22.03.2023 | Biografien-Lexikon

Vom Räuberhauptmann bis zum Nobelpreisträger

Nach 70 Jahren ist die Print-Version des „Österreichischen Biographischen Lexikons 1815-1950“ abgeschlossen. In 16 Bänden werden Informationen zu rund 20.000 Persönlichkeiten der gesamten österreichisch-ungarischen Monarchie sowie der Ersten und Zweiten Republik präsentiert. Nach welchen Kriterien diese ausgewählt wurden, erzählt Christine Gruber, die Chefredakteurin des Projekts an der ÖAW.

20.000 Persönlichkeiten aus der Geschichte Österreich sind inzwischen auch online durchsuchbar. © Adobe Stock

Es ist ein historisches Unterfangen: 70 Jahre wurde an dem Mammutprojekt „Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950“ (ÖBL) gearbeitet, das nun abgeschlossen vorliegt. Als europaweit einziges Nachschlagewerk erfasst es Lebens- und Karriereverläufe bedeutender Persönlichkeiten des gesamten Gebiets der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie sowie der Ersten und Zweiten Republik. Bei der Auswahl der Biografien war es ein wesentliches Anliegen, auch jene Personen zu berücksichtigen, die nicht (mehr) im Vordergrund des allgemeinen Bewusstseins stehen.

Die Druckausgabe des Lexikons umfasst 16 Bände mit insgesamt knapp 20.000 Kurzbiografien. Daneben wurde 2004 mit dem Aufbau einer Online-Edition begonnen, die seit Juli 2009 open access zur Verfügung steht. Sie bietet neben der Volltextsuche auch erweiterte Suchmöglichkeiten sowie ergänzendes Bildmaterial und Links zu ausgewählten Webangeboten. Die Online-Ausgabe des ÖBL wird auch nach Abschluss der Printedition weitergeführt.

Christine Gruber arbeitet seit 1983 an dem Projekt mit, seit 2015 – gemeinsam mit Ernst Bruckmüller –  als Chefredakteurin. Im Gespräch erklärt sie, nach welchen Gesichtspunkten ausgewählt wurde, welche Herausforderungen es bei der Recherche gab und warum auch ein Räuberhauptmann vorkommt.

GROSSE UND KLEINE NAMEN DER HABSBURGERMONARCHIE

Das Biographische Lexikon umfasst 20.000 Persönlichkeiten. Welche Kriterien gab es für eine Aufnahme?

Christine Gruber: Unser Lexikon setzt nicht nur auf Eliten, auch Personen aus der sogenannten zweiten und dritten Reihe sind enthalten. Neben der erwartbaren „Prominenz“ wie Johann Strauss, Egon Schiele oder Bertha von Suttner finden sich daher viele Persönlichkeiten, die zwar nicht mehr mit ihrem Namen, wohl aber mit ihren Erfindungen, Kunstwerken, Bauten oder Pionierleistungen präsent sind, die wissenschaftlich oder künstlerisch schulbildend gewirkt, politischen und wirtschaftlichen Einfluss ausgeübt und auf diese Weise das Land und die Geschichte mitgestaltet haben.

Unser Lexikon setzt nicht nur auf Eliten, auch Personen aus der sogenannten zweiten und dritten Reihe sind enthalten.

Haben Sie konkrete Beispiele?

Gruber: Es sind Persönlichkeiten aus sämtlichen Berufssparten vertreten, aus der Politik ebenso wie aus Medizin, Theologie, Finanzwesen. Unser Spektrum reicht vom Räuberhauptmann über die Primaballerina, den Bankier und den Strohhutfabrikanten bis zum Nobelpreisträger. Der legendäre Johann Georg Grasel, der 1818 gehenkt und nachträglich zum edlen Räuber verklärt wurde, ist heute noch ein Begriff, und im Tschechischen lebt sein Name als Schimpfwort fort. Der Architekt Franz Xaver Segenschmid hingegen ist durch das von ihm erbaute Palmenhaus in Schönbrunn präsent. Michael Winkler wiederum belieferte über die Monarchie hinaus Städte mit Straßentafeln und führte in Wien die gassenweise Hausnummerierung ein. Die Mitglieder der Familie Zauner, deren Konditorei in Bad Ischl schon vom Kaiser besucht wurde, haben ebenso einen Eintrag wie der in Mähren tätige Jakob Christoph Rad, der Erfinder des Würfelzuckers und der Skipionier Mathias Zdarsky. Auch der ungarische Geheimagent Gustav Zerffi wurde biografiert.

INTERNATIONALES NETZWERK, UMFASSENDE RECHERCHE

Sie haben also ein internationales Netzwerk?

Gruber: Ohne das ginge es gar nicht. Für die Recherchen in den Bibliotheken und Archiven sowohl des heutigen Österreichs als auch der Nachfolgestaaten der Monarchie sind wir auf die Expertise der Kolleg:innen vor Ort angewiesen. Für diese erfolgreiche Zusammenarbeit sind wir sehr dankbar. Auch zahlreiche unserer Autor:innen sind an wissenschaftlichen Einrichtungen in den Nachfolgestaaten tätig. Unser Lexikon zeichnet aus, dass Sie bei uns zu einer tschechischen Literatin genauso Informationen finden wie zu einem galizischen Arzt oder einem ungarischen Architekten.

Unser Lexikon zeichnet aus, dass Sie bei uns zu einer tschechischen Literatin genauso Informationen finden wie zu einem galizischen Arzt oder einem ungarischen Architekten.

Wie findet man über eine längst verstorbene Person Informationen?

Gruber: Die Recherche ist manchmal aufwendig. Aber auch da setzen wir auf externe Fachleute, die bereits zur jeweiligen Biografie geforscht haben. Mittlerweile ist die Arbeit auch durch Online-Angebote einfacher geworden; früher musste man historische Zeitungen in Bibliotheken durchblättern, um Nachrufe zu finden. Dank Digitalisaten ist die Recherche, besonders auch in fremdsprachigen Quellen, erheblich einfacher geworden. Dies gilt auch für genealogische Datenbanken.

Biografisch Interessierte haben über das Handy bequem Zugriff auf das Lexikon

Welchen Nutzen hat das Lexikon für Nicht-Wissenschaftler:innen?

Gruber: Biografisch Interessierte haben über das Handy bequem Zugriff auf das Lexikon – sei es, dass sie unterwegs auf Straßenbenennungen, Ehrengräber oder Denkmäler stoßen und sich über die so geehrte Person informieren wollen oder beispielsweise mehr über einen der einstigen k. u. k. Hoflieferanten wissen möchten, in dessen Lokal sie gerade bei Kaffee und Torte sitzen. Oft sind es ganze Familien, die porträtiert werden, wie die Unternehmerfamilie Thonet, deren Erzeugnisse noch heute jeder kennt. So dokumentieren wir nicht nur Lebensläufe, sondern auch die damaligen Netzwerke. Genau die Summe daraus macht den Reiz eines biografischen Lexikons aus.

 

AUF EINEN BLICK

Christine Gruber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Austrian Centre for Digital Humanties and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Sie ist seit 2015 Chefredakteurin des Österreichischen Biographischen Lexikons und leitete das Projekt “Mapping historical networks: Building the new Austrian Prosopographical | Biographical Information System (APIS)”.

Den Abschluss des Lexikons begeht die ÖAW mit einer feierlichen Veranstaltung am 23. März 2023 im Festsaal der Akademie (Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien). Der Eintritt ist frei, um eine Anmeldung wird gebeten.

Infos und Anmeldung