11.07.2022 | Ukraine-Krieg

„Die Invasion der Ukraine war eine fatale Misskalkulation“

Der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak glaubt nicht, dass Putin seinen Krieg gewinnen wird. Im Interview erklärt Hrytsak, der 2022 zum ÖAW-Mitglied gewählt wurde, welche historischen Mythen Putins Denken leiten, wie die Aussichten auf Demokratie in Russland stehen und wie es nach einem Kriegsende mit beiden Ländern weitergehen kann.

Ein zerstörter Panzer in der Gegend von Butscha in der Ukraine.
Ein zerstörter Panzer in der Gegend von Butscha in der Ukraine. © Mikhail Volkov/Unsplash

„Je autoritärer Staaten sind, desto eher müssen sie den inneren Zusammenhalt stärken. Dazu brauchen sie nationale Mythen und die Geschichte wird in diesem Kontext gerne missbraucht“, sagt Yaroslav Hrytsak mit Blick auf Putins historische Rechtfertigung des Angriffskrieges gegen die Ukraine.

Hrytsak ist Historiker an der Ukrainian Catholic University in Lwiw und seit diesem Jahr ausländisches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er glaubt nicht, dass Russland eine Chance hat, den Krieg zu gewinnen. „Aber jetzt haben wir einen Zermürbungskrieg und der wird noch lange dauern, fürchte ich.“ Eine Versöhnung beider Länder hält er dennoch für möglich. Jedoch: „Das geht nicht ohne Veränderungen. Putin muss gehen, weil Versöhnung für ihn nur Schwäche bedeutet“, so Hrytsak im Gespräch.

PUTIN BENUTZT GESCHICHTE ALS ABLENKUNG

Wie geht es Ihnen?

Yaroslav Hrytsak: Ich lebe in Lwiw, im westlichen, ehemals habsburgischen Teil der Ukraine. Hier geht es uns den Umständen entsprechend gut. Wir haben zwei- bis dreimal täglich Bombenalarm, aber bisher haben die russischen Raketen ihre Ziele zumeist verfehlt.

Wie reagieren Sie als Historiker, wenn Sie Putins Rechtfertigungen für den Krieg hören? Etwa, dass die Ukraine kein echter Staat sei?

Hrytsak: Es macht keinen Sinn, auf Putins Vorwürfe zu antworten, weil sie eindeutig an den Haaren herbeigezogen sind. Er benützt Geschichte als Ablenkung, das ist sehr nützlich für ihn.

Sowohl die Ukraine als auch Russland sind eindeutig moderne Erfindungen, auch wenn beide gerne etwas anderes behaupten.

Wie würden Sie das historische Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine beschreiben?

Hrytsak: Üblicherweise wird die Ukraine historisch gerne im Schatten Russlands gesehen. Das mag auch stimmen für die Zeit vom Anfang des 18. Jahrhunderts bis heute, aber davor war die Ukraine Teil einer zentraleuropäischen Einflusssphäre. Das Land hat sich lange zwischen diesen beiden Machtzentren bewegt und war für den Westen der Osten und für den Osten der Westen. Was sicher ist, ist dass die Ukraine nie vollständig zu Russland gehört hat.

Was ist die historische Grundlage für Putins mythologisches Großrussland?

Hrytsak: Es ist ziemlich dumm, zu behaupten, die historische Rus und Russland seien dasselbe. Sowohl die Ukraine als auch Russland sind eindeutig moderne Erfindungen, auch wenn beide gerne etwas anderes behaupten. Natürlich verbindet die zwei Länder seit dem Ende des 17. Jahrhunderts viel: Beide sind christlich-orthodox geprägt und die Sprachen sind wechselseitig verständlich. Die politischen Traditionen unterscheiden sich aber deutlich. In der Ukraine steht die Beschränkung politischer Macht im Zentrum, nach dem Vorbild der ukrainischen Kosaken. Russland war zu dieser Zeit bereits ein großes Reich, aber relativ unterentwickelt. Die Ukraine, Polen und Belarus waren fortschrittlicher und stellten einen Teil der russischen Eliten, weil sie gebildet waren. Sie haben geholfen, Russland zur Weltmacht zu machen.

Und in der jüngeren Vergangenheit?

Hrytsak: Im 19. Jahrhundert hat sich die Situation umgedreht. Russland war plötzlich höher entwickelt und die Ukraine war nur noch Peripherie. Aber die Bedeutung der Ukraine blieb trotzdem enorm, aufgrund ihrer Größe und der Funktion als Brücke zu Europa. Wie andere Völker in Europa haben auch die Ukrainer im 19. Jahrhundert eine eigene nationale Identität entwickelt. Die Voraussetzungen waren aber schwierig, weil immer die Gefahr einer permanenten Teilung bestand, in einen russisch geprägten Ostteil und einen habsburgisch geprägten Westteil. Im Westen war das politische Momentum deutlich ausgeprägter, weil Einflüsse aus Europa neue Ideen ins Land gebracht haben.

Putins Schriften entnehme ich zwar, dass er Geschichte liest, aber wohl von zweifelhafter Qualität.

Welche Rolle spielt der Nationalismus in der heutigen Ukraine?

Hrytsak: Ukrainischer Nationalismus ist überbewertet. Selenskyj ist kein Nationalist, er ist ein russischsprachiger Jude. Daneben haben wir Georgier und Ukrainer in der Regierung. Das ist eine gute Mischung und repräsentiert eine vielschichtige Gesellschaft. Putin würde jedes Land, das nach Unabhängigkeit strebt, des Nationalismus bezichtigen.

Wieso ist Russland so erpicht darauf, seine Version der Geschichte zu verbreiten?

Hrytsak: Je autoritärer Staaten sind, desto eher müssen sie den inneren Zusammenhalt stärken. Dazu brauchen sie nationale Mythen und die Geschichte wird in diesem Kontext gerne missbraucht. Aber man darf nicht vergessen, dass Mythen essentiell für jede Gesellschaft sind, weil kollektive Identität hier eine zentrale Rolle spielt.

Woher nimmt Putin seine Weltsicht?

Hrytsak: Ich habe kürzlich einen russischen Intellektuellen getroffen, der Putin persönlich kennt. Er meinte, dass er nicht sonderlich gebildet sei und eher naive Ansichten vertrete. Putin hat sich sein Geschichtswissen wohl selbst angeeignet und denkt, er kann das alles richtig einordnen. Seinen Schriften entnehme ich zwar, dass er Geschichte liest, aber wohl von zweifelhafter Qualität.

KEIN DEMOKRATISCHES RUSSLAND IN NAHER ZUKUNFT

Wie ist Russland an diesen Punkt gekommen?

Hrytsak: Im alten Europa kam es mehr oder weniger durch Zufall zu einer Trennung von Kirche und Staat. In Russland ist das nie passiert. Zwar wurde zwischendurch eine Säkularisierung versucht, etwa im 19. Jahrhundert oder in der Phase zwischen dem Ende der Monarchie und der Machtergreifung durch die Bolschewiken. Auch Chruschtschow und Gorbatschow haben es probiert. Aber alle Versuche sind gescheitert und es folgten jedesmal repressive Phasen.

Das klingt nach einem Muster.

Hrytsak: Darum glaube ich auch nicht, dass wir bald ein demokratisches Russland bekommen, selbst wenn Putin ersetzt werden sollte. Vorher müsste die zentrale Macht zerschlagen und aufgeteilt werden. Die orthodoxe Kirche hat immer mit der Politik agiert und gehört mehr oder weniger dem Staat. Das hat für stabile Verhältnisse gesorgt, aber neben diesen beiden Machtzentren bleibt für andere öffentliche Institutionen wie Universitäten oder eine unabhängige Justiz kein Platz. Russland ist nicht verdammt, ewig unter Autokraten zu leiden. Aber es wird viel Zeit und Aufwand nötig sein, um etwas zu ändern. Ein Sieg der Ukraine würde die Chancen erhöhen.

VOM REFORMER ZUM AUTOKRATEN

Viele Kommentatoren sind der Ansicht, dass die Invasion für Putin den Anfang vom Ende markiert. Stimmen Sie zu?

Hrytsak: Ja. Die Invasion der Ukraine war eine fatale Misskalkulation. Aber jetzt haben wir einen Zermürbungskrieg und der wird noch lange dauern, fürchte ich. Wenn der Westen die Ukraine unterstützt, hat Russland am Ende keine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Putin kann zwar versuchen, jedes Ende als Sieg zu verkaufen, aber in Wahrheit gibt es kein gutes Ausstiegsszenario mehr für Russland.

Eine freie Ukraine wirft die Frage auf, warum echte Demokratie nicht auch in Russland Fuß fassen sollte.

Warum ist Putins Herrschaft immer autoritärer geworden?

Hrytsak: Putin war zu Beginn ein Reformer, aber er hat es nicht geschafft, das Land wirtschaftlich oder politisch voranzubringen. Deshalb hat er sich umorientiert, in Richtung Vergangenheit und Autokratie. Mit diesem Kurswechsel wurde Geschichte plötzlich enorm wichtig. In Putins Version ist Russland einzigartig und kann nicht an westlichen Maßstäben gemessen werden. Für diese Erzählung braucht er aber die Ukraine, weil Russland nur mit der Ukraine eine Weltmacht sein kann. Eine freie Ukraine erinnert ihn zu sehr an sein eigenes Versagen und wirft die Frage auf, warum echte Demokratie nicht auch in Russland Fuß fassen sollte.

Das klingt fast so, als wäre der Krieg nur eine Frage der Zeit gewesen?

Hrytsak: Die Invasion war nicht unausweichlich. Aber die viele Menschen haben schon lange damit gerechnet. Putin hat seine Absicht schon 2003 kundgetan, bevor die Beitritte der Ukraine zu EU und NATO im Raum standen.

Marshallplan für die Ukraine

Wie kann eine Zukunft für die Ukraine aussehen?

Hrytsak: Wir brauchen einen Marshallplan für die Ukraine. Wichtig wird auch die Reform der Justiz sein, um die Gefahr autoritärer Strömungen zu bannen. Es gibt bereits politische Pläne, das umzusetzen. Ein baldiger EU-Beitritt wäre auch ein wichtiger Schritt. Es kommt gerade eine neue Generation von Ukrainer/innen nach, mit neuen Werten. Die wissen, was Freiheit ist und wollen sie auch behalten.

Es kommt gerade eine neue Generation von Ukrainer/innen nach, mit neuen Werten. Die wissen, was Freiheit ist und wollen sie auch behalten.

Gibt es Aussichten auf nachbarschaftliche Beziehungen mit Russland?

Hrytsak: Die EU ist nicht perfekt, aber ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ist heute unvorstellbar. Frieden und Wohlstand sind Folgen der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich in den 1950er-Jahren und Deutschland und Polen in den 1960ern. Es gibt also auch die Chance für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine. Aber das geht nicht ohne Veränderungen. Putin muss gehen, weil Versöhnung für ihn nur Schwäche bedeutet. Für eine Versöhnung muss zudem klargestellt werden, dass die Krim und der Donbas nicht russisch sind.

Wie sehen die Ukrainer Österreich?

Hrytsak: Die Erinnerungen an die Habsburgerzeit sind nicht die besten in der Ukraine, aber danach kamen für uns weitaus schlimmere Zeiten. Heute sind wir skeptisch den Österreichern gegenüber, weil sie sehr warme Beziehungen zu Putin pflegen. Wir verstehen aber auch, dass das nicht einfach für Österreich ist und sind dankbar für jede Unterstützung, die wir bekommen.

 

AUF EINEN BLICK

Yaroslav Hrytsak ist Historiker an der Ukrainian Catholic University und Direktor des Institute for Historical Studies of Ivan Franko National University. Er ist seit 2022 Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Ausland. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Overcoming the Past: Global History of Ukraine“ (auf Ukrainisch).