19.07.2019 | CSI: Wien

Was Knochen uns zu sagen haben

Sterbliche Überreste wie Knochen und Zähne können uns viel über den Menschen erzählen, zu dessen Körper sie einst gehört haben. Das weiß man spätestens seit Forensik in Literatur, Film und Fernsehen boomt. Doch mit welchen Methoden arbeitet die forensische Anthropologie wirklich? Darauf hat ÖAW-Forscher Lukas Waltenberger Antworten.

© ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Selbst wenn nach dem Tod eines Menschen nur noch Skelettteile vorhanden sind, können diese unter Umständen vieles nicht nur über die Identität des Toten, sondern auch über sein Leben verraten. Knochen geben ihre Geheimnisse aber nicht so einfach preis. Lukas Waltenberger spricht gerne von „whispering bones“ – flüsternden Knochen. Denn um die Informationen, die man von ihnen erhält, verstehen und interpretieren zu können, braucht es jede Menge Fachwissen und viel Erfahrung. Der forensische Anthropologe am Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) unterstützt seit 2016 das Committee of Missing Persons (CMP) Zypern und hilft bei der Identifikation von Kriegsopfern des Zypernkonflikts der 1970er-Jahre.

Herr Waltenberger, was ist ein forensischer Anthropologe und wie kann man sich dessen Tätigkeiten vorstellen?

Lukas Waltenberger: Forensische Anthropolog/innen beschäftigen sich mit menschlichen Überresten, speziell mit Knochen. Im Zentrum der Arbeit steht meist die Identifikation von Verstorbenen. Im Gegensatz zu Archäolog/innen und Bioanthropolog/innen arbeitet der forensische Anthropologe mit Überresten, die juristisch von Bedeutung sind. Das sind in Österreich Überreste von Menschen, die in den letzten 80 bis 90 Jahren verstorben sind – Mord verjährt nicht, aber nach Ablauf dieser Frist ist davon auszugehen, dass ein Mörder nicht mehr am Leben ist – und aufgrund des Erhaltungszustandes der Leiche nicht mehr ohne Weiteres von Gerichtsmediziner/innen identifiziert werden können. Forensische Anthropolog/innen können aufgrund verschiedener Merkmale Einschätzungen zu Geschlecht, Alter, Körperhöhe und gegebenenfalls Liegezeit des Toten treffen und im weiteren Verlauf eine Identifikation vornehmen.

 

Ich stelle Geschlecht und Körperhöhe des Toten fest sowie das Alter zum Zeitpunkt des Todes, verheilte Verletzungen und Krankheiten, die Hinweise auf die Identität einer Person liefern und die ungefähre Dauer, die seit Eintritt des Todes vergangen ist.

Wie gehen Sie bei der Untersuchung von menschlichen Überresten vor?

Waltenberger: Ich beginne mit der Bestimmung verschiedener Faktoren, die für eine Identifikation nötig sind. Das bedeutet, ich stelle Geschlecht und Körperhöhe des Toten fest sowie das Alter zum Zeitpunkt des Todes, verheilte Verletzungen und Krankheiten, die Hinweise auf die Identität einer Person liefern und die ungefähre Dauer, die seit Eintritt des Todes vergangen ist.

Wie lassen sich Geschlecht und Körperhöhe an einem Skelett bestimmen?

Waltenberger: Hier gibt es mehrere Möglichkeiten. Zur Bestimmung des Geschlechts eignet sich aber das Becken eines Verstorbenen besonders gut. Form und Breite des Beckens geben Auskunft darüber, ob jemand weiblich oder männlich war. Frauen haben zum Beispiel längere und scharfkantigere Schambeine und ein gerades Kreuzbein, die einen deutlich breiteren Beckenkanal bilden. Auch der Schädel ist ein guter Ansatzpunkt zur Geschlechtsbestimmung. Ein weiblicher Schädel hat zum Beispiel eine eher fliehende Stirn, während nur ein männlicher Schädel eine ausgeprägte Wulst über den Augen aufweist. Die Körperhöhe kann man an jedem Langknochen, wie zum Beispiel dem Oberschenkelknochen, messen. Sie steht in direkter Proportion zu den Abmessungen des Knochens.

Wie steht es um die Bestimmung des Alters der verstorbenen Person zum Todeszeitpunkt? Kann dieses immer eindeutig bestimmt werden?

Waltenberger: Nein. Die Altersbestimmung ist in der Regel eine Schätzung aufgrund vieler verschiedener Hinweise am Skelett. Wie exakt diese Schätzung getroffen werden kann, hängt stark vom Alter der Person ab. Von den ersten Lebensjahren bis zum frühen Erwachsenenalter kann eine sehr genaue Altersbestimmung erreicht werden. In diesem Zeitraum ist der menschliche Körper im Wachstum begriffen. Das bedeutet für Anthropolog/innen, dass sie sich die Wachstumsfugen an den Knochen anschauen können. An dieser Stelle zwischen Knochenende und Schaft kann der Knochen im jugendlichen Alter wachsen – mit zunehmendem Alter verknöchert dieser Bereich immer mehr und ist schlussendlich nicht mehr zu sehen. Bei erwachsenen Personen geben Gelenksabnützungen Auskunft über das ungefähre Alter. Eine genauere und zuverlässigere Methode zur Altersbestimmung ist die Analyse des Zahnzements. Unter dem Mikroskop zeigen sich im Zahnzement Ringe, die den Jahresringen von Bäumen ähneln. So kann man das Alter einer Person auf +/- 5 Jahre genau festlegen.

Wie schnell sich ein Körper zersetzt, hängt sehr stark von unterschiedlichen Umweltfaktoren ab. Es kann durchaus vorkommen, dass Jahrzehnte nach dem Tod noch Gewebe am Skelett gefunden wird.

Als forensischer Anthropologe treffen Sie auch Einschätzungen zur Liegezeit eines Toten, also darüber wie viel Zeit zwischen dem Tod und der Auffindung der Überreste vergangen ist. Ist eine Liegezeitbestimmung immer möglich?

Waltenberger: Nicht immer ist es möglich, die Dauer zwischen dem Tod und dem Auffinden von Überresten scharf zu begrenzen. Wie schnell sich ein Körper zersetzt, hängt sehr stark von unterschiedlichen Umweltfaktoren ab. Es kann durchaus vorkommen, dass Jahrzehnte nach dem Tod noch Gewebe am Skelett gefunden wird. Genauso ist es möglich, dass Knochen nach nur wenigen Monaten unter bestimmten Bedingungen den Anschein erwecken können, hunderte von Jahren alt zu sein.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie die Liegezeit von Überresten bestimmen?

Waltenberger: Für mich als forensischen Anthropologen ist primär interessant, ob Knochen älter oder jünger als etwa 80 Jahre sind. Dazu schaue ich mir taphonomische Veränderungen am Knochen an.  Das Gewicht eines Knochens ist zum Beispiel aussagekräftig. Ein Knochen, der noch frisch ist, ist in der Regel schwerer als ein alter, ausgetrockneter Knochen. Weitere Hinweise liefern Rückstände von Weichteilresten außen oder in der Markhöhle von Knochen, die makroskopisch oder später mikroskopisch nachweisbar sind sowie Verwitterungserscheinungen. Eine ebenfalls wesentliche Frage ist: Riecht der Knochen noch? Das überspannt in der Regel einen Zeitraum von bis zu 50 bis 80 Jahre nach dem Tod. Außerdem kann man mittels Radioisotopen wie C14 das Liegealter eines Knochens sehr gut messen.

Bei meiner Tätigkeit zur Identifizierung von Kriegsopfern habe ich regelmäßig die Aufgabe, Angehörigen die sterblichen Überreste geliebter Familienmitglieder zu übergeben und zu erklären, wie deren Identifikation stattgefunden hat. An dieser Aufgabe habe ich manche Kollegen regelrecht verzweifeln sehen.

Herr Waltenberger, gibt es auch Dinge, die Knochen Ihnen nicht mitteilen können?

Waltenberger: Die gibt es. Das sind in erster Linie all die Dinge, die die Knochen nicht direkt betreffen. So kann ich zum Beispiel die Todesursache nicht feststellen, wenn sie keine Spuren am Skelett hinterlassen hat. Ein tödlicher Bauchstich zum Beispiel hinterlässt in der Regel keinerlei Spuren an den Knochen. Ebenso wenig kann ich Krankheiten, die kurz vor dem Tod entstanden sind und eventuell todesursächlich waren, feststellen, da sie in dieser kurzen Zeitspanne keine Veränderungen im Knochenmaterial hervorgerufen haben. Bei chronischen Krankheiten über Jahre oder Jahrzehnte hinweg sieht das anders aus.

Sie unterstützen seit 2016 im Rahmen eines Projektes die Identifikation von vermissten Personen aus dem Zypernkonflikt der 1970er-Jahre. Vor welche besonderen Herausforderungen stellt Sie diese Tätigkeit?

Waltenberger: Die Arbeit mit Überresten von Kriegstoten ist an sich schon eine emotional belastende Situation. Eine ganz große Herausforderung ist auf jeden Fall der Umgang mit den Angehörigen der verstorbenen Personen. Im Rahmen meiner Tätigkeit habe ich regelmäßig die Aufgabe, Angehörigen die sterblichen Überreste geliebter Familienmitglieder zu übergeben und zu erklären, wie deren Identifikation stattgefunden hat. An dieser Aufgabe habe ich manche Kollegen regelrecht verzweifeln sehen. Es ist nicht immer einfach, professionell zu bleiben. Was bleibt, ist aber das Gefühl, den Angehörigen der Toten einen Dienst erwiesen zu haben. Die Dankbarkeit der Menschen, Klarheit über das Schicksal ihrer Angehörigen zu haben, ist spürbar.  

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AUF EINEN BLICK

Lukas Waltenberger ist forensischer Anthropologe am Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der ÖAW. Er studierte Biologie mit Schwerpunkt Anthropologie an der Universität Wien, 2014 machte er seinen Master in Forensischer Osteologie an der britischen Bournemouth University. Er erhielt ein ATHEN-Stipendium der ÖAW und promoviert derzeit zum Thema „Beckenmorphologie der Frau und die physischen Effekte der Geburt auf das Skelett“.

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