02.11.2022 | China

Xi im Machtrausch: China gerät aus der Balance

Sinologin und ÖAW-Mitglied Susanne Weigelin-Schwiedrzik erklärt im Interview, wie der chinesische Präsident Xi Jinping seine Macht ausgebaut hat, um eine beispiellose dritte Amtszeit zu erreichen und wie seine Säuberung der politischen Eliten das sensible politische Gleichgewicht im Reich der Mitte stören könnte.

Xi Jinping geht in eine dritte Amtszeit. Damit hat er eine ähnliche Machtfülle wie vor ihm nur Mao Zedong. © Shutterstock

„Die Parteitage der Kommunistischen Partei Chinas sind üblicherweise recht langweilig“, sagt Susanne Weigelin-Schwiedrzik. Das Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beobachtet das Land schon lange. Doch diesmal war es alles andere als belanglos. Am 20. Parteitag wurde Xi Jinping für eine dritte Amtszeit als Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas wiedergewählt. Ein Ereignis von historischer Tragweite. Seit Staatsgründer Mao Zedong war kein chinesischer Präsident länger als zehn Jahre an der Macht.

Sinologin Weigelin-Schwiedrzik sieht in der neuen Machtfülle Xis ein Problem für China - und für die Welt: „Jetzt hat Xi genug Macht, um eine Invasion Taiwans durchzusetzen, wenn er das will.“

XI JINPING HAT SICH DURCHGESETZT

Der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas ist kürzlich zu Ende gegangen. Was ist passiert?

Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Diese Parteitage sind üblicherweise recht langweilig, da geht es vor allem um die Auswahl des Personals der Partei. Die Veranstaltungen sind bis ins Detail orchestriert. Die Eröffnungsrede von Präsident Xi war sehr vage, er hat weder die USA noch Russland oder den Krieg in der Ukraine erwähnt und sich ausschließlich auf die Situation in China bezogen, die nach seiner Sicht aber natürlich auch Taiwan inkludiert. 

Wie mächtig ist Xi nach diesem Parteitag? 

Weigelin-Schwiedrzik: Mein Eindruck ist, dass er sich mit all seinen politischen Ideen durchgesetzt hat. Es hat sich alles so ergeben, wie er es haben wollte und die Personalentscheidungen wurden natürlich alle einstimmig angenommen. Xi kann jetzt ungehindert durchregieren, was für das Land ein Desaster ist. 

Xi kann jetzt ungehindert durchregieren, was für das Land ein Desaster ist. 

Was bedeutet die dritte Amtszeit von Xi?

Weigelin-Schwiedrzik: Nach der Mao-Ära von 1949 bis 1976 wurden mehrere Maßnahmen gesetzt, um eine zu starke Machtkonzentration zu verhindern. Die Partei hat entschieden, auf kollektive Führung zu setzen, um zu verhindern, dass eine Person so viel Macht erlangt, dass sie die Bevölkerung gegen die Partei aufhetzen kann wie es unter Mao in der Kulturrevolution geschehen ist. Xis dritte Amtszeit bedeutet das Ende dieser pluralistischen Tradition.

EINE POST-MAO-ÄRA HAT BEGONNEN 

Warum hat die Partei nach Maos Tod ihre Führung neu aufgestellt?

Weigelin-Schwiedrzik: Mao hat die Bevölkerung mit der Kulturrevolution und dem großen Sprung nach vorne drangsaliert. Das war ein Problem für die Legitimation der Partei und sollte fortan verhindert werden. Als Deng Xiaoping 1978 an die Macht gekommen ist, hat er sich an die Spitze der Erneuerungsbewegung in der Partei gestellt und gleichzeitig auf formelle Ämter verzichtet. Er hat die Partei bis zu seinem Tod 1997 gelenkt, ohne offiziell an ihrer Spitze zu stehen. Dass erfahrene Altpolitiker aus dem Hintergrund Einfluss nehmen, ist seitdem der Normalfall geworden. 

Beim Parteitag hat Xi offenbar den Einfluss dieser grauen Eminenzen zurückgedrängt und rivalisierende Fraktionen aus allen wichtigen Gremien entfernt?

Weigelin-Schwiedrzik: Xi hat de facto viel mehr Macht als vor dem Parteitag, weil die Fraktionen, die ihn vorher zu Kompromissen gezwungen haben, jetzt keine Rolle mehr spielen. Die wichtigsten Instanzen der Partei sind ab sofort ausschließlich mit Personen besetzt, die loyal gegenüber ihrem Chef sind. Das birgt aber auch Risken für Xi: Die entmachtete Jugendorganisationsfraktion des Altpräsidenten Hu Jintao zum Beispiel war traditionell ein Reservoir für kompetente Führungspersönlichkeiten. Ohne diese erfahrenen Technokraten könnte es schwierig werden, das Kompetenzniveau in der Regierung zu halten.

Die entmachtete Jugendorganisationsfraktion des Altpräsidenten Hu Jintao ist ein Reservoir für kompetente Führungspersönlichkeiten. Ohne diese erfahrenen Technokraten könnte es schwierig werden.

Wie lässt sich Xis neue Machtfülle historisch einordnen?

Weigelin-Schwiedrzik: Solche Machtkonzentrationen mit personellen Säuberungen sind in Chinas Geschichte öfter vorgekommen, etwa während der Kulturrevolution oder 1989. Diese Konstellationen haben sich aber nie lange gehalten, in der Kulturrevolution kam es nach 5 Jahren zu einer schleichenden Veränderung, 1989 hat es drei Jahre gebraucht, bis die Technokraten zurückgeholt wurden, weil die Regierung ohne sie nicht stabil war und die wirtschaftlichen Probleme überhand nahmen.

MACHTPOLITIKER XI

Wie hat Xi es geschafft, so viel Macht zu konzentrieren?

Weigelin-Schwiedrzik: Wenn man seine Bilanz der vergangenen Jahre anschaut, kann einem nur schaudern. Die Wirtschaft war schon vor der Coronakrise in einem schlechten Zustand und Xis Umgang mit der Pandemie im eigenen Land hat großes Leid über die Bevölkerung gebracht. Es ist schwer zu sehen, wo er tatsächlich etwas geleistet hätte. Seinen Aufstieg in der Partei verdankt Xi einer Mischung aus Zufall und beinharter Machtpolitik. 2012 ist er auch deshalb zum ersten Mal in das Amt des Parteivorsitzenden gewählt worden, weil viele in der Partei geglaubt haben, dass dieser vordergründig mediokre Mann ohne große Ideen eine leicht zu kontrollierende Marionette sein würde. 

Seinen Aufstieg in der Partei verdankt Xi einer Mischung aus Zufall und beinharter Machtpolitik.

Das hat sich rasch als Irrtum entpuppt.

Weigelin-Schwiedrzik: Anfangs war das Politbüro noch vielstimmig zusammengesetzt und Xi musste viele Kompromisse machen. Er war aber sehr geschickt darin, seine Macht zu konsolidieren. Mit einer als Antikorruptionskampagne getarnten Säuberungsaktion hat er seine Gegner im System ausgehebelt, was in der Bevölkerung gut ankam, weil Korruption tatsächlich ein großes Problem ist. Mittlerweile hat er vor allem das Militär und den Sicherheitsapparat Chinas von Widersachern bereinigt und zu den wichtigsten Säulen seiner Macht gemacht. 

Was bedeutet diese Machtkonzentration für das politische System?

Weigelin-Schwiedrzik: Es gibt in China Muster der politischen Dynamik, die älter sind als die Kommunistische Partei. Üblicherweise gibt es innerhalb der politischen Elite im Wettstreit miteinander stehende Fraktionen. Dieser Umstand sorgt dafür, dass das ganze Land sich in der Führung vertreten sieht. Wenn diese Mechanismen durch eine Zentralisierung und Konzentration auf eine politische Linie ausgehebelt werden, sucht das System nach anderen Formen der Dynamik. So kann es z.B. dazu kommen, dass sich die Provinzen gegen Beijing auflehnen. Das sind oft heikle Phasen der Geschichte, 1911 hat eine solche Konstellation das Ende der Monarchie in China besiegelt. 

KEINE DEMOKRATISIERUNG IN SICHT

Die Provinzen sind die größte Bedrohung für Xis Machtposition?

Weigelin-Schwiedrzik: Seit 1978 ist auch die Zivilgesellschaft in China erstarkt. Im Zusammenspiel mit der schnell wachsenden Wirtschaft ist das Selbstbewusstsein der Gesellschaft in Auseinandersetzung mit dem Staat gewachsen. Es kommt zu verschiedenen offenen und versteckten Formen des Protests. Das war auch vor dem Parteitag zu beobachten. Die Menschen protestieren, weil die Banken kein Bargeld mehr ausgeben, in der Immobilienkrise weigern sie sich, ihre Hypotheken abzuzahlen, in Shanghai wurde gegen den Lockdown protestiert, und junge Menschen greifen zum Mittel des „Flachliegens“ als eine Form der Arbeitsverweigerung.

Ist das ein Schritt in Richtung Demokratisierung, wie er von westlichen Beobachtern oft prognostiziert wurde?

Weigelin-Schwiedrzik: Die USA haben diese Geschichte gerne erzählt, weil ihre Wirtschaft China als Markt gebraucht hat und sie die Kooperation mit einem autokratischen System rechtfertigen mussten. Auch im deutschsprachigen Raum galt lange das Motto “Wandel durch Handel”. Die These war, dass marktwirtschaftliche Reformen eine Mittelklasse schaffen würden, die dann Demokratie fordern würde. Ich habe nie daran geglaubt, dass das stimmt. Mittlerweile umfasst Chinas Mittelklasse etwa 500 Millionen Menschen. Rufe nach Demokratie sind aber kaum zu hören. Als Antwort auf die Protestbewegung des Jahres 1989 hat die Partei einen klugen Plan entwickelt, um die Demokratisierung zu verhindern: Sie hat die Mittelklasse gekauft, indem sie ihr erlaubt hat, reich zu werden, wenn sie die Herrschaft der Partei nicht in Frage stellt.

Mittlerweile umfasst Chinas Mittelklasse etwa 500 Millionen Menschen. Rufe nach Demokratie sind aber kaum zu hören.

Ist eine unzufriedene Mittelklasse eine Bedrohung für Xi?

Weigelin-Schwiedrzik: Die Mittelklasse wird langsam nervös. Bisher konnte sie ihre Kinder in die USA oder nach Europa schicken, um zu studieren. Das wird aufgrund der wachsenden internationalen Spannungen in Zukunft schwieriger werden. Um seine Ausgaben für Militär und Sicherheit zu decken, hat Xi zudem die Steuern erhöht. Wenn die Wirtschaft weiter an Fahrt verliert, gerät der Deal zwischen der Mittelklasse und der Regierung unter Druck. Die Menschen schreien nicht nach Veränderung, solange sie ein wenig Freiheit genießen und ihr Kapital gut anlegen können. Dabei geht es mehr um die Freiheit, zu konsumieren, zu reisen und reich zu werden als darum, sich politisch einbringen zu können. Diese Freiheit ist in den letzten Jahren zunehmend eingeschränkt worden.

DROHT EIN KRIEG GEGEN TAIWAN?

Ist Xis Zentralisierung eine Reaktion auf diese Bedrohungen?

Weigelin-Schwiedrzik: Hier geht es um die Verteilung der Macht zwischen Staat und Gesellschaft. Wenn Wirtschaft und Gesellschaft zu stark werden, ist das Primat der Partei nicht aufrechtzuerhalten. Xi hat jetzt das Problem, dass er der Bevölkerung erklären muss, warum der Staat nach einer langen Phase der Zurückhaltung wieder ins Zentrum rückt. In seinen Reden auf dem Parteitag hat er von starken Bedrohungen von außen und von innen gesprochen, die eine Zentralisierung rechtfertigen. Derartige Aussagen und Xis Rückkehr zu einer bestimmenden Rolle des Staates in der Wirtschaft verbunden mit dem Bemühen um Autarkie in bestimmten Wirtschaftsbereichen können auch als Vorbereitung auf eine mögliche kriegerische Auseinandersetzung gedeutet werden. Es wird der Bevölkerung erklärt, dass die vielfältigen Bedrohungen - einschließlich der Möglichkeit eines Krieges - verlangen, dass sie sich der Partei und dem Staat unterordnet.

Jetzt hat Xi genug Macht, um eine Invasion Taiwans durchzusetzen, wenn er das will.

Eine Invasion in Taiwan, das wichtigste Zentrum der globalen Halbleiterherstellung, hätte katastrophale Folgen für die Welt. Zieht Xi das tatsächlich in Betracht?

Weigelin-Schwiedrzik: Bisher gab es immer Stimmen aus Partei und Militär, die gewarnt haben, dass die Risiken zu groß wären. Jetzt hat Xi genug Macht, um eine Invasion durchzusetzen, wenn er das will. Entwicklungen wie das Exportverbot der USA für bestimmte Computerchips haben das Potenzial, der chinesischen Wirtschaft den Teppich unter den Füßen wegzuziehen und das Entwicklungsmodell in der VR China grundlegend zu unterminieren. In einer solchen Situation sieht die Partei sich in ihrem Führungsanspruch bedroht, und das Risiko für eine Kurzschlussreaktion steigt. Xi weiß aber auch, dass ein Krieg gegen Taiwan große Risiken in sich birgt: Kommt es zu einer Niederlage, ist die Parteiherrschaft am Ende.

Wie wird sich Chinas Außenpolitik unter einem mächtigeren Xi ändern?

Weigelin-Schwiedrzik: Hier ist es für eine Einschätzung noch zu früh. In den Parteitagsreden hat Xi sich dazu nicht geäußert. Bisher hat die Vielstimmigkeit in der Parteiführung für Ambiguität und Kompromiss gesorgt. Jetzt scheint Xi Ambiguität durch vage Formulierungen zu schaffen. China ist damit derzeit unberechenbarer als zuvor. Wie er sein Land künftig positionieren will, werden wir erst wissen, wenn er erste Maßnahmen gesetzt hat.

 

AUF EINEN BLICK

Susanne Weigelin-Schwiedrzik ist Sinologie und war bis zu ihrer Emeritierung 2020 Professorin für Sinologie am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien. Sie ist Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).