07.06.2022

Pandemie hat Unterschiede in der Lebenserwartung in Europa vergrößert

17 Jahre trennen Männer in Russland von Männern in der Schweiz, wenn es um die Lebenserwartung geht. Spanierinnen leben im Schnitt 11 Jahre länger als Russinnen. Die Coronakrise hat die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Ländern Europas weiter vergrößert. Zu diesem Befund kommen Demograph/innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in einem aktuellen Bericht zur Bevölkerungsentwicklung.

Eine ältere Frau und ein junger Knabe sitzen auf einer Parkbank.
Die Coronapandemie hat die Lebenserwartung in den Ländern Osteuropas und Südosteuropas deutlich verkürzt. © Shutterstock.com

Alle zwei Jahre geben Tomáš Sobotka und Kryštof Zeman vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gemeinsam mit Kolleg/innen des Wittgenstein Centre von ÖAW, IIASA und Universität Wien das European Demographic Datasheet heraus. Es versammelt aktuelle Daten zur Bevölkerungsentwicklung in Europa und beleuchtet Schlüsselfaktoren wie Geburtenraten, Sterbezahlen oder Migrationsbewegungen. Der jetzt veröffentlichte Bericht erlaubt einen detaillierten Blick auf die demografischen Auswirkungen der Pandemie in 45 europäischen Ländern.

Lebenserwartung in Ost- und Südosteuropa sinkt

Das zentrale Ergebnis: Während der Coronakrise hat sich die Lebenserwartung vor allem in ost- und südosteuropäischen Ländern spürbar verkürzt. In Bulgarien sank sie zwischen 2019 und 2021 bei Männern um 3,4 Jahre und bei Frauen um 3,6 Jahre. Bei den russischen Frauen verkürzte sich die Lebenserwartung noch weiter, nämlich um 3,7 Jahre. Diese Unterschiede in der Lebenserwartung waren bereits vor der Pandemie existent, erklärt ÖAW-Demograph Tomáš Sobotka. Die Pandemie hat sie aber merklich ausgeweitet.
 
„Unzureichende Gesundheitssysteme, ein schlechterer allgemeiner Gesundheitszustand, aber auch ein fehlgeleitetes Pandemiemanagement und zunehmender Vertrauensverlust in der Bevölkerung gegenüber der Politik haben sich während der Pandemie in Ländern mit einer vergleichsweise niedrigen Lebenserwartung wesentlich nachteiliger ausgewirkt als in Ländern mit einer höheren Lebenserwartung“, so der Bevölkerungswissenschaftler. Erhebliche Verluste in der Lebenserwartung wurden auch in Tschechien und Ungarn verzeichnet, wo sie bei Männern seit 2019 um mehr als zwei Jahre gesunken ist, während der Rückgang nach aktuellen Schätzungen in Österreich mit 0,7 Jahren und Deutschland mit 0,5 Jahren eher gering und die Lebenserwartung in Ländern wie Finnland und Norwegen weitgehend unberührt blieb.

Pandemie-Babys? Nicht überall

Und wie hat die Pandemie die Geburtenzahlen in Europa beeinflusst? Schon im Frühjahr 2020 tauchten dazu Meldungen auf, wonach Corona einen Babyboom in Aussicht stellen würde. Tatsächlich verlief die Geburtenentwicklung während der Pandemie aber sehr unterschiedlich: „Die erste Welle der Pandemie – und die damit verbundenen Lockdowns und die große Unsicherheit über die Zukunft – führte im Dezember 2020 und Januar 2021 in fast allen Ländern zu einem Rückgang der Geburtenzahl“, erklärt Sobotka.
 
Nur in Finnland, Norwegen und den Niederlanden stiegen die Geburten um 6 bis 7 Prozent. Einbrüche hingegen gab es in Ländern Ost-, Süd- und Südosteuropas. Am heftigsten ging die Zahl der Geburten in Rumänien zurück, um 11 Prozent, gefolgt von Polen und der Ukraine, um jeweils 7 Prozent. Stabil blieb die Zahl der Geburten hingegen in den meisten mitteleuropäischen Ländern sowie in Frankreich. In Skandinavien, Westeuropa und den deutschsprachigen Ländern stieg sie sogar leicht an. In Österreich um zwei Prozent.

Beschleunigter Bevölkerungsrückgang in Osteuropa

Covid-19 hat in den vergangenen zwei Jahren auch zu höheren Todesraten geführt. Die Sterblichkeit war in Europa jedoch von Land zu Land und im Zeitverlauf sehr unterschiedlich. „Rechnet man Geburten und Sterbefälle zusammen, sieht man, dass es in den meisten Ländern mehr Sterbefälle und manchmal sogar weniger Geburten gibt“, sagt ÖAW-Demograph Kryštof Zeman. Die Ausnahme sind die nordischen Länder. Die natürliche Bevölkerungsentwicklung Österreichs, also der Saldo aus Geburten und Sterbefällen, ging während der Covid-Pandemie zurück und erreichte im Jahr 2021 einen Wert nahe Null. Dennoch wuchs die österreichische Bevölkerung aufgrund der Zuwanderung weiter.
 
Generell driftet die Bevölkerungsentwicklung zwischen Ost- und Westeuropa seit den 1990er-Jahren immer weiter auseinander, so die Verfasser/innen des European Data Sheets. Dazu Tomáš Sobotka: „Unsere Daten zeigen, dass für den Bevölkerungsschwund in Osteuropa die Abwanderung der Menschen in wohlhabendere Länder des Kontinents ausschlaggebend ist.“ Der Bevölkerungsschwund wurde durch sinkende Geburtenzahlen und gestiegene Todesfälle während der Pandemie weiter verschärft.

 

Auf einen Blick

Alle Daten und Statistiken sind auf der Website des European Demographic Datasheet zu finden:

European Demographic Datasheet


Rückfragehinweis:

Sven Hartwig
Leiter Öffentlichkeit & Kommunikation
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Wissenschaftlicher Kontakt

Tomáš Sobotka
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Österreichische Akademie der Wissenschaften
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M +43 650 5101357
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