22.09.2023 | Mittelalterforschung

Das andere Rom: ein Imperium, das der Zeit trotzte

Wie gelang es Konstantinopel, den "Fall" des Römischen Reichs im Westen über Jahrhunderte zu überdauern und im Osten über viele Jahrhunderte ein eigenes Römisches Imperium zusammenzuhalten? Neue Antworten auf dieses alte Rätsel gibt der ÖAW-Mittelalterforscher und Byzantinist Johannes Preiser-Kapeller in seinem soeben erschienenen Buch.

Eine rekonstruierte Stadtmauer von Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Bis vor über 500 Jahren das Zentrum des Oströmischen Reichs. © AdobeStock

Die Geschichte des Römischen Reichs endete nicht mit dessen Untergang - sie überdauerte den Fall Roms und die Absetzung des Kaisers Romulus Augustulus im Jahr 476 sogar noch über fast ein ganzes Jahrtausend. Zwar hatte dieses Reich seinen Schwerpunkt nicht mehr in heutigen Italien, sondern in Byzanz – oder wie es Johannes Preiser-Kapeller, Byzantinist und Globalhistoriker am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), lieber nennt – im Neuen Rom. Doch an Selbstbewusstsein, Widerstandsfähigkeit und Reichtum stand es dem alten Römischen Reich im Westen nur wenig nach. Über die beeindruckten Entwicklung dieses mächtigen Reiches, über dessen Niederlagen und Höhepunkte schreibt der ÖAW-Historiker in seinem neu erschienen Buch „Byzanz – das Neue Rom und die Welt des Mittelalters“. Ausgewählte Einblicke dazu gibt er im Interview. 

Das Römische Reich im Mittelalter

In Ihrem neuen Buch geht es um einen sehr langen Zeitraum der Geschichte – ganze 1000 Jahre. Was kennzeichnet den Beginn und was das Ende dieser Epoche?

Johannes Preiser-Kapeller: Dieser Zeitraum umfasst die Geschichte des Römischen Reiches im Mittelalter. Sie beginnt im 4 Jh. n. Chr. mit der Christianisierung des Römischen Reiches und der Gründung der neuen Hauptstadt Konstantinopel, das man das Neue Rom nennt. Und sie endet, als Konstantinopel am 29. Mai 1453 durch die osmanische Armee erobert wird und die Zeit des Römischen Reiches im Osten damit vorbei ist.

Dort gab es noch bis 1453 einen römischen Kaiser, der dieselben Titel trug wie Kaiser Augustus.

Ist es nicht sehr schwierig tausend Jahre in einem Buch von 350 Seiten unterzubringen?

Preiser-Kapeller: Natürlich war es eine Herausforderung, weil man es als Wissenschaftler:in gewohnt ist, in Details zu gehen und alle Komplexitäten unterzubringen. Und nun musste ich eine Auswahl treffen. Gleichzeitig war es auch eine interessante Aufgabe, herauszuarbeiten, was mir besonders wichtig ist und welche Aspekte der Geschichte dieses Reiches ich erzählen und welche neuen Forschungsergebnisse ich einbringen möchte.

Byzanz als Kunstbegriff

Welche Aspekte sind das?

Preiser-Kapeller: Zentral für mich ist, dass „Byzanz“ ein Kunstbegriff ist, der erst nach dem Ende dieses Reiches entstanden ist, um es vom Römischen Reich des Altertums abzugrenzen. Dieses „Alte Rom“ wird gemeinhin mit Kaisern, Gladiatorenspielen usw. verbunden. Dieses Reich ging im Westen im 5. Jh. n. Chr. zu Ende, die Stadt Rom wurde zweimal geplündert und der letzte Kaiser 476 abgesetzt.

Demgegenüber bestand jedoch eine Kontinuität der römischen Identität und des Römisches Reichs im Osten in Konstantinopel. Dort gab es noch bis 1453 einen römischen Kaiser, der – wenn auch auf Griechisch – dieselben Titel trug wie Kaiser Augustus zu Beginn der Linie dieser Kaiser. Und dass es diesem Römischen Reich trotz Niederlagen und Katastrophen gelang, sich immer wieder neu zu erfinden und den Anspruch zu stellen, ein weltbeherrschendes Imperium zu sein.

Und welche weiteren Inhalte waren für Sie ein Muss?

Preiser-Kapeller:  Einerseits aufzuzeigen, wie das Reich in der Lage war, sich an viele Veränderungen in diesem Zwischenraum zwischen Europa, Afrika und Asien anzupassen. Dieses Römische Reich blieb über ein Jahrtausend ein zentraler Angelpunkt für die Entwicklung dieser Erdteile.

Andererseits wollte ich die Geschichte auch aus einer anderen Perspektive erzählen. Also nicht nur von Seite der Eliten, der Herrschenden, sondern auch begreifbar zu machen, was dieses Reich für die einfachen Menschen oder für die Nachbarvölker, die von diesem Reich beherrscht wurden, bedeutet hatte.

Wir sind Römer.

Das Römische Reich wurde also fortgesetzt. An welchen Punkten kann man diese Kontinuität festmachen?

Preiser-Kapeller: Das eine ist die Selbstbezeichnung. Man sprach zwar im Osten des Mittelmeerraums Griechisch, das war damals dort seit dem 4. Jh. v. Chr. die Hauptverkehrssprache. Dennoch identifizierten sich die Menschen dort im Laufe der Zeit mit dem Römischen Reich so weit, dass sie von sich selbst sagten „Wir sind Römer“.

Gleichzeitig verstand man Konstantinopel als „Neues Rom“, dem die Zukunft gehörte. Und dieser Anspruch, dass die wahre Macht im Neuen Rom sitzt, wurde bis zum Schluss durchgehalten. Ebenso entwickelte man für dieses Römische Reich eine wesentliche Rolle in der christlichen Heilsgeschichte. Man nahm an, dass das Römische Reich das letzte Imperium in einer Abfolge von Weltreichen ist und der Garant dafür, dass die Welt weiterbesteht und das Weltende aufgehalten wird. Im Laufe der Zeit verstanden sich die Römer des Ostens als auserwähltes Volk und Konstantinopel nicht nur als das Neue Rom, sondern auch als das „neue Jerusalem“.

Krisen in der Geschichte

Welche großen Krisen gab es in den tausend Jahren des Neuen Rom und wie wurde das Ende eingeleitet?

Preiser-Kapeller: Eine große Katastrophe markierte die zweite Hälfte des vielleicht bekanntesten Kaisers des Ostens, Justinian, im 6. Jh. Ab dem Jahr 536 kam zu einem großen klimatischen Einbruch, dramatisch eingeleitet durch eine Verdunkelung der Sonne über mehrere Monate nach einem Vulkanausbruch. Es folgte eine Abkühlung des Klimas, die als „spätantike Kleine Eiszeit“ bezeichnet wird. Diese klimatischen Schwankungen trugen auch zum Ausbruch einer großen Pestpandemie ab 541 bei, im Zuge derer wohl ein Drittel der Bevölkerung starb. Diese Seuche kehrte über 200 Jahre immer wieder und führte zu großen demografischen und wirtschaftlichen Schäden.

Dann musste das Reich auch mit geopolitischen Umwälzungen zurechtkommen, etwa der Entstehung des arabischen Weltreichs im 7. Jh. Dadurch gingen die reichsten Provinzen Syrien und Ägypten verloren. Aber das Römische Reich konnte diese existentielle Krise überstehen, wie es sich auch in der Folge immer wieder als widerstandsfähig erwies, Katastrophen überwand und seine Großmachtposition erneut etablierte. Erst mit dem 4. Kreuzzug wurde Konstantinopel im Jahr 1204 zum ersten Mal von außen erobert und schwer verwüstet. Damals endete eine urbane Kontinuität seit der Antike. Davon konnten sich die Stadt und das Reich nicht mehr völlig erholen, sie hatten nicht mehr dieselbe Machtstellung.

Bedeutung bis in die Gegenwart

Welche Bedeutung hat dieses Reich bis heute noch?

Preiser-Kapeller: Das Jahrtausend des Neuen Rom deckt das gesamte Mittelalter und den Übergang zwischen Antike und Neuzeit ab. Es entstanden neue Großreiche, die aber weiter versuchten das Neue Rom als erdteilübergreifendes Imperium zu imitieren. In Gestalt der Ostkirchen oder der Verflechtungen zwischen Afrika, Asien und Europa wirkt es bis in die Gegenwart als ein Reich, das eine globale Bedeutung hatte, lange bevor über Globalisierung gesprochen wurde.

„Byzanz“ ist kein wertfreier Begriff.

Sie versuchen den Begriff Byzanz bewusst zu vermeiden. Warum sind sie gegen die Bezeichnung „Byzanz“?

Preiser-Kapeller: „Byzanz“ ist kein wertfreier Begriff. Bis heute wird Byzanz mit dem Klischee des „Byzantinismus“ verknüpft, einem System, das gekennzeichnet sei durch Gewaltherrschaft, durch ein intrigantes Palastsystem, in dem geheuchelt wird. So bezeichnet man bis heute Diktaturen, die man mit dem Bild vergleicht, dass vom Römischen Reich des Mittelalters kursiert, als „byzantinisch“, wie etwa Nordkorea. Dieses schlechte Image, das mit dem Byzanzbegriff verbunden ist, stimmt mit den Erkenntnissen der Wissenschaft überhaupt nicht überein.

Teil der Globalgeschichte

Welche Ihrer eigenen Forschungsergebnisse haben Sie in das Buch eingebracht?

Preiser-Kapeller: Das ist zum einen die Globalgeschichte, also die weite Vernetzung dieses Reiches bis nach Zentralasien, Ostafrika und nach Nordeuropa sowie der Aspekt der Mobilität und Migration über große Distanzen. Ein weiterer Bereich ist die Umwelt und Klimageschichte des Mittelalters, aus der ich auch meine eigenen neuesten Forschungsergebnisse in das Buch einfließen ließ.

Sie haben schon mehrere Bücher geschrieben, eines Ihrer letzten Werke wurde auf die Longlist des Wissenschaftsbuches des Jahres 2019 in Österreich gesetzt. Wie gelingt es Ihnen, Geschichte spannend für eine breite Leser:innenschaft zu vermitteln?

Preiser-Kapeller: Ich mache sehr viel Wissenschaftskommunikation. So unterrichte ich regelmäßig an den Volkshochschulen, mache mit bei der „Langen Nacht der Forschung“ und bin Teil der Wissenschaftskommunikation an den Schulen. Das heißt, ich versuche ständig Wissenschaft an ein Nicht-Fachpublikum zu vermitteln und da bekommt man ein bisschen ein Gespür dafür, was die Menschen auch aus ihrem Alltag heraus interessiert, also etwa die Auswirkungen von Pandemien oder des Klimawandels in der Vergangenheit. Und es fällt mir so leichter, mir potentielle Leser:innen vorzustellen, an welche sich das Buch richtet.

 

Auf einen Blick

„Byzanz – das Neue Rom und die Welt des Mittelalters“ von ÖAW-Forscher Johannes Preiser-Kapeller ist erschienen im C.H. Beck Verlag.

Byzanz - DAS NEUE ROM UND DIE WELT DES MITTELALTERS