31.01.2022 | Buchtipp des Monats

Bildung als zentraler Aspekt der Demographie

Was die Altersstruktur einer Bevölkerung mit der Bildungsstruktur zu tun hat und warum die Investition in universelle Bildung für alle der entscheidende Faktor für die Veränderung einer Gesellschaft ist, erklärt ÖAW-Demograph Wolfgang Lutz.

© Pexels/Dmitry Limonov

Für Wolfgang Lutz, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) stellt Bildung die wichtigste demographische Dimension für die Entwicklung einer Gesellschaft dar. In seinem jüngsten Buch „Advanced Introduction to Demography“ – eine Einführung für Fortgeschrittene in die Demographie, beschreibt er neue Einsichten, die der theoretische Ansatz der multidimensionalen Demographie bietet und verortet die Disziplin neu im Herzen der Sozialwissenschaften.

„Es ist unglaublich, wie viele Bereiche unserer Gesellschaft die Demographie berührt, wenn man nicht nur das Alter, sondern auch die Bildung und andere demographische Dimensionen mit einbezieht“, so Lutz. Welche Rolle Bildung, insbesondere von Mädchen, mit Blick auf nachhaltige Entwicklung für die globale Zukunft spielt, erklärt er im Interview.

Demographie: Weit mehr als Alterspyramiden

In Ihrem jüngsten Buch dreht sich alles um multidimensionale Demographie. Was ist damit gemeint?

Wolfgang Lutz: Wenn in der Öffentlichkeit von demographischen Veränderungen gesprochen wird, denken die meisten Menschen an das Altern der Bevölkerung. Die meisten demographischen Prognosen von statistischen Ämtern stellen diese Entwicklung in Form von Alterspyramiden, also differenziert nach Alter und Geschlecht, dar.

Doch neben dieser rein auf die Altersdimension fokussierten Demografie, gibt es mehrere wichtige demographische Charakteristika, die zusätzliche Einsichten erlauben: etwa der Wohnort, die Erwerbstätigkeit, das Geburtsland und – besonders wichtig für viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Aspekte – die höchste abgeschlossene Schulbildung. Vieles in unserem Leben ist stark nach Bildung differenziert – von der Geburtenrate über die Gesundheit und Produktivität bis hin zur Sterbewahrscheinlichkeit.

In fast allen Ländern der Welt ist die Lebenserwartung für besser gebildete Menschen im Schnitt vier bis sechs Jahre höher als jene der weniger gebildeten Menschen.

Was hat die Altersstruktur mit der Bildungsstruktur einer Bevölkerung zu tun?

Lutz: In fast allen Ländern der Welt ist die Lebenserwartung für besser gebildete Menschen im Schnitt vier bis sechs Jahre höher als jene der weniger gebildeten Menschen. Noch größere Unterschiede gibt es bei Gesundheit und Pflegebedürftigkeit, was auch direkt für die Debatte zum Pflegenotstand in Österreich relevant ist.

Inwiefern?

Lutz: Wenn man die Bevölkerungsentwicklung nur nach dem Alter differenziert, dann sieht man durch die Zunahme älterer Menschen in Zukunft eine enorme Zunahme des Pflegebedarfs. Gleichzeitig wissen wir, etwa durch die Österreichische Gesundheitsbefragung, dass beispielsweise Frauen im Alter von 80 Jahren mit Universitätsausbildung weniger als die Hälfte der gesundheitlichen Beeinträchtigungen haben im Vergleich zu Frauen im selben Alter, die nur über Pflichtschulbildung verfügen. Und wir wissen auch, dass die Frauen der jüngeren Generationen, die heute zwischen 30 und 50 Jahren sind, deutlich besser gebildet sind als die heute 80-jährigen Frauen. Die 80-Jährigen der Zukunft sind also besser gebildet als die 80-Jährigen heute. Dann wird es zwar in Zukunft mehr 80-jährige Frauen geben, aber die haben pro Kopf eine geringere Wahrscheinlichkeit an Pflegebedarf. In Summe kann das bedeuten, dass der Pflegebedarf in Österreich kaum zunimmt. Das ist nur ein Beispiel, wie unser Szenario für der Zukunft anders aussieht, wenn wir nicht nur auf das Alter fokussieren, sondern multidimensional-demographisch herangehen.

Es ist nicht der alte Reichtum, sondern es ist die Investition in die Köpfe der Menschen, in die Bildung, die auch in Europa einen Unterschied macht.

Frühe Investitionen in Bildung führen zum Erfolg

Davon lassen sich viele politischen Fragen ableiten. Ein Grund, weshalb sie die mehrdimensionale Demographie im Herzen der Sozialwissenschaften verorten?

Lutz: Es ist unglaublich, wie viele Bereiche unserer Gesellschaft die Demographie berührt, wenn man nicht nur das Alter, sondern auch die Bildung und andere demographische Dimensionen mit einbezieht. Dadurch, dass der Lebenszyklus heute im Durchschnitt rund achtzig Jahre dauert, können wir auch so weit in die Zukunft schauen. Wenn wir etwa wissen, wie viele 20-Jährige heute Matura haben, so wissen wir im Wesentlichen wie viele 80-Jährige mit Matura es in 60 Jahren geben wird. Es gibt keine einzige andere Sozialwissenschaft, die mit so hoher Gewissheit sagen kann, wie sich die soziale Struktur in sechzig Jahren verändern wird. Da ist die Demographie in einer einzigartigen Stellung und hat viel zu bieten.

Sie sagen, Bildung ist die wichtigste demographische Dimension für die Entwicklung einer Gesellschaft. Welche historischen Beispiele gibt es dafür?

Lutz: Jene Länder in Europa, die früh in Bildung investiert haben, sind in der Folge reich und in vieler Hinsicht erfolgreicher geworden. Sie waren nicht wegen ihres Reichtums gebildet, sondern andersrum. Zwei Extrembeispiele: Portugal war mit seinen Kolonien in Südamerika und Afrika eines der reichsten Länder Europas. All das Gold und Silber, das sie aus der Welt gescheffelt haben, ist aber nur einer dünnen Elite zu Gute gekommen. Als Anfang des 20. Jahrhundert die Kolonien verloren waren, waren die Menschen in Portugal überwiegend Analphabeten. Gleichzeitig am anderen Ende Europas: Finnland war im 19. Jahrhundert eine der ärmsten Ecken Europas. Bei einer massiven Hungersnot im Jahr 1867/68 verstarb rund ein Drittel aller Kinder. Danach wurde massiv in Bildung investiert. Um 1900 waren bereits alle jungen Männer und Frauen alphabetisiert. Dadurch nahmen auch die Sterbe- und Geburtenraten ab. Heute steht Finnland, obwohl es weder über Kolonien noch Bodenschätze verfügte und obendrein von Schweden und Russland wirtschaftlich ausgebeutet worden war, auf den Innovationsindizes Europas an erster Stelle – und hat Portugal bei weitem überholt. Es ist also nicht der alte Reichtum, sondern es ist die Investition in die Köpfe der Menschen, in die Bildung, die auch in Europa einen Unterschied macht.

Wie lange dauert so ein demographischer Wandel?

Lutz: Diese Entwicklung passiert nicht von heute auf morgen. Durch den Generationenwechsel dauert es rund 60 bis 70 Jahre bis die Gesellschaft aus absoluter Armut zu einer Industrienation wird. Gute Beispiele dafür sind Singapur oder auch Südkorea: Das sind die beiden Länder der Welt, wo die Bildungsexpansion am schnellsten gegangen ist. In den 1960er-Jahren waren sie noch bettelarme Entwicklungsländer, in denen mehr als die Hälfte der Frauen nie in der Schule waren. Heute sind die jungen Menschen in Singapur die Bestgebildeten der Welt. Bereits 70 Prozent der Bevölkerung verfügen dort über einen Universitätsabschluss. Und man kann genau verfolgen, wie die besser gebildeten Kohorten (Geburtsjahrgänge) in der Alterspyramide nach oben rücken, was direkt zu Wirtschaftswachstum und anderen Verbesserungen des Lebens führt. Was für alle Länder gilt: die Entwicklung des Humankapitals, wie man ökonomisch sagt, treibt sowohl die wirtschaftliche als auch die soziale Entwicklung voran. Dass wir in Demokratien leben, in denen unsere Institutionen und unser Gesundheitssystem funktionieren, ist direkt eine Folge der besseren Bildung der Bevölkerung.

Nachhaltige Entwicklung im Fokus

In Ihrem Buch widmen Sie sich auch der nachhaltigen Entwicklung. Welche alternativen demographischen Szenarien werden in diesem Kontext diskutiert?

Lutz: Die Frage ist, wie schnell die demographische Transition zu niedrigen Geburtenraten in anderen Ländern der Welt abgeschlossen sein wird. Hier existieren zwei Schlüsselvariablen: Das eine ist es, Frauen zu ermöglichen, selbstständig zu entscheiden, wie viele Kinder sie wollen und dies auch durchzusetzen – und das ist sehr stark eine Folge der Bildung. Natürlich muss es zweitens auch öffentliche Unterstützung für Familienplanung, Zugang zur Pille und anderen Kontrazeptiva geben. Werden weniger Kinder auf die Welt gebracht, ist es auch leichter, den Kindern, die auf die Welt kommen, eine bessere Bildung zu bieten. Und besser ausgebildete Mädchen sorgen als erwachsene Frauen für eine niedrigere Geburtenrate, bessere Gesundheit und wieder bessere Bildung ihrer Kinder. Aus einem vicious circle wird ein virtuous circle, also vom Teufelskreis ein positiver, sich verstärkender Prozess.

Die vulnerabelsten Menschen, also diejenigen, die dem Klimawandel schutzlos ausgeliefert sind, sind die Ärmsten.

Und mit Blick auf den Klimawandel?

Lutz: Die vulnerabelsten Menschen, also diejenigen, die dem Klimawandel schutzlos ausgeliefert sind, sind die Ärmsten. Sie leben von Subsistenzwirtschaft, sind vom Regen abhängig und hungern, wenn dieser nicht kommt. Besser Gebildete hingegen haben mehr Zugang zu Informationen, sind schon technisiert und können mit Blick auf den bereits unvermeidbaren Klimawandel besser planen. Diejenigen afrikanischen Staaten, die sich an der Entwicklung Koreas oder Singapurs orientieren, investieren massiv in Bildung und werden besser zurechtzukommen mit diesen Herausforderungen.

Welches Buch können Sie weiterempfehlen?

Lutz: „Sie nannten sich Der Wiener Kreis“ von Karl Sigmund.

Warum dieses Buch?

Lutz: Es beschäftigt sich mit einem ganz wichtigen Kapitel der Wissenschaftsgeschichte. Es ist sehr spannend und auch mit Humor geschrieben.

 

AUF EINEN BLICK

Wolfgang Lutz leitet das Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), das Institut für Demografie der Universität Wien und das World Population Program am IIASA. Im Jahr 2010 erhielt er den Wittgenstein-Preis des FWF. Er ist u.a. Mitglied der ÖAW, der deutschen Leopoldina und der U.S. National Academy of Sciences.

Sein aktuelles Buch „Advanced Introduction to Demography“ ist 2021 im Edward Elgar Verlag erschienen.