10.03.2022 | Geldentwertung

Sinn: “Inflation ist eine Katastrophe für Europa”

Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn hielt am 10. März an der ÖAW in Wien eine Akademievorlesung mit dem Titel “Die neue Inflation”, die im Livestream verfolgt werden konnte. Im Interview erklärt der Ökonom, warum Inflation wieder ein Thema ist und was passiert, wenn man sie zu lange ignoriert.

© ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Im Supermarkt, an der Tankstelle oder beim Heizen: Die steigende Inflation ist derzeit in vielen Lebensbereichen spürbar. Laut Berechnungen der Statistik Austria stiegen im Jänner 2022 die Verbraucherpreise in Österreich geschätzt um 5,1 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Damit erreichte die Teuerungsrate einen neuen Höchststand im betrachteten Zeitraum.

„Wir sind mitten in einer heftigen Inflation in Europa“, ist Hans-Werner Sinn, einer der bekanntesten Ökonomen Deutschlands überzeugt. Aber: Was treibt die Inflation gerade jetzt an? Darüber sprach Sinn im Rahmen einer Akademievorlesung im Festsaal der ÖAW. Im Interview gibt er erste Einblicke und verrät, was nun gegen die Inflation zu tun ist.

ZU HOHE NACHFRAGE

Warum sehen wir aktuell wieder steigende Inflationsraten?

Hans-Werner Sinn: Der akute Anlass ist die Verknappung von Vorprodukten für die Industrieproduktion, zum Beispiel Mikrochips, die wegen der Pandemie und damit gekoppelten Verwerfungen der Lieferketten fehlen. Die Firmen haben noch nie so stark geklagt. Der Preis für Energie steigt ebenfalls und Rohstoffe wie Aluminium werden wegen der Sanktionen gegen Russland teurer. Wir haben zu viel Nachfrage im System, während das Angebot niedrig ist.

Wir haben zu viel Nachfrage im System, während das Angebot niedrig ist."

Lange Zeit hatten wir trotz offener Geldschleusen keine nennenswerte Inflation.

Sinn: Die hohe Staatsverschuldung hat viele Probleme übertüncht, weil die Zinsen niedrig sind. Die Geldspritzen der Nationalbanken sind zum Teil in Horte geflossen, statt in den Wirtschaftskreislauf, dadurch wurde die Inflation nicht befeuert. Horte sind die Haushalte und die Banken, die das Geld auf die hohe Kante legen, statt es auszugeben oder als Kredite zu verteilen.

Warum kristallisiert sich das Problem jetzt?

Sinn: Plötzlich kam das nicht, einige  Ökonom/innen haben schon lange damit gerechnet. Seit 2008 hat sich die von Nationalbanken zur Verfügung gestellte Geldmenge versiebenfacht. Damals passierte im September die Lehman-Pleite und seither hat sich eine Krise an die andere gereiht. Diese Probleme hat man versucht mit mehr Geld zu lösen. Jetzt haben die Lieferengpässe dazu geführt, dass der Ball ins Rollen kommt.

Sinn: Nationalbanken heizen Inflation an

Das heißt die Nationalbanken sind schuld?

Sinn: Die Geldpolitik war nicht die unmittelbare Ursache für Inflation, und sie kann sie auch nur bedingt bremsen. Sie hat die Inflation aber befeuert, indem sie die Staaten zu mehr Verschuldung veranlasst hat, und nun bremst sie nicht genug. Die EZB, die Europäische Zentralbank, sträubt sich mit Händen und Füßen gegen die Forderung, die Zinsen anzuheben. Am Ende beschützt die EZB schlicht überschuldete Länder der Eurozone. Die sind aber genau deshalb bis über beide Ohren verschuldet, weil die Geldpolitik sie  ermuntert hat. Jetzt sind sie süchtig nach billigem Geld und können die Droge nicht einfach absetzen.

Die Geldpolitik hat die Inflation befeuert, indem sie die Staaten zu mehr Verschuldung veranlasst hat, und nun bremst sie nicht genug."

Gibt es Alternativen zu einer Anhebung des Zinssatzes?

Sinn: Man sollte das behutsam machen, aber man muss es machen. Die US-Notenbank Fed hat bereits begonnen, den Zuwachs ihrer Verschuldung zu verringern und Zinserhöhungen angekündigt. Wir müssen die Zentralbankbilanzen irgendwann abbauen und die Geldmenge verringern. Europa müsste es den USA gleichtun, sonst wird die Inflation angeheizt und der Dollar gewinnt im Vergleich zum Euro an Wert.

Warum reagiert die EZB noch nicht?

Sinn: Die EZB sagt, dass der Mittelwert für die Inflation für den Zeitraum zwischen 2022 und 2024 unter zwei Prozent liegen werde, das sei nicht so schlimm. Das ist aber lediglich eine Behauptung, die aus der Luft gegriffen ist.

ZINSSATZ AN INFLATION ANPASSEN

Wo müsste der Zinssatz liegen, um die Inflation zu bremsen?

Sinn: Der Zinssatz müsste an die Inflationsrate angepasst werden, die EZB sollte den Zins also auf zwei, drei, fünf Prozent anheben, je nachdem wie hoch die Inflation ausfällt. Der Realzins ist die Differenz zwischen Zins und Inflationsrate. Er sollte nicht negativ werden.

Wie hoch kann die Inflation werden?

Sinn: Es gibt grundsätzlich keine Decke für die Inflation. In den USA hatten wir in den 1970er-Jahren Inflationsraten in Richtung 7 Prozent. Der damalige Fed-Präsident Volcker hat den Zinssatz auf 18 bis 20 Prozent erhöht, das war eine Gewaltbremsung und hat die Inflation sofort gestoppt. Wenn man einen Berg hinunter rast und sich nicht traut zu bremsen, muss man am Ende eben um so härter in die Eisen steigen. Oder anders gesagt: Inflation ist wie ein Feuer. Das muss man sofort austreten, sonst brennt es bald lichterloh.

Inflation ist wie ein Feuer. Das muss man sofort austreten, sonst brennt es bald lichterloh."

Was erwarten Sie für Europa?

Sinn: Es wird Zinserhöhungen geben, aber wohl zu zögerlich, um die Inflation zu stoppen. Das nächste Jahrzehnt hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, inflationär zu werden. Die grüne Energiewende wird Strom noch teurer machen, die Ukrainekrise und damit verbundene Maßnahmen werden diesen Trend noch verschärfen. Dazu kommen demografische Probleme. Die Babyboomer gehen in Pension und verbrauchen ihr Erspartes, gleichzeitig profitieren sie aufgrund ihrer wachsenden politischen Macht von Umverteilungsmaßnahmen. Das Angebot nach Arbeitskräften verknappt sich, die Nachfrage bleibt aber hoch. Das treibt die Inflation.

Sparer sind die ersten Opfer der Inflation

Wer spürt die Inflation zuerst?

Sinn: Die Sparer sind die ersten Opfer. Sie veranlagen zu festen Zinsen, die Inflation frisst das Kapital auf, sobald sie den Zinssatz übersteigt. Kreditnehmer hingegen sind nur mit scheinbaren Lasten konfrontiert, weil ihre Einkommen und die Preise für ihre Investitionen mit dem allgemeinen Preisniveau mitsteigen.

Welche Auswirkungen kann das haben?

Sinn: Denken wir 100 Jahre zurück an Österreich und Deutschland, 1922 und 1923 hatten wir Hyperinflation, das Geld hat seine Wertaufbewahrungsfunktion komplett verloren. Die Männer gaben ihre Lohntüten damals direkt am Firmentor an ihre Frauen ab, damit diese gleich einkaufen gehen konnten, weil das Geld wenige Stunden später schon wieder deutlich weniger wert war. Es entwickelte sich ein Naturalientausch. Die Löhne und Pensionen wurden entwertet, das führte zu Hass und Frustration, was wiederum Zulauf für radikale Parteien bedeutete. Nicht umsonst hat Hitler seinen ersten Putsch 1922 in München versucht. Auch Stefan Zweig schrieb, dass nichts mehr zu Hitlers Aufstieg beigetragen hat als die große Inflation.

Ist so ein Szenario heute denkbar?

Sinn: Denkbar ist vieles. Ich schätze jedoch eher, dass wir eine Situation wie in den 1970ern bekommen werden, als Europa den Zinserhöhungen der USA nicht gefolgt ist und der Dollar relativ entsprechend aufgewertet hat.

Inflation gefährdet die europäische Einigung."

Wie hoch kann die Inflationsrate kurzfristig werden?

Sinn: Die gewerblichen Erzeugerpreise, das sind die Preise für Zwischenstufen der Industrieproduktion, sind in Österreich gegenüber dem Jahresende 2021 um 21 Prozent gestiegen, in Deutschland sogar um 25 Prozent. Das schlägt sich normalerweise nicht voll auf Endverbraucherpreise durch, weil die Margen der Hersteller als Puffer dienen. Aber so eine hohe Rate hatten wir seit 1951 noch nie. Das sind natürlich nur punktuelle Anstiege, aber die durchschnittlichen Teuerungsraten für gewerbliche Erzeuger und Endverbraucher, die über mehrere Jahre gemessen wird, liegen normalerweise nicht so weit auseinander. Der Trend geht also steil nach oben.

Was heißt das für Europa?

Sinn: Inflation ist eine Katastrophe für Europa. Sie gefährdet die europäische Einigung. Wenn der Schaden erst einmal da ist, wird der Streit groß sein. Man wird das auf den Euro schieben und das könnte das Ende des gemeinsamen Europas sein. Aber wir müssen das nicht hinnehmen. Die EZB kann und muss die Geldmenge wieder verknappen und die Zinsen anheben.

Hans-Werner Sinn: Die neue Inflation

 

AUF EINEN BLICK

Hans-Werner Sinn ist deutscher Wirtschaftswissenschaftler und war bis 2016 Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München. Sinn ist einer der wenigen deutschsprachigen Fellows des National Bureau of Economic Research in Cambridge, USA. Der Autor von über 30 Büchern ist Honorarprofessor an der Universität Wien und ist Mitglied der ÖAW im Ausland.