09.05.2022 | Online-Katastrophenschutz

Wie man digitale Kunstwerke vor dem Krieg rettet

154 Kulturstätten wurden in der Ukraine bereits teilweise oder ganz zerstört. Um möglichst viele Kulturgüter vor der Zerstörung zu bewahren, geht es aber nicht nur darum, konkrete Gegenstände in Sicherheit zu bringen. Auch digitale Archive gilt es zu bewahren. Wie das geht, erklärt ÖAW-Digitalisierungsexperte Sebastian Majstorovic.

Die Organisation Saving Ukrainian Cultural Heritage Online betreibt kulturellen Katastrophenschutz im Internet, indem sie möglichst viele durch den Krieg bedrohte digitale Sammlungen sichert. © Vlad Kholodnyi

In jedem Krieg werden Kulturgüter zerstört. Sei es, weil eine Kriegspartei das kulturelle Erbe eines Landes vernichten will, oder um Raubgut in eigene Museen zu überführen. Was dabei aber oft vergessen wird: Nicht nur physische Museumsobjekte sind in Gefahr. Wenn Server zerstört werden, geht auch immaterielles Kulturerbe unwiederbringlich verloren.

Sebastian Majstorovic vom Austrian Centre for Digital Humanities und Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) betreibt deshalb mit einer Gruppe aus Heritage-Expert/innen, Archivar/innen, Forscher/innen, IT-Spezialist/innen und vielen Freiwilligen in der Organisation Saving Ukrainian Cultural Heritage Online kulturellen Katastrophenschutz im Internet. „Viele Kulturarbeitende sind in der Ukraine immer noch mit dem Digitalisieren beschäftigt – trotz Bombenhagel. Dazu brauchen sie Geräte wie Kameras oder Scanner, um möglichst viel hochladen zu können, bevor es zu einem Angriff kommen könnte“, so Majstorovic im Gespräch.

Kultureinrichtungen als Angriffsziele

Durch die Bombardierung der Ukraine wurden viele Kulturstätten zerstört. Hat man dazu konkrete Zahlen?

Sebastian Majstorovic: Wir haben eine Arbeitsgruppe, die nur beobachtet, was gerade angegriffen und zerstört wurde. Weil wir nicht alle Informationen haben, verwenden wir aber die offiziellen Zahlen des ukrainischen Kulturministeriums. Laut deren Angaben sind 154 Kulturstätten teilweise oder ganz zerstört.

Gibt es nicht auch eine „No-strike-Liste“ von Kulturstätten, die explizit nicht angegriffen werden dürfen?

Majstorovic: Diese Liste wurde von einer Organisation erstellt, die eng mit der UNESCO zusammenarbeitet. Blue Shield International setzt sich für den Schutz von Kulturgut vor den Auswirkungen von Kriegen und Katastrophen ein, sie hat ihren Sitz in Den Haag. Gleichzeitig kann diese Liste aber auch dazu dienen, Angriffsziele zu identifizieren. Aus der Ukraine bekommen wir klar gesagt, dass Kulturstätten als Angriffsziele gewählt werden. Es geht darum, die Moral der Zivilbevölkerung zu schwächen und Terror zu verbreiten.

„Viele Kulturarbeitende sind in der Ukraine immer noch mit dem Digitalisieren beschäftigt – trotz Bombenhagel.“

Worin besteht Ihre Arbeit?

Majstorovic: Wir kümmern uns um die Evakuierung der digitalen Bestände. Viele Kulturarbeitende sind in der Ukraine immer noch dem Digitalisieren beschäftigt – trotz Bombenhagel. Dazu brauchen sie Geräte wie Kameras oder Scanner, damit sie im letzten Moment noch möglichst viel hochladen können, bevor es zu einem Angriff kommen könnte.

Freiwillige sichern Websites teils manuell

Die digitale Lage ist in jeder Institution anders. Ist es nicht schwierig, da eine einheitliche Vorgehensweise zu finden?  

Majstorovic: Wir haben uns bewusst auf die Web-Archivierung konzentriert. Weil Websites alles enthalten, was öffentlich zugänglich gemacht werden soll. Der erste Schritt ist, die Seite vollautomatisch zu erfassen mit der Software Web-Recorder. Wenn das nicht funktioniert, versuchen wir die Konfiguration der Software zu verändern. Geht das auch nicht, schreiben Programmierer/innen nur für diese Website ein neues Programm. Das hatten wir bei der Sammlung der seltenen Drucke der Universität Odessa. Wenn das auch fehlschlägt, haben wir zahlreiche Freiwillige, die Homepages manuell durchklicken. Es gibt ein Webrecorder-Addon für Chrome, das auch jeder Laie installieren kann, damit wird jede Seite aufgezeichnet, wenn man sie öffnet.

Was wurde damit bisher gerettet?

Majstorovic: Es gibt ein Online-Museum der Arbeitersoldaten von Tschernobyl. Männer, die zum Reaktor geschickt wurden, um dort aufzuräumen. Auf dieser Webseite musste man jedes Profil extra anklicken. Da haben sich fünf Leute über eine Woche lang nur damit beschäftigt. Das ist das Besondere an unserem Projekt: Wir haben uns darauf eingelassen, nicht aufzugeben. Im Notfall setzen wir auch auf handwerkliches Archivieren.

Back-up Pläne für digitale Sammlungen

Wurde dieses Prinzip auch schon in Syrien und im Irak angewandt?

Majstorovic: Das waren bisher eher nachträgliche Rekonstruierungsversuche. Wir haben zahlreiche Reaktionen von Kulturinstitutionen bekommen, tauschen uns mit der UNESCO und ICON, dem internationalen Museumsverband aus. Viele Institutionen haben erst jetzt mit Schrecken bemerkt, dass sie keine Backup-Pläne für ihre digitalen Sammlungen haben. Es war nicht auf ihrem Schirm, dass Server genauso empfindlich sind wie reale Kunstobjekte. In großen Konzernen ist es längst üblich, dass Daten außerhalb des Gebäudes gesichert werden, dass man mehrere Anbieter hat, die archivieren. Natürlich fallen da zusätzliche Kosten an, die in der Kultur schwer gedeckt werden können. Aber wir brauchen eine systematische Sammlung des weltweiten digitalen Kulturerbes.

Stellen Sie auch Speicherplatz zur Verfügung?

Majstorovic: Ja, wenn ukrainische Institutionen auf uns zukommen. Es ist allerdings gerade sehr schwierig, mit Forschenden den Kontakt zu halten. Weil sie entweder selbst auf der Flucht sind, an der Front oder mit großem Druck daran arbeiten, Bestände zu retten.