28.09.2022 | Autokratischer Staat

Krieg in der Ukraine: Russland zwischen Propaganda und Widerstand

Wie steht die russische Bevölkerung zum Krieg in der Ukraine? Historiker und ÖAW-Mitglied Wolfgang Mueller über Kriegsverherrlichung, politische Traditionen und Anzeichen eines aufkeimenden Ungehorsams.

Ein russischer Polizist steht vor einer Absperrung
Ein russischer Polizist bei den Feierlichkeiten zum Siegestag über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg - die jährlich zelebrierten Militärparaden standen 2022 ganz im Zeichen des Angriffskriegs gegen die Ukraine. © Adobe Stock/Kekyalyaynen

Der seit Februar 2022 tobende russische Krieg gegen die Ukraine hat bereits Zehntausende Tote und Verletzte gefordert und Millionen von Menschen in die Flucht getrieben. Lange konnte Russlands Präsident Wladimir Putin in diesem Angriffskrieg auf die Unterstützung der russischen Bevölkerung zählen. Doch nicht zuletzt der unerwartet erfolgreiche Widerstand der Ukraine sowie die kürzlich gestartete (Teil-)Mobilmachung in Russland stellen die Kriegsbereitschaft der russischen Gesellschaft auf die Probe.

Im Interview schildert Wolfgang Mueller, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und stellvertretender Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, warum die russische Bevölkerung den Angriffskrieg gegen die Ukraine lange bereitwillig mitgetragen hat, wieso der Widerstand nun wächst - und warum das Vorgehen Russlands über Jahrzehnte für verbrannte Erde sorgen könnte.

Kriegshetze in russischen Medien

Tatsächlich wurden die russischen Truppen vielerorts angefeuert."

Wie populär oder unpopulär ist der Krieg gegen Ukraine in der russischen Bevölkerung?

Meinungsumfragen zufolge wird der Krieg von drei Vierteln der russischen Bevölkerung unterstützt -  eine hohe Akzeptanz, die seit dem Sommer auch nur wenig zurückgegangen ist. Auch Präsident Putin hält bei einer hohen Zustimmungsrate von knapp 85 Prozent. Wir müssen derartige Daten immer kritisch betrachten, zumal das politische Klima in Russland deutlich repressiver geworden ist. Daher ist anzunehmen, dass viele Befragte nicht offen ihre Meinung sagen, sondern sich an die staatlich vorgegebenen Linien anpassen. Gleichzeitig aber stimmen die Ergebnisse mit einer langen Tradition der Bereitschaft der russischen Bevölkerung überein, nach außen gerichtete Aggressionen ihres Staates gutzuheißen – insbesondere dann, wenn sie die Bevölkerung Russlands nur am Rande betreffen. Tatsächlich wurden die gegen die Ukraine abmarschierenden russischen Truppen vielerorts in Russland an den Straßen angefeuert.

Martialische TV-Debatten, Frontberichte auf sozialen Netzwerken – wird in Russlands Medien bewusst und systematisch Kriegsverherrlichung betrieben?

Die sehr negative Darstellung des jeweils anderen - etwa des Westens oder heute der Ukraine - und die unkritische Verherrlichung des eigenen Militärs und seiner Taten haben in Russland ebenfalls Tradition. Auch jetzt beobachten wir sowohl in Staatsmedien als auch in sozialen Netzwerken eine beträchtliche Kriegshetze und Kriegsverherrlichung. In sozialen Netzwerken Russlands wurden sogar die Kriegsverbrechen in Butscha zum Teil sehr positiv und unterstützend kommentiert. Die kritischen Medien wurden hingegen zum Schweigen gebracht.

Keine Proteste nach Kriegsverbrechen

Die Staatsgewalt reagiert mit großer Härte."

Sind Sie vom geringen Widerstand der russischen Bevölkerung seit Ausbruch des Angriffskrieges überrascht?

Traditionell waren und sind regimekritische Diskurse und politischer Widerstand in Russland wenig ausgeprägt. Der Staat wird als übermächtig wahrgenommen, während das einzelne Individuum als schwach gesehen wird – und in seiner Rechtsstellung auch kaum unterstützt wurde.

Eine größere Zahl von Demonstrationen gegen den aktuellen Krieg fand vor diesem Hintergrund lediglich zu Beginn und jetzt gegen die Mobilmachung statt, nicht aber beispielsweise nach Bekanntwerden von Kriegsverbrechen. Unter den jüngsten Formen des Widerstands waren auch Attentate gegen Einrichtungen und Vertreter der Staatsgewalt sowie sogar Selbstverbrennungen aus Protest und Verzweiflung zu beobachten. Geografisch liegt der Fokus aktuell auf urbanen Zentren und mehrheitlich nichtrussischen Regionen, wie etwa Dagestan, die von der Mobilisierung besonders betroffen sind. Die Staatsgewalt reagiert darauf allerdings mit großer Härte.

Was muss passieren, damit es zu einem politischen Umdenken in Russland in Bezug auf den Krieg kommt?

Für ein mögliches Umdenken bleibt abzuwarten, inwieweit die militärische Mobilisierung zu einem Massenphänomen wird, das praktisch jede Familie erreicht. Sollte das wirklich eintreten und sollten die Opferzahlen unter russischen Soldaten weiter zunehmen, dann ist zu erwarten, dass es in der Bevölkerung auch zu stärkeren Widerständen gegen den Krieg kommt.

Brutaler Krieg gegen die Ukraine

Das Geschichtsbild von Wladimir Putin stammt Ihnen zufolge aus dem 19. Jahrhundert, angereichert um Elemente aus der sowjetischen Ära. Ist Putins Plan für Russland tatsächlich eine Rückkehr in die Vergangenheit?

Internationalen Kommentatoren zufolge scheint genau das Putins Leitbild zu sein: Sein Bild der Vergangenheit ist seine Vision für die Zukunft Russlands. Natürlich handelt es sich um keine exakte Wiederherstellung des Zarenreiches oder der Sowjetunion. Aber es geht um Gleichschaltung im Inneren und imperialistische Großmachtfantasien nach außen, ein Durchsetzen des Stärkeren statt Gleichberechtigung, Gewalt statt friedlicher Konfliktlösung. Das ist nichts, was man nach dem Ende des 20. Jahrhundert erwartet hätte.

Das sind Verbrechen, wie man sie in Europa seit Ende des Nationalsozialismus nicht mehr erleben musste."

Kann in Europa in absehbarer Zukunft wieder eine Partnerschaft mit Russland entstehen?

Ich würde hier differenzieren. Der westeuropäische Raum steht Russland vergleichsweise tolerant gegenüber, nicht zuletzt seit der Allianz (mit der Sowjetunion, Anm.) gegen Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg und schließlich der Entspannungspolitik der Sechzigerjahre. Die Erfahrung Osteuropas ist eine andere. Hier ist Russland weniger als Befreier von der NS-Herrschaft oder Handelspartner in der Entspannungszeit, sondern eher als Aggressor und Besatzer in Erinnerung. Es geht dabei um Jahrhunderte zarischer Expansion, die Beteiligung der stalinistischen Sowjetunion an der Zerschlagung Polens im Bündnis mit Hitler-Deutschland und um die Unterdrückung durch die kommunistischen Diktaturen in Osteuropa, die unter der Ägide der Sowjetunion errichtet wurden.

Ferner müssen wir berücksichtigen, dass der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit enormer Brutalität geführt wird und bisher über 20.000 Gräueltaten angezeigt und zahlreiche Kriegsverbrechen an Kriegsgefangenen, Zivilpersonen und selbst Kindern dokumentiert wurden. Das sind Verbrechen, wie man sie in Europa in dieser Dimension seit dem Ende des Nationalsozialismus nicht mehr erleben musste – und die natürlich verbrannte Erde für alle künftigen Beziehungen mit Russland hinterlassen. Ob und wann sich das Verhältnis zu Russland eines Tages wieder normalisieren kann, hängt in erster Linie davon ab, wie sich Russland weiter verhält.

Welche Hoffnungen haben Sie für die aktuelle Situation?

Dass sich Vernunft, Verantwortungsbewusstsein, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit durchsetzen und dass Aggression und Krieg gestoppt werden. Leider nicht heute oder morgen, aber hoffentlich bald.

 

AUF EINEN BLICK

Wolfgang Mueller ist seit 2016 korrespondierendes Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und stellvertretender Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Er forscht unter anderem zur Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion, zum Kalten Krieg sowie zur Wahrnehmungsgeschichte und zur Geschichte des Politischen Denkens.