22.04.2022 | Werkstoff mit Potenzial

Metallische Gläser revolutionieren Medizin, Energie und Elektronik

Metallische Gläser sind nicht nur deutlich härter und widerstandsfähiger als herkömmliche Metalle, sie weisen auch neue magnetische, optische und elektronische Eigenschaften auf. Welche Anwendungen für diese vielversprechende Materialklasse denkbar sind, zeigen ÖAW-Materialwissenschaftler in einer neuen Überblicksstudie.

© ÖAW/Klaus Pichler

Die regelmäßige Kristallstruktur ist eine definierende Eigenschaft für Metalle. Seit den 1960er-Jahren ist bekannt, dass bestimmte Legierungen sich in einen ungeordneten Zustand überführen lassen. Das funktioniert durch schnelles Abkühlen auf Raumtemperatur aus ihrer flüssigen Phase, deren atomare Struktur an Glas erinnert. Die Möglichkeiten zur Bearbeitung waren jedoch lange Zeit begrenzt. In ihrer Überblicksarbeit “Thermoplasticity of metallic glasses: Processing and applications”, die in der Fachzeitschrift Progress in Materials Science veröffentlicht wurde, zeigen die Materialwissenschaftler Baran Sarac und Jürgen Eckert vom Erich-Schmid-Instituts für Materialforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), welche Fortschritte mittlerweile gemacht wurden und wie bessere Verarbeitungsmethoden die Tür zu neuen Anwendungen aufstoßen.

Erster umfassender Forschungsüberblick seit den 1960ern

“Ich forsche schon seit meinen Master- und Doktorarbeiten an der Yale Universität an metallischen Gläsern und habe für unsere Überblicksarbeit zusammen mit meinem Chef Jürgen Eckert eigene Ergebnisse und andere Arbeiten aus diesem Bereich zusammengefasst, um erstmals seit den 1960er-Jahren einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung und eine breite Palette an aktuellen und potenziellen Anwendungsbereichen zu geben“, erklärt Baran Sarac vom Erich-Schmid-Institut für Materialforschung. Zu Beginn wurden Legierungen durch sehr rasche Abkühlung von Schmelzen zu Gläsern umstrukturiert. Heute nutzen Materialforscher/innen verschiedene Glasformer aus mehreren Elementen, darunter auch Übergangs- und Edelmetalle sowie mögliche Halbmetallzusätze, um sie in Masse bei relativ niedrigen Abkühlraten zu produzieren. „So können wir die Eigenschaften durch die gezielte Anwendung von Druck und Temperatur viel besser manipulieren”, führt Sarac weiter aus.  

Wie Gläser formbar werden

Bei klassischen Bearbeitungsmethoden treten meist hohe Temperaturen auf, durch die metallische Gläser auskristallisieren und ihre besonderen Eigenschaften verlieren. Seit 2005 entwickelte thermoplastische Methoden erlauben es hingegen, die Materialien in verschiedene Formen zu bringen und mit fast beliebigen Strukturen zu versehen. “Wir beginnen mit Scheiben, Platten oder Pellets, die durch ultraschnelles Abkühlen von Metalllegierungen entstehen“, sagt Sarac. Diese bearbeiten die Forscher/innen dann mit Hitze und Druck, während sie honigartige Viskosität aufweisen. „Relativ günstige Prozesszustände bei etwa einem Drittel der Schmelztemperatur ermöglichen ein ausreichendes Zeitfenster, um sie zu verformen und Mikro- oder sogar Nanostrukturen auf diesen Materialien zu erzeugen. Die Glas-Struktur bleibt nach dem Abkühlen erhalten.”

Der Größe der herstellbaren Stücke sind nach wie vor Grenzen gesetzt, Ausdehnungen von mehr als einigen Zentimetern sind noch Zukunftsmusik. Aber durch die thermoplastischen Prozesse werden die Materialien jetzt verarbeitbar. Die extrem widerstandsfähigen metallischen Gläser können überall genutzt werden, wo Stahl oder Titan nicht stark genug sind, etwa um Gelenkimplantate herzustellen, die länger halten und nicht mit Abrieb zu kämpfen haben. Das ist aber lediglich die Spitze des Eisberges.

Von künstlichen Organen bis Tarnkappen

“Verschiedene Geometrien und Strukturen verpassen metallischen Gläsern unterschiedlichste interessante Eigenschaften. Sie haben das Potenzial, in Medizin, Energietechnik und Elektronik Durchbrüche zu ermöglichen”, erklärt Baran Sarac das Potenzial des Werkstoffs. Metallische Gläser mit netzförmigen, haarähnlichen Nanodrähten sind zum Beispiel biokompatibel und eignen sich hervorragend als Gerüst für biologische Zellen, etwa wenn in Zukunft Organe im Labor gezüchtet werden sollen. Die optischen Eigenschaften solcher Nanodrähte können durch die Struktur sehr fein abgestimmt werden, wodurch “Tarnkappen” denkbar werden, die Objekte unter Licht mit bestimmten Wellenlängen unsichtbar machen können. In der Elektronik können thermoplastisch geformte metallische Gläser als Informationsspeicher mit sehr hoher Dichte genutzt werden.

Riesiges Potenzial

Poröse Strukturen aus metallischen Gläsern speichern enorme Mengen an kinetischer Energie, wodurch sie helfen könnten, Satelliten vor Mikrometeoriten zu schützen. Die magnetischen Eigenschaften sind ebenfalls einzigartig und erlauben die Herstellung von Transformatoren mit bisher unerreichter Effizienz. Diese Materialien eignen sich zudem sehr gut für die Wasserstoffspeicherung und -herstellung, Mikrobrennstoffzellen und die Blutzuckersensorik. Die bisher untersuchten Gläser basieren hauptsächlich auf Eisen, Zirkonium, Titan, Magnesium oder Edelmetallen, die dann mit anderen Metallen oder Halbmetallen legiert werden. Die Zahl der potenziellen Ausgangslegierungen ist riesig und niemand weiß, welche neuen Glaseigenschaften hier noch auf ihre Entdeckung warten.

“Man darf nicht vergessen, dass wir erst am Anfang der Erforschung stehen und trotzdem ist die Zahl der möglichen Anwendungen schon enorm. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz und anderer neuer Methoden beschleunigen das Finden neuer Legierungen und Strukturen. In Zukunft werden metallische Gläser andere Materialien in vielen Bereichen verdrängen, weil sie fast alles besser können. Die kommenden zehn Jahre werden sehr spannend, weil wir lernen werden, die interessanten Eigenschaften zu kombinieren und die Gläser besser zu beherrschen”, ist Sarac überzeugt.

 

Auf einen Blick

Baran Sarac ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erich-Schmid-Institut für Materialforschung der ÖAW. Seine Forschungsgebiete sind Synthese, thermische Verformungstechniken, Charakterisierung sowie biomedizinische und energetische Anwendungen von metallischen Gläsern und anderen fortschrittlichen metallischen Legierungen.

Publikation:

Baran Sarac, Jürgen Eckert: Thermoplasticity of metallic glasses: Processing and applications, Progress in Materials Science, Volume 127, 2022
DOI: https://doi.org/10.1016/j.pmatsci.2022.100941