02.09.2022 | Hybride Formen

Hybride Formen: Architektur und Handwerk in Tibet

Klimakrise, Globalisierung und sozioökonomischer Wandel gefährden traditionelle tibetische Bauweisen. Mit einem Team von Anthropolog:innen und Tibetolog:innen erforscht der ÖAW-Architekturhistoriker und Materialforscher Hubert Feiglstorfer technische und soziale Zusammenhänge von Bautraditionen, ihren Wandel und welche Anpassungsmuster dieser Wandel bewirkt.

Bau einer Mönchsunterkunft in Drag Yerpa ca. 30 km nordöstlich von Lhasa. Auf dieser Baustelle wurde 2019 unter Anwendung traditioneller Bautechniken gearbeitet. © H. Feiglstorfer 2019

Die Globalisierung macht auch vor entlegenen Regionen der Welt nicht Halt. Traditionelle Bauweisen befinden sich auch hier in einer Phase des Wandels. Beton wird verstärkt als Material eingesetzt, traditionelles, vor allem oral überliefertes Wissen, geht verloren. „Eine Vision wäre, der Dichotomie von Tradition und Moderne zu entfliehen – nach Wegen zu suchen, wie diese in Einklang gebracht werden können, damit sich Handwerker*innen der Zeit anpassen können, ohne ihr Wissen und Können vollständig zu verlieren“, sagt der Himalaya-Experte Feiglstorfer vom Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Gespräch.

Religiöser und ritueller Kontext

Was ist typisch für traditionelle Architektur in Tibet?

Hubert Feiglstorfer: Die Gestaltung von Stadt- und Dorfräumen und Bauwerken folgt, besonders in vom tibetischen Buddhismus geprägten Regionen, mit der Religion eng verbundenen formalen baulichen Mustern, die wiederum eng mit Verhaltensmustern der lokalen Bevölkerung im Alltag in Verbindung stehen. Rituelle Umrundungswege, beispielsweise, beeinflussen die Gestaltung von Bewegungs- und Begegnungsräumen und die Gestaltung und Positionierung von Gebäuden. Die Planung und Errichtung von Gebäuden folgt dabei bestimmten überlieferten Normen. Selbst der Abbau und die Verarbeitung von lokal verfügbaren Baustoffen, wie beispielsweise Lehm, unterliegt in vielen Gegenden noch heute bestimmten, meist regional spezifischen Arbeitsvorgängen. Bauernhäuser vereinen Wohn- und Wirtschaftsfunktionen meist unter einem Dach. Ihre Gestaltung folgt in der Regel einem tradierten Muster. Bautraditionen werden heute zunehmend durch industriell vorgefertigte Materialien beeinflusst. Das Wissen zu lokal tradierten Bautechniken schwindet und ist in den jüngeren Generationen bereits sehr ausgedünnt.

Haben Sie ein Beispiel für eine traditionelle Bautechnik?

Feiglstorfer: Ein Beispiel hierfür ist eine bestimmte Art der Flachdachkonstruktion, die in tibetischen Regionen vorrangig für Klöster und Gebäude der gehobenen sozialen Schicht seit Jahrhunderten Anwendung findet. Besondere Eigenschaften dieser Dachkonstruktion sind ihre Stabilität und bei entsprechender Pflege die wasserdichte Oberfläche. Auf einer Unterkonstruktion aus Holzbalken, Ästen, Rinden und Gräsern werden eine Lehmschicht und eine darauf ausgebreitete Schicht aus Kalk-Ton-haltigem Gestein durch langwieriges Stampfen zu einer homogenen Masse vermischt und sich ergänzende physikalische Eigenschaften dieser Materialien genutzt. Es entsteht eine nicht nur technisch hochwertige Konstruktion, sondern auch eine im Aussehen dem europäischen Terrazzo nicht unähnliche Oberflächenstruktur. Wie aus historischen Texten hervorgeht, beeindruckte diese Oberfläche bereits im 7. Jahrhundert den tibetischen König Songtsen Gampo.

Welche weiteren konkreten Bautraditionen gibt es?

Feiglstorfer:

Steinmauern sind in vielen Gegenden Tibets weit verbreitet. Bei einer der gängigen Steinmauertechniken wird die Mauer in mehreren Schalen errichtet. Die beiden äußeren Schalen bilden die Sichtflächen und der dazwischenliegende Bereich wird wiederum mit Steinen aufgefüllt. Das Auffüllen von Hohlräumen zwischen den Steinen an den Sichtflächen mit kleineren Füllsteinen zum Zwecke der Stabilisierung der Steine prägt das Erscheinungsbild vieler tibetischer Steinmauern.

Lehm findet eine breite Anwendung, von Flachdächern über Böden, Mauerkonstruktionen, Putzen, Öfen oder mit dem Bauwerk verbundenen ortsfesten Skulpturen. Eine besondere Verarbeitungstechnik, sowohl von Wand- als auch von Boden- und Dachoberflächen ist das Polieren, wobei mit Flusssteinen Oberflächen spiegelnd glatt gerieben werden. Eine weitere weit verbreitete Bautechnik bezieht sich auf die konstruktiven Auswirkungen von Erdbeben auf Gebäude. Bautechnisch werden dabei zur Stabilisierung der Wände im Erdbebenfall weiträumig verbreitete Baukonstruktionen eingesetzt, die vom Mittelmeerraum bis in den Himalaya in lokalen Bautraditionen verankert sind. An den waldreichen Rändern des Himalaya werden dafür Holzbalken und leiterartige Holzkonstruktionen in das Mauerwerk zur Aussteifung eingebaut.

Auch Pflanzenfasern und Tierhaare finden beim traditionellen Bauen im Himalaya breite Anwendung. Beispiele hierfür sind Yakhaare und ihre Weiterverarbeitung zu Zeltplanen in nomadischen Kulturen des Himalaya oder die Verwendung von Gräsern bei Flachdächern als bauphysikalisch wirksame Schicht zwischen der Dachunterkonstruktion aus Holz und der darüber befindlichen Lehmschicht.

Auswirkungen des Tourismus

Die Himalaya-Region verändert sich rasant. Wie schlägt sich das in der Architektur nieder?

Feiglstorfer:

Sozioökonomischer Wandel, Bevölkerungswachstum und Globalisierung haben einen starken Einfluss auf das traditionelle Bauhandwerk.

Sozioökonomischer Wandel, Bevölkerungswachstum und Globalisierung haben einen starken Einfluss auf das traditionelle Bauhandwerk. Der Klimawandel zieht auch die Regionen des Himalaya in Mitleidenschaft. Hangrutsche, ausgelöst durch starke Regenfälle, werden immer häufiger und verursachen in Siedlungsräumen gravierende Schäden. Trotz der  insgesamt zunehmenden Wasserknappheit führen länger andauernde Regenfälle zu starken Schäden bei den mit Lehm gedeckten Flachdächern.

„Moderne“ Baustoffe wie Bleche, Kunststoffe oder Zement nehmen großräumig Einzug. Besonders die intensive Verwendung von Beton hinterlässt einschneidende ökologische Spuren. Von kleinen Bautätigkeiten im Bauernhaus bis hin zu Großprojekten wie Kraftwerken hat sich Beton zu einem bestimmenden Baustoff im Prozess einer sich verändernden Baukultur entwickelt – einer Baukultur, die sich von lokal verfügbaren und durch Arbeitskräfte aus der Region verarbeiteten Baustoffen hin zu industriell vorgefertigten importierten Baumaterialien mit einem zunehmenden Einsatz von Arbeitsmigrant:innen entwickelt.

Wie kann man wertvolles Wissen bewahren?

Feiglstorfer: Traditionelles Wissen wird meist oral überliefert und ist durch soziale und wirtschaftliche Veränderungen und daraus resultierende technische Standardisierungen gefährdet. Die Dokumentation und kontextualisierte Zusammenführung von materiellen und immateriellen Aspekten des Handwerks sind wichtige Schritte nicht nur zur Bewahrung, sondern zur Erforschung von Wissen.

Im Sinne einer Sicherung von traditionellem Wissen, aber auch im Hinblick auf die Forcierung einer ökologisch nachhaltigen Baukultur ist es eine der Bestrebungen des Projektteams, der Dichotomie von Tradition und Moderne zu entfliehen und nach Wegen zu suchen, wie diese in Einklang gebracht werden können.

 

AUF EINEN BLICK

Das Projekt ist am Institut für Sozialanthropologie der ÖAW angesiedelt und setzt sich aus dem Projektleiter Hubert Feiglstorfer, Calum Blaikie und Tsering Drongshar zusammen. Das Team wird von Forscher:innen in Nepal, Indien, Bhutan und China unterstützt, die unter Anleitung des Projektteams auf Basis von vorformulierten Forschungsfragen vor Ort recherchieren. Zu Beginn des zweijährigen Projektes wurde ein Workshop mit internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmern abgehalten. Die Resultate werden in einem Sammelband mit dem Titel „Building and Craft Traditions in Tibetan and Himalayan Regions“ zur Veröffentlichung vorbereitet.