03.05.2022 | Geopolitik

Heikle Balance: China und der Ukraine-Krieg

Ost oder West – oder beides? ÖAW-Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik analysiert im Interview Chinas Außenpolitik in der Ukraine-Frage.

China absolviert im Ukraine-Konflikt einen schwierigen Balanceakt zwischen Russland und dem Westen. © Shutterstock
China absolviert im Ukraine-Konflikt einen schwierigen Balanceakt zwischen Russland und dem Westen. © Shutterstock

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist die Position Chinas dazu Gegenstand kontroversieller Debatten. Das Land der Mitte verurteilte die russische Invasion nicht, riskierte aber auch keine offene Konfrontation mit dem Westen.

Die China-Expertin Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Professorin am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien, sieht darin deutliche Anzeichen für Meinungsunterschiede innerhalb der chinesischen Elite. Warum eine Fortführung dieses chinesischen Balanceakts wahrscheinlich ist, welche Folgen ein russischer Einsatz von Atomwaffen hätte und warum Europa eine stärkere Rolle einnehmen sollte, beantwortet die Sinologin im Interview.

NATO-Erweiterung und Souveränität der Ukraine

Die Hoffnung im Westen, China mit politischem Druck von Russland loseisen zu können, war zu Beginn des Krieges groß. Wie ist die Position Chinas zur Ukraine-Frage heute?

Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Bereits zu Beginn des Krieges legte das chinesische Außenministerium den Rahmen der Positionierung Chinas fest, der im Wesentlichen bis heute gilt: Einerseits stellte man sich klar auf die Seite Russlands, indem man die Ursache des Konflikts im Vordringen der NATO nach Osteuropa verortete. Andererseits machte China klar, dass der Konflikt in der Ukraine sofort beendet werden müsse, weil er die Souveränität eines UNO-Mitgliedslandes verletzt und damit gegen die Charta der Vereinten Nationen verstößt. Mit dieser Argumentation, die bis heute wesentlicher Bestandteil der chinesischen Positionierung ist, stellte man sich zugleich gegen Russland – das wurde aber von vielen Menschen und Medien im Westen nicht deutlich genug wahrgenommen.

Einerseits stellte man sich klar auf die Seite Russlands. Andererseits machte China klar, dass der Konflikt in der Ukraine sofort beendet werden müsse.

Oft ist die Rede von einem Balanceakt zwischen politischen Interessen einerseits und wirtschaftlichen Erwägungen andererseits, die die chinesische Linie im Ukraine-Krieg bestimmen.

Weigelin-Schwiedrzik: Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine gab es vonseiten der chinesischen Führung sowohl Äußerungen, die stärker anti-amerikanisch motiviert waren, als auch Meinungen, die die Souveränität der Ukraine und die wirtschaftlichen Interessen Chinas hervorhoben. In der chinesischen Außenpolitik ist es grundsätzlich nicht unüblich, dass zu bestimmten Fragen gänzlich unterschiedliche Auffassungen bestehen. Diese müssen sich aber nicht gegenseitig ausschließen, sondern bestehen sehr oft nebeneinander, um einander ergänzend den Handlungsrahmen der Außenpolitik aufzuspannen. Man sollte hier also auch nicht unbedingt davon ausgehen, dass sich eine der beiden Strömungen so weit durchsetzen wird, um dann alleine die Linie Chinas in der Ukraine-Frage zu bestimmen.

Beistandsvertrag gegen Atomwaffen

Das Szenario eines nuklearen Angriffs Russlands auf die Ukraine wird derzeit oft thematisiert. Wäre der Einsatz von atomaren Waffen eine rote Linie für China, die Russland nicht überschreiten sollte?

Weigelin-Schwiedrzik: Grundsätzlich versteht man in China Nuklearwaffen in erster Linie als ein Instrument der Abschreckung. Man begreift daher auch diesbezügliche russische Drohungen gegenüber Europa und den USA als ein konventionelles Mittel – im Rahmen des Konzepts der Abschreckung. An einen tatsächlichen Einsatz glaubt man eher nicht.

China und die Ukraine haben 2013 einen Beistandsvertrag unterzeichneten, der besagt, dass China im Falle eines nuklearen Angriffs auf die Ukraine als Schutzmacht Kiews auftreten würde.

Tatsache ist, dass China und die Ukraine 2013 einen Beistandsvertrag unterzeichneten, der besagt, dass China im Falle eines nuklearen Angriffs auf die Ukraine als Schutzmacht Kiews auftreten würde. Russland weiß also, dass der Einsatz einer derartigen Waffe China in Zugzwang bringen würde, was gewiss auch in die russischen Überlegungen miteinfließen wird. Ob der Beistandsvertrag in so einem Fall tatsächlich greifen würde, lässt sich nicht sagen. Über dieses Thema wird in China auch geschwiegen.

Geopolitische Ansprüche

Ist die in der jüngsten Vergangenheit vielfach betonte Freundschaft mit Russland für China vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine insgesamt nun eine Chance oder doch eher eine Gefahr?

Weigelin-Schwiedrzik: Die chinesische Führungselite ist in dieser Frage nicht einer Meinung. Nachdem man zuletzt davon ausging, dass nur mehr die USA und China um den globalen Führungsanspruch konkurrieren, möchte Russland das strategische Dreieck, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen den USA, China und der Sowjetunion bestand, wiederbeleben. Angesichts der relativ geringen ökonomischen Macht versucht Moskau das mit militärischen Mitteln. Russland sieht sich in der Lage, Chinas Schwächen und Notwendigkeiten – wie etwa den Rohstoffbedarf – kompensieren zu können, während China seinerseits für Russland unerlässliche Technologie besitzt. Eine enge und dauerhafte Verbindung hätte also das Potenzial für eine stable marriage. Diese Option wird in der chinesischen Führung durchaus gesehen.

Eine enge und dauerhafte Verbindung zwischen China und Russland hätte das Potenzial für eine stable marriage.

Zugleich ist China derzeit allerdings auch – aus diversen Gründen – in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. Sich mit einer Abkoppelung vom Westen noch mehr ökonomische Probleme aufzuhalsen könnte im Falle auftretender Massenarbeitslosigkeit die innenpolitische Stabilität Chinas gefährden – und letztlich sogar die Kommunistische Partei bedrohen. Dieser Zusammenhang stärkt diejenigen in der Führungselite, die in einer engen Zusammenarbeit mit Russland eine Gefahr sehen.

Die Rolle Europas

China, Russland, USA – spielt Europa denn gar keine Rolle bei dem Krieg auf europäischen Boden?

Weigelin-Schwiedrzik: In China kursiert folgender Spruch: Amerika will mit der Ukraine Russland und mit Russland Europa in die Knie zwingen. Aus Sicht vieler Chines/innen benutzen die USA den Konflikt mit der Ukraine, um die Zusammenarbeit zwischen Amerika und Europa wieder zu stärken. Denn diese hatte in der Trump-Ära gelitten und dazu geführt, dass man in Europa anfing, sich über eine größere Selbstständigkeit Gedanken zu machen.

Diese gestärkte Allianz zwischen den USA und Europa ist überhaupt nicht im Interesse Chinas. Beijing will daher einen Keil zwischen die EU und die USA treiben, etwa indem propagandistisch auf die Vorteile Amerikas bei einer verstärkten Nachfrage Europas nach Waffen oder auch Gas hingewiesen wird. Diese Erzählung Chinas beinhaltet auch den Aspekt, dass die USA von einem lange anhaltenden Krieg in der Ukraine profitieren würden – auf Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung und politischen Stabilität Europas und des Euro.

Wir sollten die Strömungen in China zu stärken, die Europa als enorm wichtigen Markt nicht verlieren wollen.

Was macht Europa in dieser Situation?

Weigelin-Schwiedrzik: Europa hat die Außen- und Weltpolitik seit vielen Jahrzehnten Amerika überlassen. Jetzt verfügen wir noch nicht einmal mehr über ein ausreichendes intellektuelles Potenzial, eine derartige Situation zu analysieren. Der europäischen Führung bleibt daher nur, die enge Zusammenarbeit mit den USA zu suchen – auch wenn die Ziele vielfach nicht übereinstimmen.

Wenn Europa eine stärkere Eskalation des Konflikts verhindern möchte, müssen wir aus meiner Sicht eine aktive Politik gegenüber China verfolgen. Das bedeutet vor allem, die Strömungen in China zu stärken, die Europa als enorm wichtigen Markt nicht verlieren wollen, weil man sonst die Stabilität des eigenen Landes gefährden würde. Fest steht für mich jedenfalls eines: Wenn man über die Welt denkt, muss man China immer mitdenken.

 

Auf einen Blick:

Susanne Weigelin-Schwiedrzik ist seit 2012 korrespondierendes Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Die Professorin für Sinologie lehrt am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien und forscht unter anderem zur Geschichtsschreibung Chinas sowie zu geopolitischen und globalhistorischen Fragestellungen.