Die skurrile Geschichte von Hitlers DNA – und was Gene wirklich verraten
01.12.2025
Die Frage „Was macht uns zu dem Menschen, der wir sind?“ beschäftigt auch Christoph Bock, Bioinformatiker am CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaft (ÖAW) und Mitglied der Jungen Akademie. Im Interview erklärt Bock, wie eng genetische Anlagen, äußere Einflüsse und schierer Zufall miteinander verwoben sind. Er beschreibt, weshalb Gen-Analysen nur Wahrscheinlichkeiten liefern, warum nationale Sequenzierungsinitiativen wie „Genome of Europe“ die Medizin grundlegend verändern könnten und wie moderne Genomdiagnostik bereits heute den Weg zu präziseren Therapien ebnet.
DNAn beeinflusst Körpergröße und Lebenserwartung
Herr Bock, was macht uns zu dem, was wir sind – Gene oder Umwelt?
Christoph Bock: Diese klassische Gegenüberstellung greift zu kurz. Wir müssen vier Faktoren berücksichtigen: Gene, Umwelt, Gen-Umwelt-Interaktionen – und den Zufall.
Wenn man Paare eineiiger und zweieiiger Zwillinge vergleicht, die in ähnlicher Umwelt und mit unterschiedlich stark ausgeprägten genetischen Ähnlichkeiten aufwachsen, dann kann man den maximalen Einfluss der Gene schätzen. Zum Beispiel ist Körpergröße in Zwillingsstudien zu etwa 90 Prozent genetisch bedingt.
Manche Gene spielen nur dann eine Rolle, wenn es eine entsprechende Umwelt dazu gibt.
In der Gesamtbevölkerung spielt die Umwelt aber eine größere Rolle, als diese Zahl vermuten lässt. Zum Beispiel ist die durchschnittliche Körpergröße in Österreich von 1900 bis heute um etwa zehn Zentimeter gestiegen – das lag natürlich nicht an einer Veränderung der Gene, sondern an der Ernährung und an weniger schweren Erkrankungen in der Wachstumsphase, unter anderem dank besserer Hygiene und umfassender Impfung gegen gefährliche „Kinderkrankheiten“.
Und was hat es mit Gen-Umwelt-Interaktionen auf sich?
Bock: Manche Gene spielen nur dann eine Rolle, wenn es eine entsprechende Umwelt dazu gibt. Ein Beispiel: Bestimmte genetische Faktoren machen es sehr schwer, mit dem Rauchen aufzuhören – aber wenn man nie zu Rauchen beginnt, dann stellt sich das Problem gar nicht. Unsere Gene können auch unsere Umwelt beziehungsweise unser Umfeld beeinflussen. Ein Beispiel: Ein junger Mann mit einer Körpergröße über sieben Fuß, das entspricht in etwa 2,13 Meter, hat in den USA eine Chance von mehr als 10 Prozent in der Basketball-Liga NBA zu spielen.
Andere Merkmale sind wesentlich weniger genetisch festgelegt. Die Lebenserwartung liegt bei nur rund 30 Prozent Erblichkeit in Zwillingsstudien, weil viele Todesursachen – Unfälle, Infektionen, Krebs – auch ganz wesentlich von zufälligen Ereignissen abhängen.
Gene von Adolf Hitler
In einer TV-Doku wurde kürzlich die DNA von Adolf Hitler analysiert, um Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zu ziehen. Inwieweit kann man aus den Genen einer Person Aussagen zum Verhalten treffen?
Bock: Vorweg: Diese Analyse wurde bisher nicht wissenschaftlich veröffentlicht, sondern nur in einer TV-Doku beschrieben. Aus akademischer Sicht wäre es richtig gewesen, zuerst Daten und Paper zu publizieren und dann die TV-Doku. Daher kann ich nur sehr allgemein antworten. Eine detaillierte wissenschaftliche Einschätzung muss warten, bis die Details veröffentlicht wurden.
Die Lebenserwartung liegt bei nur rund 30 Prozent Erblichkeit in Zwillingsstudien.
Gewisse Aspekte unseres Verhaltens haben eine ausgeprägte genetische Basis. Bei manchen psychischen Krankheiten wie der Schizophrenie liegt die Erblichkeit bei etwa 80 Prozent in Zwillingsstudien. Bei klinischen Depressionen sind es immerhin noch 40 Prozent.
Auch alltägliche Eigenschaften haben genetische Anteile, zum Beispiel Neugier oder Vorsicht. Ein überraschendes Beispiel sind sexuell übertragbare Krankheiten wie HIV: Hier führt eine teilweise genetisch bedingte Risikobereitschaft zu deutlich erhöhten Infektionsraten.
Aber das alles sind statistische Aussagen, die Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit bestimmter Eigenschaften betreffen und nur für den Durchschnitt einer größeren Gruppe von Personen aussagekräftig sind. Auf die einzelne Person heruntergebrochen ist es reine Spekulation.
Europas Gene
Sie haben das erste österreichische Human-Genom-Projekt maßgeblich mitgestaltet. Wie kam es dazu?
Bock: Als ich 2012 ans CeMM kam, war Genetik in Österreich ein sensibles Thema. Auf der Milch stand in Großbuchstaben „GEN-FREI“ und nur bei näherem Hinsehen erschloss sich, dass natürlich gemeint ist, dass keine genetisch veränderten Pflanzen verfüttert wurden. Aber damals war schon klar, dass eine moderne Medizin ohne Genom-Analysen nicht auskommen würde.
Heute ist Genomsequenzierung klinische Routine, vor allem bei seltenen Erkrankungen und in der Krebsmedizin.
Wir wollten also mit der Genom-Sequenzierung nicht gleich bei schwerkranken Personen beginnen, sondern erst einmal zusammen mit gesunden Freiwilligen erkunden, was man aus persönlichen Genomen herauslesen kann. Der erste Teilnehmer war CeMM-Direktor Giulio Superti-Furga. Es haben sich danach über tausend Freiwillige für eine Teilnahme angemeldet, von denen wir damals aus Kostengründen nur 20 Personen auswählen konnten.
Genom Austria hat die ersten persönlichen Genome in Österreich sequenziert, analysiert und frei im Internet veröffentlicht – in enger Begleitung mit führenden Bioethik-Expert:innen. Außerdem haben wir ein Bildungs- und Schulprojekt durchgeführt, in dem wir mit jungen Menschen über die Möglichkeiten und Grenzen der Genomforschung gesprochen haben.
Wie steht es heute um Genom Austria?
Bock: Heute ist Genomsequenzierung klinische Routine, vor allem bei seltenen Erkrankungen und in der Krebsmedizin. Ein österreichisches Referenzgenom fehlte aber weiterhin – die meisten Daten stammen hauptsächlich aus Großbritannien, den USA, Island, Deutschland, und anderen Ländern.
Dank einer EU-Initiative wurde im vergangenen Jahr das „Genome of Europe“ Projekt gestartet, in dessen Rahmen 100.000 Genome von Personen in der EU sequenziert werden sollen. Jedes Land trägt proportional zur Bevölkerungszahl bei. Für Österreich sind das etwas über 2.000 Genome. Knapp die Hälfte wird am CeMM sequenziert, die Medizinische Universität Innsbruck koordiniert das Projekt. So entsteht nun – zehn Jahre nach dem Start von Genom Austria – doch noch eine genomische Landkarte Europas mit einem substantiellen österreichischen Beitrag.
Chancen der Genomsequenzierung
Welche Vorteile bringt Genomsequenzierung den Menschen in Österreich?
Bock: Die Genomsequenzierung nutzt insbesondere Personen mit seltenen genetischen Erkrankungen: Obwohl rund zehn Prozent der Bevölkerung betroffen sind, verteilen sich die Fälle auf Tausende unterschiedliche Diagnosen, sodass die Ursache der Erkrankung früher häufig unklar blieb. Heute ermöglicht die Sequenzierung bei etwa der Hälfte der Betroffenen eine rasche und präzise Diagnose – manchmal verbunden mit neuen, gezielten Behandlungsmöglichkeiten.
Auch in der Krebsmedizin spielt die Analyse des Erbguts eine wichtige Rolle. Da Tumore genetisch veränderte körpereigene Zellen sind, lassen sich durch ihre Sequenzierung spezifische Schwachstellen identifizieren, gegen die maßgeschneiderte Therapien eingesetzt werden können. Das ist bei einigen Krebsarten bereits ein etablierter Standard und soll weiter ausgebaut werden.
Genomsequenzierung trägt zur öffentlichen Gesundheit bei.
Darüber hinaus nutzen manche Menschen genetische Tests für die Ahnenforschung oder zur Bestimmung persönlicher Merkmale. Das kann Einblicke in die eigene Herkunft liefern, birgt jedoch auch Risiken – etwa das Auftauchen unerwarteter familiärer Verbindungen oder genetischer Informationen, die man möglicherweise gar nicht erfahren wollte.
Und auf gesellschaftlicher Ebene trägt die Genomsequenzierung zur öffentlichen Gesundheit bei. Seit der COVID-19-Pandemie wird beispielsweise das Abwasser in Kläranlagen genetisch auf gefährliche Viren und Krankheitserreger untersucht.
Kurz gesagt: Genomsequenzierung verbessert Diagnosen, ermöglicht personalisierte Krebstherapie, kann die Ahnenforschung unterstützen und warnt vor Krankheitserregern.
Weitere Informationen
Christoph Bock forscht am CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und ist Professor für Medizinische Informatik an der Medizinischen Universität Wien. Zuvor war er u.a. am MIT, in Harvard und am Max Planck-Institut für Informatik tätig. Der zweifache ERC-Preisträger ist seit 2017 Mitglied der Jungen Akademie der ÖAW und erhielt 2022 den Erwin Schrödinger-Preis der ÖAW.