12.05.2022 | Akademiegeschichte

EINE NEUE AKADEMIEGESCHICHTE

Zum 175-jährigen Gründungsjubiläum präsentiert die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) eine „neue Akademiegeschichte“ in drei Bänden. Im Interview schildert der Historiker und Co-Herausgeber Johannes Feichtinger, was das Besondere an dem neuen Geschichtswerk ist.

© ÖAW
© ÖAW

Auf nicht weniger als 1.845 Seiten arbeitete die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in den vergangenen Jahren ihre Geschichte auf. Mit dem dreiteiligen Werk liegt nun nicht nur eine umfassende und nach aktuellsten wissenschaftlichen Maßstäben gestaltete Geschichte dieser Institution auf – sondern auch ein großes Überblickswerk zur österreichischen Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Die anlässlich des 175-jährigem Bestehen der Akademie präsentierten drei Bände beruhen auf neu erschlossenen Quellenbeständen in österreichischen und ausländischen Archiven und verbinden die Geschichte der Institution mit der Geschichte der Forschungspraxis und dem Wandel der Wissenschaften in Österreich und Europa.

Neue Wissenschaftsgeschichtsschreibung

Die neue Gesamtgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist einer neuen Wissenschaftsgeschichtsschreibung verpflichtet. Was bedeutet das?

Johannes Feichtinger: Prägnant kann das mit den Stichworten historisch-kritisch, kontextbezogen und reflexiv charakterisiert werden. Das bedeutet: Wir haben uns die vielfältigen Ereignisse und Wandlungsprozesse in der Akademie angesehen, sie in ihrem Kontext erzählt und dabei auch die Handlungsspielräume der jeweiligen Epoche in den Blick genommen. Dabei konzentrierten wir uns nicht nur auf die Aufzählung von Geschehnissen, sondern versuchten zu erklären, wie sich Forschungsvorhaben aufgrund politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umstände verändern.

Nach 1945 herrschte in Österreich eine verstärkte patriotische Haltung."

Die letzte Gesamtdarstellung der Akademiegeschichte stammt aus dem Jahr 1947. Zu welchen neuen Forschungsergebnissen sind Sie rund um die Gründung 1847 gekommen?

Feichtinger: Nach 1945 herrschte in Österreich eine verstärkte patriotische Haltung, um sich der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu entledigen. Auch die Gründungsgeschichte war von diesem Patriotismus durchdrungen. Wir konnten zeigen, dass der Entstehungsprozess der Akademie viel komplexer war als dargestellt. Zwar hat es schon im Heiligen Römischen Reich Anläufe einer Akademiegründung gegeben, aber erst als Österreich 1804 als neues Kaisertum entstand und eine Form von Staatlichkeit gegeben war, wurde die Akademiefrage virulent.

Eine Publikationsakademie

In der neuen Publikation schreiben Sie, dass mit der Angliederung des ersten Forschungsinstituts 1910 eine bahnbrechende Entwicklung eingesetzt hat. Inwiefern?

Feichtinger: Forschung war damals Sammelforschung. Im 19. Jahrhundert übernahm die Akademie Forschungsaufgaben von der Regierung. Sie war federführend bei der Errichtung von Wetterstationen entlang des Eisenbahnnetzes der Monarchie, in der Erschließung der Bodenschätze, vor allem der Kohlevorkommen, sowie in der Dokumentation von Fauna und Flora.

Sie war im Wesentlichen eine Publikationsakademie. Und das hat sich um 1900 massiv geändert, als die Akademie 1910 ihr erstes Forschungsinstitut, das Institut für Radiumforschung, eröffnete, das Experimentalforschung betrieb. Das war damals weltweit einzigartig.

In der Regel arbeiteten Frauen den Männern mit ihren Forschungen zu."

Die neue Akademiegeschichte stellt ein bisher unterbelichtetes Thema stärker in den Vordergrund: Die Rolle und Bedeutung von Frauen als Forscherinnen.

Feichtinger: Dass Frauen seit dem 19. Jahrhundert an der Akademie mitgearbeitet haben, ist kein Geheimnis. Es gibt eine lange Tradition von weiblicher Forschung, aber sie wurde nicht in den Quellen verzeichnet. In der Regel arbeiteten Frauen den Männern mit ihren Forschungen zu – oft in Laboren oder im häuslichen Bereich, ohne dafür bedankt oder genannt zu werden. Daran unterscheidet sich die Wiener Akademie nicht von anderen Akademien, nur, dass dieses Wissen bislang nicht aufgearbeitet wurde. In dieser Hinsicht ging die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften um das Jahr 2000 mit gutem Beispiel voran.

Frauen unter den Mitgliedern

Und bei der Aufnahme von weiblichen Mitgliedern?

Feichtinger: Österreich war hier weder bei den ersten noch bei den letzten Ländern, die Frauen als Akademiemitglieder aufgenommen haben. Die Physikerin Lise Meitner wurde 1948 als erste Frau als korrespondierendes Mitglied im Ausland aufgenommen. Eigentlich hätte sie Ehrenmitglied werden sollen. Weil aber Otto Hahn, der Mitentdecker der Kernspaltung, mittlerweile zum Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft aufgestiegen und auch nur korrespondierendes Mitglied war, wurde auch Meitner auf Vorschlag Stefan Meyers korrespondierendes Mitglied.

Interessant ist auch die Wahl der Physikerin Berta Karlik, die 1973 erstes weibliches wirkliches Mitglied wurde. Ein Jahr später ging sie in Pension. Die Ehre einer Mitgliedschaft konnte die Institutsdirektorin für Radiumforschung und Kernphysik also nicht mehr in ihre berufliche Karriere einbringen.

In erster Linie ging es dabei um den Ausschluss jüdischer Mitglieder."

Neu ausgeleuchtet wird auch die Akademie im Nationalsozialismus. Mit welchen Ergebnissen?

Feichtinger: Gegenüber 2013, als der Ausstellungskatalog „Die Akademie der Wissenschaften im Nationalsozialismus“ erschien, hat sich manches neu ergeben. Wir haben uns unter anderem angesehen, wie sich die Akademie im Ständestaat zum Nationalsozialismus verhalten hat und in welchen antisemitischen und deutschnationalen Netzwerken Mitglieder schon vor 1938 aktiv waren. Kaum eine Akademie im Dritten Reich hatte so viele NSDAP-Mitgliedern wie die Wiener Akademie. Im österreichischen Vergleich sticht die Akademie hier aber nicht heraus, sie war nicht antisemitischer als andere Einrichtungen.

Aufgrund des Studiums von neuen Quellen wurde zudem klar, welche Rolle die Akademie für die Gleichschaltung der Akademien im „Dritten Reich“ gespielt hat. Die nationalsozialistische Satzung, die zum Teil von Mitgliedern der Wiener Akademie erarbeitet wurde, war Vorbild für sämtliche Satzungen von Akademien im nationalsozialistischen Deutschland. In erster Linie ging es dabei um den Ausschluss jüdischer Mitglieder.

Neu erforscht haben wir auch, dass es der Akademie trotz eines besonderen Anbiederns an den Nationalsozialismus nicht gelungen ist, sich in dieser Zeit einen institutionellen Vorteil zu verschaffen. Im Gegenteil. Was die Forschung betrifft, setzte im Nationalsozialismus eine Provinzialisierung Österreichs ein.

Der letzte Nationalsozialist, der an die Akademie zurückkehrte, war Oswald Menghin."

Und wie ging es nach 1945 mit den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern der Akademie weiter?

Feichtinger: Die Mitgliedschaft der Akademie wurde nach 1945 für ehemalige NSDAP-Mitglieder vorübergehend ruhend gestellt. 1948, nach dem österreichischen Amnestiegesetz, waren alle wieder da – mit ganz wenigen Ausnahmen. Der letzte Nationalsozialist, der an die Akademie zurückkehrte, war Oswald Menghin. Er wurde 1959 von Argentinien aus als korrespondierendes Mitglied im Ausland neu aufgenommen.

Schreiben in Teams

Sie haben die drei Bände in Teams geschrieben. Welche neuen Sichtweisen ermöglicht dieser multiperspektivische Zugang?

Feichtinger: Wir haben die jeweiligen Kapitel durchgängig kooperativ geschrieben. Das schärft den Blick ungemein. Und: Wenn man den jeweiligen Kontext berücksichtigt, stellen sich völlig neue Forschungsfragen. Ein Beispiel: Wie war es möglich, dass sich die jährliche Staatsdotierung in den 1960er Jahren vervielfacht hatte? Wie konnte die ÖAW 1965 zwei Institute eröffnen und 1973 bereits über siebzehn Institute verfügen? Weil es ein manifestes Interesse gab, Forschung innerhalb kürzester Zeit zu fördern. So wurde aus der Akademie der Wissenschaften der größte außeruniversitäre Forschungsträger des Landes.

Ein manifestes Interesse des Staates?
Feichtinger: Diese Entwicklung setzte in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Österreich hinkte hier bis in die 1960er Jahre hinterher. Während sich im Osten die Wissenschaftsakademien der kommunistischen Staaten als Forschungsakademien neu konstituierten, entstanden im Westen neben den Akademien eigene Forschungsgesellschaften, etwa die Max-Planck-Gesellschaft in Deutschland. Damals war man überzeugt, dass sich staatliche Investitionen in die Forschung auf Wohlstand und Fortschritt auswirken. Eine Maxime, die von der OECD eingeführt wurde. Der damalige Akademiepräsident Erich Schmid meinte 1965: Die Forschung von heute ist das Brot von morgen.

 

AUF EINEN BLICK

Johannes Feichtinger ist Historiker und interimistischer Direktor am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Seit 2015 korrespondierendes Mitglied der ÖAW. Gastprofessuren an der Universität Wien und an der University of Arkansas (USA); Research-Fellow am IFK (Wien) und am Wittgenstein Archive Cambridge (UK). Globale und regionale Wissenschaftsgeschichte ist einer seiner Forschungsschwerpunkte. 

Die drei Bände „Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte“, herausgegeben von Johannes Feichtinger und Brigitte Mazohl, sind 2022 im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erschienen.