24.02.2023 | Ukraine-Krieg

FORSCHEN IN DER FREMDE

Ein Jahr ist seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine vergangen. Drei Forscherinnen erzählen, wie sie vor dem Krieg flüchten mussten und mithilfe des Ukraine Emergency Calls der ÖAW aus der Ferne weiterforschen konnten. Auch aktuell können sich Forschende aus der Ukraine an der ÖAW für einen Forschungsaufenthalt bewerben.

Die ukrainische Physikerin Anna Kosogor konnte mithilfe der ÖAW nach Wien kommen und hier ihre Forschungen fortsetzen. © ÖAW

365 Tage ist es her, dass Russland die Ukraine überfiel. Am Morgen des 24. Februar 2022 wurde Anna Kosogor in ihrer Kiewer Wohnung von Sirenen und Explosionen geweckt. Sie hätte es damals nicht für möglich gehalten, sagt sie, dass im 21. Jahrhundert ein solcher Krieg ausbrechen würde. Vor einem Jahr arbeitete sie als Materialphysikerin an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine (NAS) und leitete eine Arbeitsgruppe am Institut für Magnetismus in Kiew.

Über Kolleg:innen erfuhr sie vom Ukraine Emergency Call der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) – einem Hilfsprogramm, um Wissenschaftler:innen aus der Ukraine die Fortsetzung ihrer Forschungsarbeiten in Österreich zu ermöglichen. Gemeinsam mit ihrem fünfjährigen Sohn und ihrer Schwiegermutter floh sie nach Wien. „In der einen Hand hielt ich meinen Sohn, in der anderen meinen Laptop“, erinnert sich die Wissenschaftlerin. Nach dem ersten Schock dachte sie noch, der Krieg werde bald wieder vorbei sein. Sie hoffte, dass sie im Sommer 2022 wieder zurück in die Ukraine könne. Aber es kam anders.

Zusammenarbeit zwischen Wien und Kiew

Heute forscht sie am Institut für Physik der Universität Wien. Ihr Fokus: Formgedächtnislegierungen. Das sind spezielle Metalle, die beispielsweise in der Medizintechnik für Stents zur Erweiterung verengter Blutgefäße verwendet werden. „Der Emergency Call der ÖAW war für mich sehr hilfreich, ebenso wie die Unterstützung durch das Erwin Schrödinger Institut für Mathematik und Physik der Universität Wien.“

Sie konnte ihre Arbeit fortführen, Vorträge halten, Papers einreichen. Von Wien aus arbeitet sie mit ihrem Labor am Institut für Magnetismus in Kiew zusammen, so gut es geht. Die gemeinsamen Forschungen zur magnetischen Kühlung wird sie ab Mai 2023 an der Tohoku Universität in Japan als Gastprofessorin fortsetzen.

Vom ukrainischen Sperrgebiet in die österreichischen Alpen

Auch die Strahlenphysikerin Nataliia Zarubina musste aus ihrer Heimat fliehen. Dank der Unterstützung durch die ÖAW konnte sie mit ihrer Forschung in Österreich andocken, sagt sie. Zarubina arbeitete am Institut für Kernforschung der NAS im Sperrgebiet des havarierten Atomkraftwerks Tschernobyl. 33 Jahre lang sammelte sie Daten über den Cäsiumgehalt von Pilzen. Dann kam der Krieg – und machte ihre langjährige Forschung auf dem ungestörten Boden, der nach dem Reaktorunfall von 1986 nicht mehr aufgewühlt wurde, zunichte.

In Wien verfasste sie im vergangenen Jahr ihren Abschlussbericht über die Umverteilung Cäsium 137, einem der gefährlichsten und langlebigsten Radionuklide, in Waldökosystemen. Jetzt liegt ihr Augenmerk auf den Nadelwäldern der österreichischen Alpen: „Meine langjährige Erfahrung zur Anreicherung des biologisch gefährlichen radioaktiven Isotops Cäsium erlaubt es, die entwickelten Methoden schnell und effektiv auf andere Gebiete zu übertragen“, erklärt sie.

In Wien Ukrainisch unterrichten

Als vor einem Jahr der Krieg in der Ukraine losging, heulten auch im Westen des Landes die Sirenen. Kurz darauf schlugen russische Bomben auf einen Militärstützpunkt bei Lviv in unmittelbarer Nähe der polnischen Grenze ein. Oskana Turkevych beschloss mit ihrer sechsjährigen Tochter zu fliehen. Vor dem Krieg forschte die Slawistin und Professorin für angewandte Linguistik an der Iwan-Franko-Universität in Lviv und lehrte ausländische Studierende Ukrainisch.

Ukrainisch in Theorie und Didaktik, das ist auch im Exil Thema ihrer Arbeit. „Der Ukraine Emergency Call der ÖAW half mir in einer ersten Phase die Probleme und Herausforderungen des Ukrainisch- Unterrichts in Österreich zu erkunden und vor allem einen sicheren Ort zu finden, um meine Forschungen fortzusetzen“, sagt Turkevych ein Jahr später. Zwei Monate forschte sie an der Universiät Wien zur Vermittlung von Ukrainisch als Herkunftssprache. Derzeit arbeitet sie an der Humboldt-Universität in Berlin, wo sie für ein Jahr ein Postdoc-Stipendium erhalten hat. Danach möchte sie wieder nach Wien zurückkehren, um Lehrpersonen und die vertriebenen ukrainischen Kinder mit neuesten Forschungen zur Didaktik des Unterrichts von Ukrainisch als Muttersprache unterstützen.

 

AUF EINEN BLICK

Mit dem Ukraine Emergency Call der ÖAW konnten im vergangen Jahr rund 100 Forscher:innen, die die Ukraine verlassen haben, unterstützt werden, um ihre Forschungsvorhaben in Österreich fortzusetzen. Das Hilfsangebot wurde gefördert vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF), dem Austrian Centre of Industrial Biotechnology (ACIB) und der Ludwig Boltzmann Gesellschaft sowie der Stadt Wien.

Die Ukraine bleibt Zielland im langjährigen Mobilitätsprogramm „Joint Excellence in Science and Humanities“ der ÖAW. Das Programm soll den Austausch von Wissenschaftler:innen aus dem Ausland mit Wissenschaftseinrichtungen in Österreich fördern. Der Fokus liegt dabei auf Ländern, die von einem Wissenstransfer in der Forschung besonders profitieren können, so wie die Ukraine. Ukrainische Forscher:innen können sich mit ihrem Projekt bei der ÖAW für einen Forschungsaufenthalt in Österreich bewerben. Nach einer positiven Evaluierung durch eine Fachjury kann der Bewerber bzw. die Bewerberin bis zu 6 Monate an der ÖAW, einer der österreichischen Unis oder weiteren öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen sein/ihr Projekt umsetzen.