Claudia Rapp, was können wir aus der Geschichte lernen?
Claudia Rapp: Für uns besteht die Geschichte nicht nur aus Geschichten, sondern auch aus den Analysen und Interpretationen, die wir daraus gewinnen. Unsere Gesellschaftsmodelle sind nicht die einzig möglichen. Wir verstehen, wie andere Gesellschaften ihr Leben eingerichtet haben. Wir verstehen auch, wie Konflikte entstanden sind – und können im Rückblick sehr gut analysieren, wie solche Konflikte zu vermeiden gewesen wären. Das hat auch heute Bedeutung: Wir können aktuelle Ereignisse mit Weitblick betrachten und erkennen, dass ähnliche Konstellationen schon einmal existiert haben.
Jede Generation schreibt ihre Geschichte neu.
Welche Rolle spielt historische Grundlagenforschung im Zeitalter von Google und KI?
Rapp: Jede Generation schreibt ihre Geschichte neu. Wir stellen immer wieder neue Fragen an das historische Material. Was uns digital begegnet, ist nur das, was wir in dieses Medium eingespeist haben. Denn auch die KI ist menschengemacht. Es gibt noch viel unbearbeitetes Material und zahlreiche Werke, die noch nicht digitalisiert sind – etwa Bücher des 19. Jahrhunderts. Unsere Aufgabe als Historiker:innen und Humanwissenschaftler:innen ist es, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen: Wissen ist Macht, aber wer macht das Wissen, und was machen Menschen mit diesem Wissen? Das sind zentrale Fragen, die keine KI beantworten kann. Fundiertes Wissen entsteht nur, wenn wir uns immer wieder neu mit den Quellen befassen oder neue Quellengattungen erschließen.
Inwiefern trägt Ihre eigene Forschung über das Byzantinische Reich dazu bei, unsere heutige Welt besser zu verstehen?
Antwort: Diese Frage beantworte ich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich. Heute würde ich sagen: Es geht viel um die Inszenierung von Politik – wie Machtfiguren sich darstellen, mit Ritualen und Symbolsprache, um ihre Autorität zu behaupten. Das beobachten wir heute wieder verstärkt, vor allem in Systemen, die nicht mehr demokratisch sind.
Oder nehmen wir Außenpolitik als Beispiel. Nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelte der Wissenschaftler Robert Nye das Konzept der Soft Power: Einfluss nicht durch Krieg, sondern durch Kultur, Werte und Symbole zu gewinnen. Genau das praktizierte früher auch Byzanz – etwa durch diplomatische Geschenke oder die Verbreitung des orthodoxen Christentums. Solche „Schachzüge“ in der Politik gibt es in allen Epochen.
Eurasien unter der Lupe
Sie leiten im Rahmen des „Cluster of Excellence“ des Wissenschaftsfonds FWF das Forschungsprojekt „EurAsian Transformations“. Welche Themenfelder stehen hier im Zentrum?
Antwort: Das EurAsia-Projekt ist eine einzigartige Struktur, die der FWF ermöglicht hat: eine Zusammenarbeit von vier Institutionen – Universität Innsbruck, Central European University, Universität Wien und Österreichische Akademie der Wissenschaften. Inzwischen sind über 100 Forschende beteiligt, von Doktorand:innen bis zu Emeriti. Wir untersuchen drei große Themenfelder: Reiche und ihre Grenzgebiete, Mobilität und Kommunikation sowie Religionen und Identitäten. Dabei geht es um Macht- und Kulturkontakte, um Bewegungen von Menschen und Ideen und um die prägende Rolle von Religionen wie Christentum, Islam oder Buddhismus. Wir arbeiten eng mit Kolleg:innen in den betreffenden Ländern zusammen und legen großen Wert auf Sprachkenntnisse, um Dokumente im Original zu sichten, zu katalogisieren und zugänglich zu machen.
Wir haben mit einem großen Experiment begonnen.
Was fasziniert Sie daran am meisten?
Rapp: Wir haben mit einem großen Experiment begonnen: Wir wollten den gesamten Kulturraum vom frühen ersten Jahrtausend bis etwa 1500 erforschen – und zugleich seine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung bis in die neuere Zeit. Es hat sich gezeigt, dass dieser Ansatz trägt: Es ist sinnvoll, den Raum als Ganzes zu verstehen und Verbindungen aufzuzeigen. Besonders relevant ist dies heute im Hinblick auf die russische Politik. Der Begriff „Eurasien“ wurde im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich definiert – geologisch, geografisch und politisch. Gerade in politischer Hinsicht wird er genutzt, um Gebietsansprüche zu legitimieren. Unsere Aufgabe ist es, solche Vereinnahmungen sichtbar zu machen und wissenschaftlich einzuordnen.
Zur Person
Claudia Rapp ist Direktorin des Instituts für Mittelalterforschung der ÖAW. Die vielfach ausgezeichnete Historikerin und Byzantinistin widmet sich in ihrer Forschung unter anderem der Kultur-, Sozial- und Geistesgeschichte Europas und Asiens.




