25.01.2023 | Politikberatung

Wie wissenschaftliche Politikberatung funktionieren kann

Forscher:innen der ÖAW beraten Abgeordnete des Parlaments in allen Fragen, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt mit sich bringt. Worum es dabei geht und was es braucht, damit diese Zusammenarbeit gelingen kann, erklärt ÖAW-Technikforscher Michael Nentwich.

Der Bundesversammlungssaal des 2023 neu eröffneten Parlamentgebäudes. © Parlamentsdirektion/­Johannes Zinner

Wie lässt sich algorithmische Diskriminierung verhindern? Werden wir in Zukunft in Häusern aus dem 3D-Drucker wohnen? Und: Welchen Einfluss hat die zunehmende Lichtverschmutzung auf unsere Gesundheit? Es sind Fragen wie diese mit denen sich das Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) auseinandersetzt. Die gesellschaftlichen Auswirkungen von Technik werden dabei aus vielen Blickwinkeln heraus erforscht. Auf diese Expertise setzt auch das österreichische Parlament. Forscher:innen der ÖAW unterstützen den Nationalrat in den Bereichen Foresight und Technikfolgenabschätzung – und diese Zusammenarbeit wurde kürzlich mit einem neuen Kooperationsvertrag gefestigt.

Über die Rolle der parlamentarischen Technikfolgenabschätzung und die spezifischen Herausforderungen, konkrete politische Entscheidungen zum Umgang mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt beratend zu begleiten, spricht Michael Nentwich, Direktor des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung der ÖAW, im Interview.

Technik auf dem Vormarsch

Warum wird es immer wichtiger, über die gesellschaftlichen Auswirkungen von technologischen Entwicklungen Bescheid zu wissen?

Michael Nentwich: Über die Folgen des Einsatzes von Technik nachzudenken war und ist wesentlich. Technologien und Gesellschaft beeinflussen sich wechselseitig. In den vergangenen Jahrzehnten konnten wir beobachten, wie unser Alltag, unsere Wirtschaft, ja alle Bereiche unseres Lebens immer mehr von Technik durchdrungen werden. Daher müssen wir in Zukunft noch mehr als bisher auf systemische Effekte schauen und auch die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Technologien untersuchen.

Ein Beispiel, bitte?

Nentwich: Zu Beginn der Entwicklung der Telekommunikation, also in der Ära des Festnetztelefons mit hohen Verbindungsentgelten, war Telefonieren ein Luxus. Heute ist das Mobiltelefon unser täglicher Begleiter, elektronische Kommunikation ist billig geworden. Allein am Smartphone hat jede:r von uns zahlreiche Kanäle gleichzeitig zur Verfügung, nicht nur Telefonie, auch E-Mail, Chats, SMS, Soziale Medien usw.

Das hat nicht nur unser persönliches Kommunikationsverhalten stark verändert, sondern hat auch Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes: Die neuen Arten zu kommunizieren nehmen viel Zeit in Anspruch, die damit nicht mehr für anderes zur Verfügung steht. Was das langfristig bedeutet, wäre ein typisches Thema für die Technikfolgenabschätzung, ebenso wie die Folgen für unsere Privatsphäre oder der zunehmende Einfluss der Algorithmen auf unser Leben.

Für Abgeordnete ist Zeit Mangelware."

Wie kann die Forschung hier die Politik bei der Gestaltung des sozio-technischen Wandels unterstützen?

Nentwich: Forschung kann einerseits spezifische Wissenslücken schließen. Andererseits gibt es in der Wissenschaft zu vielen Themen schon sehr viel Wissen. Technikfolgenabschätzung bereitet das vorhandene Wissen für die Politik auf. Das bedeutet, dass wir den Stand des Wissens erheben, Wissenslücken aufzeigen und auf dieser Basis Schlussfolgerungen ziehen, diese Ergebnisse in einer zugänglichen Sprache, also nicht in Fachchinesisch, darstellen und darauf aufbauend Handlungsoptionen für die Politik erarbeiten.

Welche waren die größten Herausforderungen in Ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit dem österreichischen Parlament?

Nentwich: Für Abgeordnete ist Zeit Mangelware. Wir als wissenschaftliche Berater:innen müssen daher um Aufmerksamkeit und Gesprächszeit ringen. Und wenn wir in einer Besprechung mit Abgeordneten und ihren Mitarbeiter:innen sind, gilt es, rasch auf den Punkt zu kommen und die richtige „Sprache“ zu sprechen. Das ist eine ständige Herausforderung, selbst dann, wenn man damit wie wir viel Erfahrung hat.

Dazu kommt noch, dass die thematischen Zuständigkeiten im Parlament nicht langfristig konstant sind und der Neubeginn einer Legislaturperiode immer auch bedeutet, dass wir es mit neuen Personen und deren Backgrounds zu tun haben.

Internationales Netzwerk

Wie sieht die Zusammenarbeit mit Parlamenten im internationalen Vergleich aus?

Nentwich: Seit den 1990er-Jahren besteht das Netzwerk European Parliamentary Technology Assessment, kurz EPTA. Mittlerweile zählt es 26 Mitglieder, darunter auch einige außereuropäische wie etwa Argentinien. EPTA ist sehr aktiv, man trifft sich mindestens zweimal im Jahr zum Austausch und erarbeitet gemeinsam Berichte.

Die Zusammenarbeit dieser Einrichtungen mit ihrem jeweiligen Parlament ist höchst unterschiedlich. Teils sind sie direkt im Parlament angesiedelt, in der Parlamentsverwaltung, meist im wissenschaftlichen Dienst oder in der Bibliothek. Teils handelt es sich um externe Einheiten, die ausschließlich für das Parlament arbeiten, wie zum Beispiel in Deutschland; andere sind so wie unser Institut für Technikfolgen-Abschätzung neben dem Parlament auch für andere Institutionen tätig oder betreiben daneben auch Grundlagenforschung.

Es braucht Qualitätszeit und damit die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen."

Was braucht es, damit diese Zusammenarbeit gelingen kann?

Nentwich: Zusammenarbeit an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft ist sehr voraussetzungsvoll. Es braucht Qualitätszeit und damit die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen. Es braucht eine verständliche Sprache, Fachsprache ist kontraproduktiv. Es braucht von Seiten der Wissenschaft, konkret der Technikfolgenabschätzung, ein Gespür dafür, was für Politiker:innen relevant sein wird. Und es benötigt gegenseitiges Vertrauen. Die Wissenschafter:innen müssen darauf vertrauen, dass sie nicht politisch missbraucht oder missinterpretiert werden, und die Politiker:innen darauf, dass die Wissenschafter:innen nach bestem Wissen und Gewissen, also ohne Eigeninteressen, ohne politische Schlagseite und nur auf Basis wissenschaftlich fundierter Ergebnisse beraten. Die Technikfolgenabschätzung ist vor vierzig Jahren genau mit diesem Anspruch angetreten: interdisziplinär, multiperspektivisch und unabhängig.