15.12.2020 | Kulturerbe

Verschwundene Inschriften werden im Web wieder sichtbar

Nicht alles, was in Stein gemeißelt ist, hält ewig. Viele historische Inschriften sind über die Zeit verloren gegangen oder zerstört worden. Erhalten haben sich aber manchmal Papierabdrücke. Um diese der Forschungsgemeinschaft weltweit zugänglich zu machen, hat Moises Hernandez-Cordero, Geoinformatiker an der ÖAW, eine neue Methode entwickelt, mit der sich solche sogenannten Abklatsche originalgetreu digitalisieren lassen. Bei der an der Akademie verwahrten Sammlung altsüdarabischer Abklatsche kommt das Verfahren jetzt zur Anwendung.

Abklatsche sind Papierabdrücke von historischen Inschriften. Allein an der ÖAW werden rund 3.000 altsüdarabische Abklatsche verwahrt. Durch die Digitalisierung werden die Originale geschont und für die Forschung weltweit zugänglich. © ÖAW/belle&sass

„Die Forschenden sollen mit den digitalen Reproduktionen genauso arbeiten können als hätten sie den tatsächlichen Abklatsch vor sich“, beschreibt Moises Hernandez-Cordero, Spezialist für 3-D Scans und Photogrammetrie am Institut für Kulturgeschichte der Antike der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), das Ziel seiner Arbeit. Ein Abklatsch ist im Wesentlichen der Abdruck einer Inschrift auf Papier, der im Gegensatz zur Fotografie die in den Stein gemeißelten Buchstaben und Schriftzeichen dreidimensional wiedergibt. Solche Abklatsche bilden eine wesentliche Basis der Inschriftenkunde (Epigraphik).

Dass sich der gebürtige Spanier Hernandez-Cordero ausgerechnet in Wien mit Abklatschen beschäftigt, ist kein Zufall. Eduard Glaser (1855-1908), ein studierter Astronom und Experte für altsüdarabische Sprachen, brachte von seinen vier Forschungsexpeditionen ganz genau 1.811 Inschriftentexte aus dem Jemen mit zurück nach Wien. 1910 erwarb die damals noch Kaiserliche Akademie der Wissenschaften die gesamte Sammlung, deren Bestand letztlich knapp 3.000 Abklatschblätter umfasste.

In Stein gemeißelt: Götteranrufungen und Feldzüge

Die Inschriften stammen aus der Zeit vom frühen 7. Jh. v. Chr. bis zum 6. Jh. n. Chr. Sie sind in heute nahezu unbekannten altsemitischen Sprachen wie Sabäisch, Qatabanisch, Hadramitisch, Minäisch und in einigen wenigen Fällen auch in Hebräisch verfasst. Die Texte mit einer Länge zwischen einer und 136 Zeilen behandeln Götteranrufungen neben Bauinschriften oder Berichten über Bewässerungsprojekte sowie militärische Kampagnen. Das macht sie zu einem kulturhistorisch unschätzbar wertvollem Erbe und zu einer bedeutenden Originalquelle für die epigraphische Forschungsarbeit weltweit.

Nicht zuletzt, weil etliche der originalen Inschriftensteine heute verloren sind, sei es kriegs- oder erosionsbedingt. In diesen Fällen stellen die Abklatsche im Archiv der ÖAW den letzten Beleg ihrer ehemaligen Existenz dar. Der Zahn der Zeit hat allerdings nicht nur an den in Stein gemeißelten Inschriften genagt, sondern auch an ihren Kopien auf Papier. Lange zurückliegende Wasserschäden haben sie ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie Klebestreifen, die vor Jahrzehnten über altersbedingte Risse im Papier geklebt wurden und inzwischen selbst porös werden. Hernandez-Cordero sagt daher: „Eines der Ziele unseres Projekts ist es, die Originale zu schützen.“ Am besten gelingt dies freilich, wenn die empfindlichen Papiere unter bestmöglichen Bedingungen unberührt im Archiv verwahrt werden. Damit die Forschung nicht mit den Originalen arbeiten muss, braucht es originalgetreue und hochauflösende digitale Reproduktionen.

Drei Kameras, ein Fotozelt, höchste Präzision

Und genau an dieser Stelle kommt Moises Hernandez-Cordero ins Spiel. Die Digitalisierung des umfangreichen Materials der Sammlung Glaser wurde 2015 erstmals in Angriff genommen. Die zunächst verwendete Scanmethode und Auflösung erwiesen sich für größere Formate allerdings als unzureichend. Um eine Lösung zu finden, wurde Hernandez-Cordero an Bord geholt. Das Ziel war es, den Buchstabenerhebungen in den Abklatschen, die heute durch ehemals falsche Lagerung komplett flachgedrückt sind, größenunabhängig in gleicher Qualität wieder mehr Struktur zu verleihen.

„Ich habe unterschiedliche Scanmethoden getestet, um herauszufinden, welche für die Anforderungen dieses Projekts am besten geeignet ist“, erzählt Hernandez-Cordero. Er landete schließlich bei einer Photogrammetrie-Technik, die durch drei Kameras nicht nur schnell ist, sondern auch die originale Papierfarbe erfasst und eine 3D-Oberfläche des Originals mit einer Abweichung von 1 bis 0,5 Millimeter mit entsprechender Software erzeugt. Bei stets konstanten Lichtverhältnissen wird in einem eigens dafür konstruierten Fotozelt gescannt. Eine kontrollierte Beleuchtung ist essentiell, um ein „Oberflächen-Rauschen“ zu vermeiden. Die Zeitspanne vom Scannen bis zur fertigen Bearbeitung dauert nun bei Formaten von A6 bis A0 nur zwischen zwei und zwölf Minuten. Die hohe Geschwindigkeit, die Präzision, die Möglichkeit des beidseitigen Scannens und die Farbechtheit machen die Methode zur derzeit ansprechendsten.

Dabei hat sich Photogrammetrie nicht unbedingt als das richtige Verfahren aufgedrängt. Normalerweise wird sie zur dreidimensionalen Darstellung von Landschaften oder großen Objekten verwendet. Doch Hernandez-Cordero ist es gelungen, dieses Verfahren speziell für die Digitalisierung der Abklatsche zu modifizieren. Aktuell entwickelt er auch noch eine spezielle Software, mit der innerhalb der vielfach nur millimeterhohen Strukturen eine Unterscheidung zwischen Buchstaben und „Oberflächenunebenheiten“ möglich werden soll. Bis spätestens Februar 2021 möchte er, sofern ihn keine neuerlichen coronabedingten Lockdowns aufhalten, seine Arbeit am Projekt beenden.

Abklatsche in 3D drehen, vergrößern, beleuchten

Bis dahin bleibt noch einiges zu tun: 2.200 Stück gilt es noch insgesamt zu digitalisieren. Das entspricht 4.400 Scans, da beide Seiten der Abklatsche erfasst werden. Die Qualität der bisher digitalisierten Objekte ist jedenfalls bestechend. „Ich wollte die Ablatsche so nah wie möglich am Original darstellen“, betont Hernandez-Cordero. Betrachter/innen können mit einem 3D-Viewer (Freeware) die digitalen Abklatsche drehen, vergrößern, verkleinern oder unterschiedliche Beleuchtungsverhältnisse simulieren. Auf der Website des Projekts  – die work-in-progress ist – können Forschende auch bereits auf eine Datenbank mit Bilddateien, teilweise mit Übersetzungen sowie Informationen zur jeweiligen Inschrift zugreifen.

Das von Hernandez-Cordero entwickelte Verfahren ist übrigens nicht allein für die Arbeit an der Sammlung Glaser von Bedeutung. Das Interesse der internationalen Forschungsgemeinschaft an dieser Methode und den damit verbundenen Möglichkeiten ist groß. Denn dank derartiger Scans sind Epigraphiker/innen nicht länger auf die originalen Abklatsche angewiesen. Das schützt die fragilen Originale und macht die wertvollen historischen Quellen zugleich für Wissenschaftler/innen aus aller Welt zugänglich.

 

AUF EINEN BLICK

Moises Hernandez-Cordero studierte Geschichte an der Universidad Autónoma de Madrid und Geoinformation Science am University College London. Er forschte u.a. am British Museum und am Museum of London Archaeology. Seit 2015 ist er am Institut für Kulturgeschichte der Antike der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) tätig.

Website „The Glaser Collection“