die Tatsache, dass das Institut erfolgreich ist, ist ebenfalls ein schönes Geschenk für mich.

 

AUF EINEN BLICK

Heinz W. Engl ist Mathematiker und war bis 2022 Rektor der Universität Wien. Zuvor war er u.a. Leiter des Christian-Doppler-Labors für Mathematical Modelling and Numerical Simulation und Dekan der Technisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Johannes Kepler Universität Linz. 2003 war er Gründungsdirektor des RICAM der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), deren wirkliches Mitglied er ist.

Das RICAM feiert vom 27. bis 29. März sein 20. Jubiläum mit einer Festveranstaltung und einem Jubiläumsworkshop, der mathematischen Methoden der Medizin und Lebenswissenschaften ebenso gewidmet wie krytopgrafischen Fragestellungen, Symbolischem Rechnen, Optimierungsaufgaben und Data Science.

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