27.04.2022 | Ukraine-Hilfe

„Hoffe, dass wir im Sommer in die Ukraine zurück können“

Zahlreiche ukrainische Forscherinnen und Forscher mussten seit Kriegsbeginn fliehen. Eine von ihnen ist die Physikerin Anna Kosogor aus Kiew. Sie kann dank des Ukraine Emergency Calls der ÖAW in den nächsten Monaten in Wien ihre Forschung fortsetzen. Sobald es möglich ist, will sie wieder in die Ukraine zurück.

© Anna Kosogor

„Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass wir im 21. Jahrhundert mit einem solchen Krieg konfrontiert werden. Doch dann wachten wir um fünf Uhr morgens mit dem Geräusch von Bombenangriffen und Sirenen auf", erzählt Anna Kosogor. Sie ist Physikerin und forscht an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Mit ihrem kleinen Sohn musste sie aufgrund des Krieges in ihrer Heimat fliehen. Über Ungarn erreichte sie schließlich Österreich.

Kosogor ist eine von 50 ukrainischen Wissenschaftler/innen, die dank des Ukraine-Emergency-Calls der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ihre Forschungen in Österreich fortsetzen können. Zwei Monate lang ist sie nun an der Universität Wien als Gastforscherin tätig. Im Interview und im Video erzählt sie, wie die aktuelle Situation für Forscher/innen in der Ukraine ist.

BOMBEN AUF UNIVERSITÄTEN

Sie haben am Institut für Magnetismus der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine (NASU) in Kiew gearbeitet. Woran haben Sie geforscht?

Anna Kosogor: Mein Thema ist die theoretische Beschreibung verschiedener physikalischer Effekte, sogenannter ferroelastischer Phasenübergänge. Dabei geht es um die Umwandlung von der einen in eine andere Kristallstruktur durch eine spontane makroskopische Spannung. Dafür arbeite ich mit der Landau-Theorie und Theorien der Thermodynamik.

Die russische Armee zerstört absichtlich die Forschungsinfrastruktur in der Ukraine.

Wie ist die Situation an Ihrem Institut seit dem Ausbruch des Krieges?

Kosogor: Die russische Armee zerstört absichtlich die Forschungsinfrastruktur in der Ukraine und bombardiert die Universitäten und Forschungseinrichtungen. Hoffentlich wurde unser Institut für Magnetismus nicht ernsthaft beschädigt. Bisher gab es nur Schäden an der elektrischen Infrastruktur. Weil ein Krieg sehr teuer ist, musste die Ukraine die Mittel für die Wissenschaft kürzen. Viele unserer Programme und Grants wurden gestoppt. Wir wollten an unserem Institut neue Forschungsgeräte kaufen, aber jetzt ist das unmöglich.

Wie geht es Forscher/innen in der Ukraine?

Kosogor: Meine Kollegen und Kolleginnen arbeiten weiter. Aber für Forschende, die jetzt in der Ukraine bleiben, sind sehr schwierige Zeiten angebrochen. Die Gehälter werden spürbar gekürzt, einige haben ihre Häuser verloren und können ihre Arbeit in den beschädigten Einrichtungen nicht fortsetzen. Ich hoffe, dass wir nach dem Ende des Krieges Wege finden werden, die Forschungsinfrastruktur wiederherzustellen und unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Fortsetzung ihrer Arbeit in der Ukraine zu ermöglichen.

Für Forschende, die jetzt in der Ukraine bleiben, sind sehr schwierige Zeiten angebrochen.

Wie sind Sie auf den Emergency-Call der ÖAW aufmerksam geworden?

Kosogor: Meine Kollegen haben mir den Link zum Call der ÖAW geschickt. Ich habe ihn auch in den sozialen Medien gesehen. Wichtig ist mir zu erwähnen, dass das Bewerbungsverfahren sehr unkompliziert war. Das ist nicht zu unterschätzen, denn ich hatte zur Zeit der Bewerbung Probleme mit der Stromversorgung und der Internetverbindung aufgrund der Kämpfe.

FLUCHT NACH ÖSTERREICH

Wie sind Sie nach Österreich gekommen und wie war Ihre Ankunft?

Kosogor: Ich bin mit meinem 5-jährigen Sohn und meiner Schwiegermutter nach Österreich gekommen. Am schwierigsten war es, in die Westukraine zu kommen, weil Russland die Routen, denen die Flüchtlinge folgten, bombardierten. Aber als wir an der ungarischen Grenze ankamen, war es einfacher: Freiwillige und andere Menschen haben uns sehr geholfen. Sie organisierten einen Bus von der ungarischen Grenze nach Budapest, von wo aus wir mit dem Zug nach Wien fuhren. In Österreich leben wir in einer kleinen Stadt. Hier haben 8.000 Menschen 12 Tonnen humanitäre Hilfe für die Ukraine gesammelt haben. Diese umfassende Unterstützung ist großartig.

Möchten Sie Ihr Forschungsprojekt in Wien fortsetzen?

Kosogor: Ich hoffe sehr, dass wir im Sommer in die Ukraine zurückkehren können. Wir alle in der Ukraine glauben an unseren Widerstand und hoffen, dass die Situation wieder besser wird.

Physikerin Anna Kosogor über ihre Flucht aus der Ukraine